Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

mich wirkt es so, als brächtet ihr vieles ganz gut zusammen« – Zitat Lavinia).
Seitdem hatte sie es vermieden, mit ihm ihr übriges Leben zu teilen. Wie
hätte sie ihren Freunden erklären sollen, dass der einzige Körper, mit dem sie
sich vollständig fühlte, der eines jungen Berlusconi-Parlamentariers war?
Wie hätte sie ihn ihren Kollegen vorstellen sollen? Jenen Männern und
Frauen, die jeden Morgen aufstanden, um pubertierenden Jugendlichen mit
ausgekugeltem Gehirn und Hormonstürmen einen letzten Rest von
Bürgerwerten beizubringen. Was ja schon in der gesamten
Menschheitsgeschichte kein leichtes Unterfangen war, erst recht nicht
heutzutage. Angesichts der Berlusconi-Regierungen, die das öffentliche
Bildungssystem in Not gebracht hatten, als wollten sie die Demokratie von
den Wurzeln her ausrotten. Diese Kollegen konnte Ilaria nicht bitten, ein
Abendessen lang, und sei es nur anstandshalber, ihre Feindschaft oder auch
nur Abscheu gegenüber Piero Casati zu vergessen, der für eine Rechte im
Parlament saß, die diese Gesetze verabschiedet hatte.
Also erlebte sie mit ihm zusammen nicht oft die Welt außerhalb ihrer
Wohnung, und wenn, dann nur in abgelegenen Refugien ihres schönen
Italien, so dass sie auch selten dem Spektakel beigewohnt hatte, wenn ein
bekannter Politiker auf der Straße oder in einer Bar erkannt wird. Und wenn
doch, hatte sie einer leibhaftigen Verwandlung zusehen können, einer
chemischen Mutation. Dem Anschein nach wohlerzogene und gesittete
Passanten, Hausfrauen mit Einkaufstüten, Postboten mit ihren Paketen,
Restaurantbesitzer: ausnahmslos alle, die Piero Casati aus seinem schwarzen
Auto steigen sahen, wurden zu Bittstellern bar jeder Würde, die mit geradezu
übermenschlicher Hartnäckigkeit einen Katalog von Anfragen und
Hilfeersuchen auf ihn abfeuerten. Der Katalog reichte vom Nichtigen (die
Aufhebung eines Halteverbots vor der eigenen Tabaccheria) über das
Konkretere (eine Stelle in der Bank für die frisch diplomierte Tochter) bis hin
zum Absurden (die Aufnahme des pensionierten Onkels, eines
hervorragenden Dichters, der zu Lebzeiten von der Kritikerkaste geschnitten
worden war, auf die Liste der Nobelpreisanwärter). Dabei kannten sie nicht
das geringste Zaudern, keinerlei Unsicherheit, waren perfekte
Selbstdarsteller. Als hätten sie sich schon immer auf diesen einen Moment
vorbereitet: das Auftauchen eines Tischgasts vom mythischen Bankett der
Macht in ihrem bescheidenen Kreis einfacher Menschen.
Zu ihrer Erleichterung hatte Ilaria diesem Schauspiel nur selten

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