Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Strom einfach nicht abreißen. Die Menschen lassen sich in ihrer
Bewegungsfreiheit nicht mehr stärker einschränken als die Waren, die fast
ohne jede Grenze über den gesamten Planeten reisen. Gewiss ist dies der
Anfang von etwas komplett Neuem, nur von was? Das weiß niemand.
Ilarias Blick fällt auf die Zeitung auf ihrem Schreibtisch. Seit Jahren kauft
sie keine Tageszeitung mehr, Nachrichten liest sie nur noch im Internet. Doch
heute Morgen beim Anblick der Schlagzeile auf der Titelseite ist sie
ungläubig am Zeitungsstand stehen geblieben und hatte das Bedürfnis, die
Nachricht schwarz auf weiß in den Händen zu halten. Sie wollte sicher gehen,
diese absurde Meldung nicht geträumt zu haben.
EINWEIHUNG DER GEDENKSTÄTTE FÜR RODOLFO GRAZIANI
IN AFFILE.
Etwas kleiner darunter: »Das Mausoleum wurde mit Geldern der Region
Latium finanziert. Proteste aller größeren antifaschistischen Gruppierungen.«
Krankenhäuser schließen, Behinderte bekommen keine Rente, die Straßen
haben mehr Krater und Risse als der Mond, und Zehntausende Euro werden
bereitgestellt, um den Schlächter von Addis Abeba zu ehren, den Vernichter
der Kyrenaika, den Henker von Salò. Ilaria findet vor Empörung keine
Worte.
Sie zwingt sich, die Zeitung wegzulegen und weiterzuschreiben.
Wenn ein fast Hundertjähriger stirbt, ist dies ein von allen Seiten
erwartetes Ereignis, so lange schon erwartet, dass man gar nicht weiß, was
man empfinden soll. Sie zumindest hat ihre natürliche Trauer als Tochter
bereits in den letzten Jahren durchlebt, in denen Attilio Profeti nur noch
äußerlich anwesend war. Ihre Trauer, nun Waise zu sein, und das sehr lange
Leben ihres Vaters verlöschten zusammen; zwei Zwillingskerzen, die
gemeinsam bis zum Boden herabgebrannt sind.
Ilaria muss unwillkürlich lächeln bei der Vorstellung, wie Attilio Profeti
bei seiner eigenen kirchlichen Trauerfeier ausruft: »Ich warne euch! Die
Kirche toleriert nicht einen Hauch von Freiheit!« Doch Beerdigungen sind
nicht für die Toten da, sondern für die Lebenden – und die vielen Jahre des
Pflegens, des Windelnwechselns und der Demenz geben Anita das Recht zu
entscheiden, auf welche Art ihr Mann unter die Erde kommt.
Ilaria schreibt weiter.
»Danke, dass ihr gekommen seid, um meinem Vater das letzte Geleit zu
geben. Er würde sich freuen, zu sehen, dass wir uns für ihn versammelt

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