Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

beigetragen hatte die Abschaffung des Tages des Hasses einige Jahre zuvor,
den der Oberst jedes Jahr im Oktober den ehemaligen Kolonialherren
gewidmet hatte. Damals hatte die italienische Mitte-Links-Regierung mit
Libyen eine Vereinbarung zur Einwanderung getroffen. Außer einer
großzügigen Erweiterung der Finanzhilfen sah sie die Übergabe von sechs
Motorschnellbooten an Libyen vor, mit denen die Boote der Flüchtlinge
zurückgeschickt werden sollten, die den Kanal von Sizilien überquerten.
Rückführen lautete der exakte Begriff. Damit begann die Zeit der
Rückführungen.
Al Jazeera sendete ein Interview mit einem wackligen, weiß gekleideten
Alten. Er hieß Mohamed Omar al-Mukhtar und war der letzte noch lebende
Sohn des Anführers des libyschen Widerstands, der von den Italienern
achtzig Jahre zuvor gehängt worden war. »Niemals würde ich den Führer
eines Landes treffen, das meinen Vater erhängt hat«, erklärte er, »auch wenn
er dem Rais die Hand küsst.« Doch Silvio Berlusconi hatte bereits seine
berühmte strahlend weiße Zahnreihe entblößt, den Rücken zum rechten
Winkel gebeugt und die Lippen auf Gaddafis Handrücken schmatzen lassen.
Libyens natürliche Gasvorkommen waren durchaus einen Handkuss wert.
Die historische Unterschrift zwischen Ex-Besatzern und Ex-Kolonie
lockte eine ordentliche Anzahl Journalisten nach Libyen, und nicht nur aus
Italien. Natürlich erkundigten sie sich nach den Bedingungen in den
Internierungslagern für Immigranten – wie das, wo der Junge gewesen war.
Sie äußerten sich besorgt über die Tatsache, dass Libyen sich genau wie
Hitler mit seinen Konzentrationslagern und die USA mit Guantánamo nicht
an die Genfer Konventionen im Umgang mit Gefangenen hielt. Oberst
Muammar al-Gaddafi wünschte keine Artikel darüber, wie viele Menschen
sich in einen großen Raum pferchen ließen; über die Form und Farbe von
Hämatomen auf ihrer Haut; darüber, wie viele seit über neun Monaten
inhaftierte Frauen schwanger waren und warum. Das war der Grund, warum
er an jenem Tag den Wachen befohlen hatte, die Türen zu öffnen und alle
laufen zu lassen. Und die Journalisten wurden in die Zentren mit den
sauberen und satten Gefangenen gebracht, die sich zu dritt einen Raum
teilten.
Der Junge begriff die wahren Motive seiner Freilassung erst zwei Jahre
später, als er mit Ilaria und Attilio darüber sprach, als sein Blut sich als
richtig und falsch zugleich erwiesen hatte. Doch hier, am Straßenrand in den

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