Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

»Aber die gesamte Uferstraße am Tiber ist dicht.«
»Eben. So weiß ich wenigstens, dass ich irgendwann ankomme.
Außerdem gehen wir gern zu Fuß, wir Moralisten.«
Sie schlug die Wagentür zu und bahnte sich nervös ihren Weg durch die
feststeckenden Autoschlangen. Das Wissen, sich mit ihrem Wegrennen selbst
ins Unrecht gesetzt zu haben, machte sie noch wütender. Auf dem Chrom der
Stoßstangen spiegelten sich die Violett-, Rot-, Orange- und Goldtöne des
Sonnenuntergangs. Die in ihren Wagen festsitzenden Römer machten sich
durch wildes Hupen Luft. Überall sonst hätte die Kakophonie die Vögel
erschrocken auffliegen lassen, doch in Rom waren sie daran gewöhnt. In
hektischen dunklen Scharen kreisten sie vor dem Farbschauspiel und
bombardierten die Autos mit ihren Exkrementen. ›Das ist aus dieser Stadt
geworden‹, dachte Ilaria ärgerlich, ›eine maßlose Schönheit, aus der es
Scheiße regnet.‹


Den gesamten Wahlkampf über sendeten die privaten Fernsehsender der
Mediaset-Gruppe mit einhämmernder Frequenz das Video einer Gruppe
Jugendlicher, die vor der weißen Treppe des quadratischen Kolosseums im
EUR stehen und zum Playback die Wahl-Hymne Ein Glück, dass es Silvio
gibt singen. Die Männer mit glattrasierten Wangen, die Frauen mit braven
Mädchenröcken über wunderschönen Beinen. Allesamt mit perfekt
strahlenden Gesichtern, die jeder Zahnpasta-Werbung Ehre gemacht hätten.
Hinter ihnen prangte im marmornen Triumph der faschistischen Architektur
mit lateinischen Buchstaben die Definition der Italiener, beauftragt von
Mussolini: EIN VOLK VON DICHTERN, KÜNSTLERN, HELDEN,
HEILIGEN, DENKERN, WISSENSCHAFTLERN, SEELEUTEN,
AUSWANDERERN.
Die explizite Bezugnahme auf den Mussolini-Kult schadete Silvio
Berlusconi nicht, im Gegenteil. Er gewann die italienischen
Parlamentswahlen 2008 deutlich. Zum vierten Mal stand er an der Spitze der
italienischen Regierung. Was viele sehr absehbare und einige bis dahin
unvorstellbare Konsequenzen nach sich zog. Eine davon betraf ein paar
Monate später einen jungen Mann, der früher einmal teacher und dann raus
gewesen war, während aus dem leeren Herzen der Wüste ein heißer Atem bis
in den großen Raum in Libyen wehte, wo er eingesperrt war.
An jenem Tag hörte der Junge, wie sich die Stimmen libyscher Soldaten

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