Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Anita war eine exzellente Köchin, verstand aber überhaupt nichts von Wein.
Als sie die Tür öffnete, drückte Ilaria ihr eine Flasche in die Hand.
»Danke, meine Liebe. Du bist die Erste, deine Brüder sind noch nicht
da.«
»Wo ist Papà?«, fragte Ilaria mit Blick auf den leeren Sessel.
»Wieder mal abgehauen.« Die Frau ihres Vaters klang ganz gelassen.
»Diesmal hat er die Autoschlüssel mitgenommen.«
»Was? Aber er kann doch nicht fahren. Er ist ein öffentliches
Verkehrsrisiko!«
»Ja, das stimmt, in der Stadt lasse ich ihn auch nicht fahren. Nur auf der
Autobahn.«
Ilaria kniff die Augen zusammen und wartete schweigend auf die
Erklärung, dass dies ein Witz war. Doch Anita sagte nichts.
»Das verstehe ich nicht ...«, stieß Ilaria hervor, »du hältst also einen
Neunzigjährigen, der mit hundert Stundenkilometern zwischen den Lkw
rumkurvt, für eine gute Idee?«
»Warum nicht? Er muss nur den fünften Gang einlegen, dann fährt er
ganz ruhig.«
»Äh, ... ihr seid komplett verrückt! Und du bist noch verrückter als er,
weil du nicht die Ausrede des hohen Alters hast.«
»Oh, wie melodramatisch! Dein Vater ist doch keine hundertzwanzig.«
»Nein, genau, sondern erst dreiundneunzig. Ein junger Hüpfer.«
Wie immer, wenn sie überführt wurde, lenkte Anita ein. »Ich weiß, ich
weiß. Aber was soll ich machen, für mich bleibt er nun mal immer so jung
wie damals, als ich ihn kennenlernte ...«
›Als du ihn kennenlerntest, war er schon lange kein junger Hüpfer mehr‹,
dachte Ilaria. Er war fünfzig, hatte eine Frau, drei Kinder und einen Kredit für
eine herrschaftliche Wohnung abzubezahlen, der seine Möglichkeiten
überstieg.
Doch die ohnehin mühselige Aufgabe, jemandem reale Fakten
darzulegen, die er nicht hören will, war bei Anita hoffnungslos. Ihr fügsames
Lächeln verwandelte sich sofort in den Vorwurf der überreifen Frucht, der
jede Diskussion beendete. Ilaria ließ ab und seufzte halb genervt, halb
besorgt.
»Also gut, was machen wir? Soll ich ihn suchen gehen?«

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