»Heute ist der Geburtstag unseres Heiligen Vaters«, sagte der Mann an
eine kleine Zuhörerschaft aus jungen Glatzen und alten Männern gewandt.
»Aber in Rom, der Hauptstadt der Christenheit, Reich des Heiligen Stuhls,
wird ein indischer Guru gefeiert. Ausgerechnet hier, auf der Piazza Vittorio,
mitten im Herzen des christlichen Dreiecks! Schande!«
Ilaria steuerte um die Gruppe herum und lief direkt in Lina hinein.
Die alte Nachbarin steckte in einem Mantel, der die Farbe eines nassen
Hundes hatte und den sie von September bis Juni trug. Neben ihr zwei
Altersgenossinnen, genau wie sie näher an den siebzig als an den sechzig.
Ihre sechs Füße klapperten einstimmig über das glatte Pflaster der Arkaden,
mit den kraftvollen Schritten von Menschen, die ein klares Ziel vor Augen
haben. An die Brust gedrückt hielten sie Stift und Notizblock.
Ilaria hatte Lina und ihre Freundinnen schon häufiger an Feiertagen
nachmittags oder wie heute nach der Sonntagsmesse durch das Viertel gehen
sehen. Sie waren allesamt Witwen von Polizeibeamten und hatten sich seit
einigen Jahren gefunden, um auf den beruflichen Spuren ihrer lieben
Verstorbenen den Esquilin zu überwachen. Auf irgendeine Art hatten sie die
Faxnummer der Privatsekretärin des Bürgermeisters von Rom
herausgefunden und schickten ihr Listen kleiner und großer Klagen, die sie
per Hand zusammenschrieben: Löcher im Asphalt, Abfallberge neben den
Mülltonnen, mit Laub verstopfte Abflussgitter. Sie hatten noch nie eine
Antwort bekommen. Als Lina ihr das erzählte, hatte Ilaria vor ihrem inneren
Auge Berge von Thermopapier gesehen, die in der Ecke eines
menschenleeren Verwaltungsbüros zu Boden glitten. Doch das offizielle
Schweigen hatte sie nie entmutigen können. Im Gegenteil: Wenn in einem
bestimmten Zeitrahmen nach ihrem Hinweis tatsächlich ein städtischer
Kleinlaster kam und die kaputte Birne einer Straßenlaterne austauschte oder
ein Gully gesäubert wurde, werteten die drei Freundinnen dies völlig uneitel,
aber auch ohne falsche Bescheidenheit, wenigstens teilweise als ihren Erfolg.
Beim Anblick der alten Damen, die bei ihren Kontrollgängen die Neugierde
von Forscherinnen mit der Vertrautheit des eigenen Schlafzimmers
kombinierten, bekam Ilaria immer gute Laune.
Lina zeigte mit dem Kinn auf die angeblichen Statisten der römischen
Vergangenheit. »Ach, Ilaria, denen ist der Esquilin doch genauso egal wie
mir der Nordpol. Oder noch egaler, denn ich mag wenigstens Pinguine.«
Lächelnd betrat Ilaria die U-Bahn.
jeff_l
(Jeff_L)
#1