Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

schlimmsten. Die Eritreer zeigten auf jeden einzelnen Kopf ihrer Landsleute,
die wie alle anderen auf die Überfahrt über das Meer warteten. Sie verluden
sie auf Lastwagen und kommentierten dabei in scherzhaftem Tonfall: »Seid
ihr denn nicht froh, in euer wunderschönes Eritrea zurückzukehren?« »Unter
diesen Rückkehrern«, schreibt der Somalier in seiner E-Mail, »war auch
Tesfalem.«
Der Junge starrt auf den Bildschirm. Deshalb also schweigt das Postfach
seines Fliesenfreundes seit Monaten wie ein leeres Zimmer. Er denkt an die
neuen Worte – elicotero, ferro, gomma –, die Tesfalem auf einer vom
smaragdgrünen Meer umgebenen Insel gelernt hat, wo sich Frauen anmutig
wie Vögel dem Blick der Gefangenen darbieten, die zum Sterben gehen.
»Komm rüber«, sagt eine Stimme, und der Junge hebt den Blick vom
Bildschirm. Der junge Mann mit den hellen Augen, der denselben Namen
von ayat Abebas talian trägt wie er, steht in der Zimmertür. »Dann kannst du
uns deine ganze Geschichte erzählen.«
Bei diesen Worten spürt der Junge, wie sein Brustkorb ganz hohl wird.
Zweimal hat er sie schon in aller Ausführlichkeit erzählt, seine ganze
Geschichte. Doch sie haben ihm nicht geglaubt, auch nicht, als er »dicker
aufgetragen« hat. Doch dann fällt ihm wieder ein, wessen Sohn der junge
Mann ist, der da am Türrahmen lehnt und ihn betrachtet. ›Dieses Mal ist es
anders‹, sagt er sich. Er klappt Ilarias Laptop zu, steht vom Schreibtisch auf
und folgt Attilio in die Küche.
Ja, Attilio Profeti, ihr Vater, war sein Großvater. Er hatte einen Sohn in
Äthiopien, und dieser Sohn, also ihr älterer Halbbruder, war sein Vater. Wie,
war? Weil er vor Jahren gestorben ist, sich nie wieder von der
Gefangenschaft erholt hat. Welche Gefangenschaft? In Äthiopien landen nur
die Korrupten nicht im Knast, es sei denn, sie sind so arm, dass es sich nicht
lohnt, sie zu korrumpieren oder einzusperren, weil sie eh bald sterben. (›Und
du, Tesfalem, bist du eingesperrt oder tot? Und vor allem, welche der beiden
Möglichkeiten soll ich dir wünschen?‹) Warum haben wir nie etwas von
diesem äthiopischen Sohn unseres Vaters gehört? Offensichtlich hat er nie
darüber geredet. Ja, aber warum hat sich dein Vater, also sozusagen unser
Bruder, nie bei uns gemeldet? Das stimmt nicht. Mein Vater hat Attilio
Profeti immer geschrieben, seit er ein Kind war und bis zum letzten Tag
seines Lebens.
»Und hat unser Vater ihm geantwortet?«

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