Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

gerade bestätigt wurde, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Er erhob
sich mit auf den Tisch gestützten Armen und wankte zu seinem Sessel, in
dem er schon wenige Minuten später zu schnarchen begann.
Ilaria half Anita beim Tischabdecken und Spülen, während im Fernsehen
die Lokalnachrichten liefen. Mit einem Mikrofon vor dem kleinen
Fuchsgesicht verkündete der Bürgermeisterkandidat der Rechten, die
Sicherheit in Zeiten von Einwanderung und Kriminalität verteidigen zu
wollen. Die zwei Begriffe schienen wie durch ein naturgegebenes Band
miteinander verbunden, für das es keine Nachweise brauchte. Einwanderung,
Kriminalität: zwei untrennbare Seiten derselben Bedrohung für brave
Staatsbürger. Sein Wahlprogramm sah Bürgerwehren vor, die eine
feinmaschige Überwachung aller Straßen gewährleisteten. Ilaria fielen die
herrischen Schritte von Lina und ihren Freundinnen ein. Das Letzte, was der
Esquilin brauchte, waren Bürgerwehren, zumindest solange es die Damen
gab. Sie musste unwillkürlich lachen.
Anita hob den Kopf vom Abwasch. »Was gibt’s zu lachen?«
»Nichts. Ich musste gerade an Bekannte von mir denken.«
Nun folgte ein Interview des Kandidaten des Mitte-Links-Bündnisses.
Sein Vorschlag zur Beruhigung der Bürger war die Verteilung eines Anti-
Vergewaltigungsarmbandes: ein Gerät für das Handgelenk, das Alarm schlägt
und den Standort übermittelt und an Frauen aus den Randbezirken und
Vierteln mit hohem Ausländeranteil verteilt werden sollte.
Schlagartig verging Ilaria das Lachen. Wie auch immer die Wahlen
ausgingen, wenn es sonst keine Alternative gab, waren sie schon verloren.
Als sie ging, war ihr Vater gerade aufgewacht. Die Hilflosigkeit, die in
seinen flatternden Lidern lag, versetzten Ilaria einen Stich. Sie beugte sich
über den Sessel und küsste ihn auf die Wangen.
»Mein Schatz, brauchst du Geld?«, fragte Attilio Profeti sie. Mühsam
lehnte er sich zur Seite und durchforstete mit langsamer Konzentration seine
Hosentaschen. Schließlich zog er zwei Münzen hervor. Gutmütig lächelnd
ergriff er die Hand seiner Tochter und legte sie hinein.
»Hier, von deinem alten Vater.«
Anita kam gerade mit einem Wischlappen in der Hand ins Wohnzimmer
und warf Ilaria einen einvernehmlichen Blick zu, dann wandte sie sich mit
womöglich noch nachsichtigerem Tonfall als sonst an ihn: »Ilaria braucht
kein Geld. Komm, Liebling, nimm es zurück.«

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