Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Piazza Vittorio Flyer verteilt hatte. Im Nähergehen merkte sie, dass sie es
doch nicht war, sondern nur ihr Äußeres hatte: große Titten, großer Mund,
große Kuhaugen. Dieser Typ Frau war exakt die von Fernsehsendungen
vorgestanzte Monokultur der männlichen Begierde. Ein Besucher forderte
das Mädchen auf, sich mit lustvoll geöffneten Lippen dem Lenker zu nähern
und sich so fotografieren zu lassen. Sie tat es, auch wenn ihr Blick
Unsicherheit verriet: Sollte sie die Bitte als Kompliment oder Demütigung
auffassen?
›Ich bin echt eine Moralistin, Emilio hat Recht.‹ Doch auch das konnte
Ilarias Melancholie nicht vertreiben.
»Verfickter Verkehr ...«, stöhnte Emilio, als sie wieder im Auto saßen
und sich im dichten Rückstau der Sonntagsausflügler wiederfanden.
»Was wolltest du mir erzählen?«, fragte Ilaria.
Den Blick starr auf die Straße gerichtet, biss Emilio die Kiefer
aufeinander mit dem Selbstbewusstsein des Schauspielers, der daran gewöhnt
ist, dass sein Gesichtsausdruck in voller Bildschirmgröße festgehalten wird.
Wenn dies ein Film wäre, dachte Ilaria, würde die Regieanweisung lauten:
›Nachdenklich verdüstert sich das schöne Gesicht des Protagonisten.‹
»Bei Mediaset planen sie eine neue Serie«, begann Emilio nach einer
wohlgesetzten Pause. »Und suchen noch den Hauptdarsteller. Das wäre eine
Riesenchance für mich. Die Chance schlechthin. Weißt du, Ilaria«, seine
Stimme wurde tiefer, »ich spüre, dass dies der eine Moment in meinem
Leben ist, den ich zutiefst verdient habe: den Wechsel von der Soap zur
Family Fiction.«
Ilaria sah ihn an. ›Wie redest du? Wie verflixt, besser gesagt wie verfickt
noch mal redest du, mein ach so zerbrechlicher Bruder mit den
Gesichtszügen einer griechischen Gottheit, die das Schicksal dir geschenkt
hat?‹ Wie so oft konnte sie sich nicht entscheiden, ob diese maß- und hilflose
Egozentrik bei ihr Mitleid, Wut oder Zuneigung auslöste.
»Papà kann ich nicht bitten, dass er mir über Casati hilft«, fuhr Emilio
schon fort. »Du weißt, dass er von ihm verlassen wurde.«
»Verlassen?«, meinte Ilaria trocken. »Verlobt waren sie ja nun nicht.«
»Fuck, Ilaria, ich hasse deine Korinthenkackerei. Du weißt genau, was
ich meine.«
»Papà scheint mir insgesamt nicht mehr in der Lage zu sein, irgendwo für
wen auch immer ein gutes Wort einzulegen.«

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