Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

über den Gang näherten. Wie immer kauerten er und seine Mitgefangenen
sich auf ihren Fliesen zusammen und legten die Arme über die Köpfe. Dieses
Mal jedoch kamen die Wärter nicht herein, um auf sie einzuprügeln, sondern
öffneten die Tür des großen Raumes und entfernten sich wieder. Jedoch nicht
weit, ihr Lachen war immer noch am Ende des Korridors zu hören.
Der Junge starrte auf die offene Tür. Seine Gedanken, die von
Langeweile, Angst, Hunger und langem Stillhalten wie gelähmt waren,
begannen zu pochen wie Fliegen an das Innere eines Glases. Wenn er den
Fuß vor die Tür setzte, würde er dann bis aufs Blut geschlagen? War das ein
neuer sadistischer Zeitvertreib der Aufseher? Ein weiterer überflüssiger
Vorwand, sie zu quälen? Oder durften sie wirklich hinaus?
Niemand im großen Raum regte sich. Auch die anderen Gefangenen
waren zu geschunden an Körper und Willen, um eine Entscheidung zu
treffen. Ihre Münder standen offen vor Staunen, blieben aber stumm wie ein
Fluchtweg, durch den niemand flieht.
Nach einer Weile wollten die Wachen nicht mehr warten. Sie kamen
herein und scheuchten sie mit ihren Schlagstöcken auf. Dann trieben sie sie
wie eine Herde Schweine nach draußen, unreine Tiere, die – so steht es
geschrieben – nur Schläge und Verachtung verdienen.
Ein paar Minuten lang begriff der Junge nichts. Die stinkenden Leiber der
Gefangenen liefen um ihn herum durch den Flur. Wer konnte, rannte, und
wer nicht konnte, riskierte Prügel, sie prallten gegen Mauern und Gitterstäbe
und versuchten, ihre Köpfe vor den niederprasselnden Stöcken zu schützen.
Sie schrien, und doch konnte der Junge sich später in der Rückschau an kein
einziges Geräusch erinnern. Jeder Ton, jedes Bild und jeder Geruch
konzentrierte sich in diesen Minuten allein auf eine Empfindung: das
unaufhaltsame Strömen der Leiber aus der Gefangenschaft in die Freiheit.
Der Junge strömte mit, fühlte weder Freude noch Überschwang, nicht einmal,
als die Wachen im Flur sie auf einen ersten Hof leiteten und dann durch einen
engen Durchgang zwischen abgebröckelten Mauern in einen zweiten,
größeren Hof, dann an einer doppelt mannshohen Umgrenzungsmauer
entlang bis vor ein Tor.
Offen.
Noch immer verspürte der Junge keinerlei Gefühle. Auch draußen nicht,
auf einer öden Straße der Peripherie. Autos mit durchlöcherten Auspuffen
knatterten vorbei, Karren mit vorgespannten Tieren, Motorroller mit Lenkern

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