Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

und wertlos geworden wie alles andere, was ihn einmal ausgemacht hatte, das
Einzige, was sie ihm nicht hatten nehmen können, denn einem Verbrannten
kann und wird man alles rauben, bis auf das eine: seine E-Mail-Adresse.
Seit er raus war, bewahrte er in seinem Gedächtnis die kurze
Buchstabenreihe wie ein heilbringendes Gebet. Die Spirale des @ in seiner
Mitte verband nicht nur seinen Vor- und Nachnamen mit der Abkürzung des
Servers, sondern war eine Stütze für sein Selbstempfinden. Als er das Gefühl
hatte, unter den Sternen des Mittelmeers vor Durst, Übelkeit oder Kälte zu
sterben, hatte er sich innerlich die eigene E-Mail-Adresse wiederholt als
Erinnerung daran, nicht zu sterben. Sie war seine letzte Verbindung zum Rest
der Welt, die aus Leuten bestand, die nicht ins Exil gehen, die arbeiten,
heiraten, Kinder kriegen, aus nichtigen Gründen mit den Nachbarn streiten,
die beim Anblick der alt werdenden Ehefrau von Aufbruch träumen in dem
Wissen, es nie zu tun. In jedem Internet-Point der letzten Jahre, seitdem er
gegangen war, ohne sich gebührend von seiner Mutter zu verabschieden,
hatte er dieses letzte unsichtbare Band weitergeknüpft, das ihn mit seiner
Geschichte aus Liebe und Abneigung, Talenten und verpassten
Gelegenheiten der Menschen seines Landes verband. So war es in Libyen
gewesen, vor und nach dem großen Raum. So war es danach, in Italien, in
den Lagern mit und ohne Gitterstäbe. Sogar in der Wüste mit ihren
Sandgrenzen, die die koloniale Geopolitik mit unsichtbarer Tinte gezogen
hatte. Wann immer der Junge in diesen Wanderjahren durch irgendwelche
wundersamen Geschehnisse Geld in der Tasche gefunden hatte, investierte er
es stets in kostbare Verbindungszeit. Die Wirklichkeit, die ihn umgab,
entfernte ihn von seiner Identität, wie ein Vater, der den Sohn enterbt und vor
die Tür setzt. Doch wenn er sich einloggte, war es, als öffnete sich eine Tür
zu seinem Zuhause. Und so war der Junge wenigstens für ein paar Minuten
wieder daheim.
Ein Heim allerdings, das häufig in Flammen stand. Wie heute: Unter den
vielen aufgelaufenen E-Mails liest er eine von seinem ehemaligen
Mitgefangenen in Libyen, einem Somalier, der selbst zwischen den dicht
gedrängten Leibern im großen Raum fünfmal am Tag sein Gebet verrichtet
hatte. Er berichtet, dass vor einigen Monaten auf dem müllbedeckten Strand,
von dem aus auch der Junge Richtung Lampedusa aufgebrochen war, zwei
Männer der eritreischen Botschaft aufgetaucht seien. Begleitet von einem
kleinen Heer libyscher Polizisten mit dem grünen Band um den Arm, den

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