Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

sich eingeladen, wie sie es mit jeder neuen Nachbarin getan hätte, doch Ilaria
erfüllte sie mit besonderer Zufriedenheit. Seit ihr Sohn zum Arbeiten nach
Mailand gezogen war, war Ilaria mit ihren fünfundzwanzig Jahren die erste
Hausbewohnerin, die kein Netz aus Falten im Gesicht trug.
Seitdem hatte Lina sie immer wieder mal eingeladen. In ihrer kleinen
Wohnung zwei Stockwerke tiefer, in der es nach Gemüsebrühe und Seife
roch, standen die Bilder ihres verstorbenen Mannes in Uniform und des in
Norditalien lebenden Sohnes auf der Anrichte, alles war übertrieben
aufgeräumt, wie oft bei Menschen mit zu viel Zeit. Ilaria setzte sich an den
Resopaltisch in der kleinen Küche mit einer Kaffeetasse in der Hand und
hörte den Erzählungen aus einer Märchenwelt zu, als Lina noch klein und der
Esquilin der Nabel der Welt war. Als es auf dem Markt der Piazza Vittorio
nicht nur Wurst, Fleisch und Gemüse gab, sondern auch Karussells,
Süßigkeitenstände, geröstete Kürbiskerne, einen Mann, der Kanarienvögel
verkaufte, und einen Fotografen, und als die Leute noch von weit her kamen,
um hier einzukaufen. Die Frauen aus den Randbezirken stiegen aus den
Vorortzügen mit dem Geld im Büstenhalter, kreischten wie Katzen, wenn sie
sich von den Verkäufern betrogen fühlten, stiegen schließlich aber mit
riesigen Taschen voll Gemüse auf dem Kopf balancierend in ihre Züge, um
eine Woche später wiederzukommen.
»Es gab auch ›Fisch das Wunder‹, was ich für den Namen eines
Zauberfischs hielt, so etwas wie ein sprechender Karpfen aus dem Märchen.
Dabei war es ein Beutel mit kleinen Überraschungen, aus dem man sich eine
herausfischen durfte.« Und Lina, die Hände fest um eine unsichtbare Angel
geschlossen, zielte mit dem Haken auf Ilarias Tasse. »Jetzt ist alles voll mit
Müll, und der Pissegestank ist kaum auszuhalten. Und bei all den
Schweinereien, die dort passieren, fühlt man sich doch nicht mehr sicher.
Also ich schon, ich bin alt, mich schaut ja keiner mehr an, aber so ein
hübsches Mädchen wie du, das sollte sich fernhalten.« Und ihrer Miene sah
man an, dass sie den Platz trotz ihrer abfälligen Worte noch immer mochte.
Und mit einem Lächeln fügte sie hinzu: »Aber von unserem Gemüse können
die nur träumen, da auf ihrem Campo de’ Fiori.«


Nicht viele Jahre später, 1993, versprach der neue Bürgermeister Francesco
Rutelli seinen Römern, dass er aus dem Esquilin »den Salon der Stadt«
machen würde. Ein Ausdruck, der nach Teeservice, Glasvitrinen mit

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