Alle ausser mir

euch wie auch in Somalia herrscht Bürgerkrieg. Nein, kein Bürgerkrieg.
Dann verstehe ich nicht, wovor du Angst hattest, warum du geflohen bist.
Der Junge seufzt. Das wäre jetzt der richtige Moment, ein bisschen
»dicker aufzutragen«.
In Äthiopien werden Journalisten entweder sofort getötet oder ins
Gefängnis geworfen, zusammen mit allen, die gegen die Korruption und die
Deportationen aus den Stammessiedlungen protestieren. Aber im Westen
heißt es, Äthiopien sei ein Bollwerk der Demokratie. Und warum heißt es so,
wenn es nicht stimmt? Weil Äthiopien unverzichtbar ist im Kampf gegen die
Terroristen. Welche Terroristen? Die somalischen Dschihadisten. Dann spielt
Somalia also doch eine Rolle? Natürlich, so nah wie es ist.
»Und wo ist dein Cousin jetzt?« (›Wo ist Tesfalem? Wie geht es ihm?‹)
»Nirgendwo, er wurde umgebracht.«
Ilaria zuckt zusammen. Nach einem Moment murmelt sie: »In dieser
Geschichte sind ja alle tot ...«
»Nicht alle«, korrigiert sie Attilio. »Unser Vater lebt noch.«
Der Junge wirft ihm einen völlig klaren Blick zu, wie ein Absatz in
Schönschrift.
»Ich auch.«
Ein Schweigen senkt sich auf das Zimmer wie nach einer
Maschinengewehrsalve.
Attilio wendet dem Jungen denselben Blick zu, mit dem er Wale an der
Meeresoberfläche sucht. »Du sprichst sehr gut Italienisch. Wo hast du das
gelernt?«
(Elicotero, ferro, gomma.) »Von einer Nonne aus dem Val Seriana, in der
Provinz Bergamo. Ist das hier in der Nähe?«
»Kommt drauf an. Näher als Äthiopien ist es auf jeden Fall, aber nicht
gerade Rom.«
»Und ich bin seit über eineinhalb Jahren in Italien.«
»Seit eineinhalb Jahren! Warum hast du so viel Zeit verstreichen lassen,
bevor du zu uns kamst?«
Der Junge hebt die dünnen Schultern. Deutet ein Lächeln an, vielleicht
schüttelt er auch nur einen Ärger ab.
So viel Zeit. Von welcher Zeit spricht er, dieser Sohn des Attilio Profeti?
Von der eines italienischen, besser gesagt europäischen Staatsbürgers? Oder
von der eines Verbrannten? Er stellt diese Frage nur, weil er offensichtlich