nach der Piazza Umbertina benannt hatte. Mit aufgerissenen Augen riefen sie
in die Kamera: »Der Esquilin ist die Zukunft!«
Ilaria sieht die Dinge ein bisschen anders. Ihr Wohnviertel, in dem sie seit
Jahrzehnten die Milch in der Bar unter ihrer Wohnung kaufte, wie eine
Bekloppte einen Parkplatz suchte, ein paar Worte mit den Nachbarn
wechselte, auf dem Bürgersteig den Hundekacke-Slalom vollführte, dieses
Viertel konnte nichts dabei gewinnen, in die dünne Sphäre des Symbolhaften
katapultiert zu werden. Die Kinder, die sie täglich unterrichtete, teilten sich
seit der Grundschule die Schulbank mit Chinesen, Marokkanern, Philippinen
und Italienern, doch sie hätte nie bemerkt, ein »Versuchslabor des
Zusammenlebens« zu sein. Was sie aber bemerkte, war das Regenwasser, das
seit letztem Herbst durch ein Loch in der Decke der Turnhalle tropfte, und
dass das Geld für die Reparatur, das von Kommune, Schulamt und
Ministerium zugesichert worden war, nicht floss, das schon. Solche Reden
waren ihr genauso suspekt wie die scheinbar gegensätzlichen Reden, die sie
mittlerweile für komplementär hielt und in denen die Ortsbezeichnung
Esquilin stets mit den Begriffen »Verfall« oder »Überfremdung« kombiniert
wurde. Sie hatte den Eindruck, beide dienten bloß der Untermauerung
vorgefertigter Weltbilder und weniger dem konkreten Leben der Bewohner.
Propaganda.
Ilaria wollte gerade in dem Schacht der Metropolitana verschwinden, als
ein junger Mann in Hemd, weiten Hosen und Schlapphut wie zu Zeiten des
Roms der Päpste ihr einen Zettel in die Hand drückte. Hinter dem Slogan
»Wir geben Rom den Römern zurück!« standen verschiedene Logos der
extremen Rechten.
Rund ein Dutzend Personen, fast alle verkleidet, verteilten die Flyer. Ein
Mann, passenderweise mit deformiertem Boxergesicht, im
Gladiatorenkostüm; eine kleine Matrone in weißer Tunika mit goldenen
Staniolkrönchen auf den Locken wie in den Reliefs der Ara Pacis; eine junge
Magd im volkstümlichen Rock des neunzehnten Jahrhunderts, deren große
Brüste aus der bauschigen Bluse hervorquollen.
Überwacht wurde die Flyerverteilung von einem Mann um die vierzig,
den Ilaria an seinen schlichten, scharf geschnittenen Gesichtszügen erkannte.
Er war der Chef der fundamentalistischen Christen, die vor Jahren, als im
Parlament um die künstliche Befruchtung gestritten wurde, das Viertel mit
den Fotos blutiger Föten tapeziert hatten.
jeff_l
(Jeff_L)
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