Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

beiwohnen müssen. Durch ihre zweisamen Fluchten an diskrete Orte, oft mit
Intervallen von einem oder gar mehreren Jahren, war ihr das erspart
geblieben. Doch jetzt musste sie bei den Worten ihres Bruders daran denken.
Und in Emilios großen, fotogenen Augen sah sie bei Pieros Erwähnung
denselben diffusen Schleier sakraler Verzückung des Menschen, der einen
kennt, der einen kennt, der mit einem einzigen Anruf das Leben anderer
Leute verändern kann. Derselbe Ausdruck wie im Gesicht der Frau mit dem
pinkfarbenen Katzenkleid, die Ilaria mit dem Ellbogen wegstieß, um an ein
Autogramm zu kommen.
Ilaria räusperte sich.
»Emilio«, sagte sie. »Du bist mein Bruder. Wenn du in einen Fluss fallen
würdest, würde ich hineinspringen und dich retten.«
»Danke. Auch wenn das dumm von dir wäre, weil ich viel schwerer bin
als du und wir beide ertrinken würden.«
»Und wenn Chiara dich rausschmeißen würde, dürftest du auf meinem
Sofa nächtigen.«
»Danke auch für diese ermutigenden Worte betreffs meiner Ehe.«
»Aber das nicht. Vergiss es.«
Emilio krampfte die Finger fester um das Lenkrad. »Hör zu, Ilaria, ich
werde dich nie wieder um so etwas bitten. Und ich werde für immer
vergessen, dass du und Piero Casati ...« Eine theatralische Pause, dann:
»... von Kindesbeinen an befreundet seid. Nur dieses eine Mal, Ilaria. Nur
einmal. Das ist die Chance meines Lebens.«
»Die Chance, von der Soap zur Family Fiction zu wechseln. Wahnsinn.
Fast so toll wie ein Oscar.«
»Du wirst dich nie ändern. Es stimmt eben doch.«
»Was stimmt?«
»Dass du eine Moralistin bist. Aber nur in Bezug auf andere.«
»Ja, ich bin Moralistin, aber auch in Bezug auf mein eigenes Leben. Vor
allem bei mir selbst.«
Zum Sonntagabendverkehr der Ausflügler kam nun noch der
Stadionverkehr nach dem Fußballspiel. Seit Minuten steckten sie zwischen
den Leitplanken fest. Ilaria hantierte am Türgriff.
»Komm, jetzt mach keine Szene. Wo willst du hin?« Emilio versuchte sie
am Arm festzuhalten, doch sie entwand sich.
»Nach Hause.«

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