Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

ohne Eigenschaften«, ein Geschenk von Ilaria zum fünfundsiebzigsten
Geburtstag – den würde er zu Hause garantiert nicht lesen, vielleicht wäre er
in den endlosen Stunden im Gefängnis eine gute Gesellschaft.
Doch nichts geschah. In den letzten zwei Jahren des Hexentanzes, zu
Beginn der Ermittlungen, die ein Freund des griffigen Schlagworts »Mani
pulite« getauft hatte, »Saubere Hände«, hatten die Steinbeißer von Richtern
nicht nach Attilio Profeti gegriffen. Zum Glück, natürlich. Aber warum die
anderen und er nicht? Er hätte sich kein besseres Ende seiner Laufbahn
vorstellen können, als einen schönen Urteilsspruch vor Gericht. So eine Art
metaphorischer Rahmen anstelle des nie erworbenen Diploms, der vor der
Welt ein für alle Mal klarstellte, dass auch er, Attilio Profeti, offizieller Teil
der herrschenden Klasse gewesen war. Dass sein Berufsleben aufgrund von
Verhaftung, Prozess und Bewährungsstrafe zu Ende ging und nicht wegen
dieses deprimierenden Zustands, den man mit schäbigen Unterkünften und
Brühwürfelsuppen verband – »in Pension«. Doch es war sein Alter gewesen,
das ihn zum Aufhören gezwungen hatte. Anita war es nicht gelungen, ihre
Ausgaben den jäh verminderten Kontoeingängen anzupassen, und hatte das
Bankkonto schon weit vor Monatsende geleert. Während bei ihm immer noch
kein Ermittlungsbescheid einging, nicht einmal der Hauch einer Vorladung.
Es war nur für zwei gedeckt. Der letztgeborene Attilio aß in der
amerikanischen Schule, wo er in diesem Jahr das staatlich anerkannte Abitur
machen würde. Finanziell eine spürbare Belastung, die Attilio, als er noch
arbeitete, kaum gemerkt hatte, deren bevorstehendes Ende ihn aber nun
erleichterte. Anita kam mit einem Backblech herein, auf dem die Soße
schimmerte. Bevor sie es auf den Tisch stellte, hielt sie es kurz ihrem Mann
unter die Nase, wie ein vorbeifliegendes Flugzeug. Seit zwanzig Jahren
servierte sie die Speisen eigenhändig und mit dem Ausdruck eines braven
Kindes, das auf Lob wartet. Eine stolze und demütige Geste zugleich (»schau
her, was ich dir Schönes gekocht habe!«), unter Ausblendung der
unsichtbaren Frau, die dafür bezahlt wurde, diese Leckereien zuzubereiten,
und nun in der Küche darauf wartete, die Reste zu verzehren.
»Hm, das duftet!«, erfüllte Attilio Anitas Erwartungen. Doch er log. Im
Gegensatz zu seiner Sehkraft und dem Gehörsinn, die beide für sein Alter
noch hervorragend waren, nahm Attilio seit ein paar Jahren nur noch sehr
starke flüchtige Gerüche wahr – Alkohol, Benzin, Eukalyptus – und auch die
nur noch schwach. Was er aber niemandem sagte.

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