Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

»Am Ende glaubte mein Vater immer selbst an die Gute-Nacht-Geschichten,
die er mir abends vor dem Einschlafen erzählte, das machte sie so schön.«
Ilaria nimmt die Hände von der Tastatur und weiß nicht weiter.
Sie seufzt. Aus den unteren Stockwerken steigen Essensdünste auf. Die
Küche Bangladeschs. Sie ist leicht von der chinesischen zu unterscheiden,
zwei völlig verschiedene Dinge. Mittlerweile wohnt Ilaria nur noch an den
Tagen, an denen sie Schule hat, auf dem Esquilin. Am Wochenende fährt sie
zu Piero aufs Land. Er hat alle politischen Ämter niedergelegt, einen Tag
bevor das Parlament über den Fall der minderjährigen Prostituierten
abstimmte. Die Abgeordneten sollten entscheiden, ob sie glaubten, ja oder
nein, dass der Ministerpräsident in gutem Glauben gehandelt habe, als er
behauptete, das Mädchen sei eine Nichte des ägyptischen Premiers Mubarak.
Pieros frühere Parteigenossen stimmten allesamt mit ja, und Silvio
Berlusconi behielt die parlamentarische Immunität.
›Mehr Luft‹, denkt Ilaria. ›Meine Worte brauchen mehr Luft.‹
Wenn ein Elternteil stirbt, rückt man auf in die erste Reihe. Nun steht nur
noch Marella zwischen Ilaria und der vordersten Linie. Macht ihr die
Auflösung der Familie Angst? Nicht wirklich. Allerdings würde sie gern in
hundert Jahren noch einmal in die Welt treten und schauen, wie die ganze
Geschichte weitergegangen ist. Ihr fällt Avvocato Valente ein, der in seinem
rhetorischen Furor Sätze geäußert hat, die ihr selbst zwei Jahre danach noch
in Erinnerung sind.
»Wir befinden uns mitten im Todeskampf eines Zeitalters, das vor
fünfhundert Jahren begonnen hat und dessen Ende wir noch nicht absehen
können«, hatte er gesagt. »Aber ich bleibe optimistisch, zumindest auf lange
Sicht. Bis dahin werden wir noch einige Dinge ausfechten müssen. Auch
Blutbäder schließe ich nicht aus. Daran werden auch wir Schuld haben, doch
nicht allein. Wir Menschen neigen dazu, alles an uns zu überschätzen, selbst
unsere Dummheit.«
Ilaria war damals genervt gewesen von seinem großtuerischen Orakeln.
Doch nun, zwei Jahre später, ist sie nicht mehr so sicher, ob nicht auch viel
Wahres in seinen Worten lag. Die Geschichte scheint immer schneller zu
laufen. Berlusconi ist nicht nur als Regierungschef abgesetzt, er spielt auch
sonst keine Rolle mehr; Gaddafi ist auf grausige Art ums Leben gekommen;
den vor Lampedusa geretteten Schiffbrüchigen wird Vorspiegelung falscher
Tatsachen vorgeworfen, weil sie Handys dabei haben, vor allem aber will ihr

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