Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Oder: »Ich habe ihm meinen Namen gegeben.« Attilio Profeti hatte wie
üblich nicht von sich geredet. Er hatte von Ilaria und ihren Geschwistern
gesprochen: Sie waren es, die nun nicht mehr drei, sondern vier waren. »Ihr«,
hatte er gesagt. Und mit diesem »ihr« hatte Attilio Profeti im selben Moment,
als er das jahrelange Lügen offenbarte, die Bürde auf Ilaria übertragen, ihre
Identität zu erweitern. Also schnell mal in diesen Raum des
geschwisterlichen »Wir«, den sie sich sechzehn Jahre lang mit Federico und
Emilio geteilt hatte, ein Kind aufzunehmen, von dessen Existenz sie bis zu
diesem Zeitpunkt nichts gewusst hatte. Erst viele Jahre später begriff Ilaria,
durch welchen akrobatischen Kunstgriff es Attilio Profeti sogar bei seiner
Lebensbeichte als Bigamist gelungen war, unbeschadet durch den Feuerreifen
der Ursprungsfrage zu springen: »Wer bin ich?« Und damit auch der
Anschlussfrage: »Für welche Handlungen bin ich verantwortlich?« Auf diese
Art hatte er zusammen mit einem gutmütigen Blick seiner blauen Augen das
Gewicht der persönlichen Verantwortung auf Ilaria abgewälzt. Und war ihr
wieder einmal mit der ihm eigenen Eleganz aus dem Weg gegangen.
Nun stand da ein Junge aus Addis Abeba auf ihrem Treppenabsatz, aus
einer Stadt, die Ilaria nicht ohne Weiteres auf der Weltkarte hätte zeigen
können, und sagte zu ihr: »Ihr seid nicht zu viert, sondern zu fünft, der fünfte
war mein Vater, und das heißt, auch wenn er tot ist, dass ich einer von euch
bin.« Ein neuer heimlicher Bruder. Mehr noch, ein neuer heimlicher Neffe.
Eine erneute Aufforderung, die Grenzen des »Wir« auszuweiten. Nur dass
Ilaria nun klar wird, dass es ihr nicht so leicht fällt, diesen Jungen in das
primäre »Wir« – Blutsbande! DNA! – aufzunehmen, ein Junge, dem die
grausame Stumpfsinnigkeit italienischer Gesetze gerade zwei Jahre seines
Lebens gestohlen hat. Nicht so leicht, wie es ihr mit ihrem Bruder Attilio fiel.
Und zwar deshalb – da hilft alles Schönreden nichts –, weil seine Haut die
Farbe von antikem Holz hat.
›Rassistin!‹, schilt sich Ilaria mit der wachsenden Bitterkeit der
Schlaflosen. Doch sie merkt sofort, dass dieses Wort nicht ausreicht, um die
komplexe Gefühlslage zu beschreiben, die ihr den Schlaf raubt. Es greift zu
kurz. Gleicht einer Müllhalde, auf der man jede Ambivalenz, jeden Urinstinkt
der Differenzierung, jede zerbrechliche Identität entsorgen kann, um dem
schwierigen Unterfangen zu entgehen, sie sich bewusst zu machen.
Undeutlich und mit von der Wolfsstunde verdunkelten zähen Gedanken
begreift Ilaria, wie die eigentliche Frage lautet, die der Junge ihnen durch

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