keine Ahnung hat, wie verschieden diese Zeiten sind. Aus welch
unterschiedlicher Materie sie gemacht sind, nicht auf dieselbe Art
voranschreiten. Die Zeit desjenigen, der Italien »mein Land« nennen darf, ist
ein Fluss, der mehr oder weniger gleichmäßig an den Ufern von Arbeit,
Beziehungen, Mahlzeiten, Schlafen mit einem sicheren Dach über dem Kopf
entlangfließt. Die Zeit desjenigen, der raus ist, schreitet voran wie ein
Geisteskranker, mal in Sprüngen und Zuckungen, mal in Erschöpfungsphasen
der totalen Lähmung, in ruckartigem Hochfahren und plötzlichem Zum-
Erliegen-Kommen, in Flauten ohne jeden Wunsch oder jähen Krisen von
wenigen Minuten oder auch nur Sekunden, innerhalb derer alles verloren sein
kann. Wie sollten sie das verstehen, die beiden Menschen hier vor ihm am
Tisch, die ihn ohne Feindseligkeit, aber unsicher und erstaunt ansehen?
Warum sollten sie ihm glauben? Vielleicht könnte er sie überzeugen, überlegt
der junge Mann, indem er jede Stunde, jeden Tag, jeden Monat in Italien mit
der Präzision eines Buchhalters auflistet. Ja, das ist der einzige Weg: jeden
Bruchteil dieser verrückten Zeit benennen.
»Für uns«, sagt er also geduldig, »laufen die Dinge hier nicht so schnell
wie für euch.« Und er beginnt, jeden seiner Momente auf der Italien
genannten Halbinsel aufzuzählen. Einen nach dem anderen, begonnen beim
allerersten, als er seine aufgequollenen und graugefärbten Füße von dem
tagelangen stinkenden Geschwappe im Boot auf die Felsen von Lampedusa
setzte.
Aufenthalt in der Erstaufnahmeeinrichtung der Insel in Tagen: zwei.
Identifizierung der Angelandeten durch Polizeibeamte und die Erklärung
des Jungen »Ich bin der Enkel eines Italieners« (inklusive Vorzeigen des
Ausweises) in Minuten: zwei.
Dauer der Antwort seitens der Beamten auf die Erklärung in Sekunden:
null.
Überfahrt auf dem Militärschiff von Lampedusa nach Trapani: sechs
Stunden.
Aufenthalt im Auffanglager von Trapani: zwei Monate (im
Vierundzwanzig-Stunden-Rhythmus der täglichen Aktivitäten: Schlafen –
zehn Stunden. Essen – eineinhalb Stunden. Fernsehraum – fünfeinhalb
Stunden. Kartenspiel – vier Stunden. Lesen der Schilder auf Italienisch im