Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Geburtsjahren ein Vierteljahrhundert lag. Und so hatte sie ihm mal wieder zu
viel Braten auf den Teller geladen. Dann hatte sie sich neben ihn gesetzt und
zu essen begonnen, den Blick starr auf Berlusconi geheftet, der von der
Anrichte herab den Journalisten, vor allem aber dem italienischen Volk
erklärte, was ihn dazu bewogen hatte, in die Politik zu gehen.
»Unsere politischen Gegner haben nie geleugnet, dass sie die Fortsetzung
der marxistischen Ideologie sind«, sagte er, »in direkter Linie mit der
Vergangenheit. Einer Vergangenheit, die nur Armut, Tod und Terror gebracht
hat.«
»Ich vertraue ihm«, meinte Anita. »Ein so reicher Mann hat es nicht
nötig, zu klauen.«
Attilio spürte einen der vielen kleinen Nadelstiche, mit denen seine Frau
ihm den Tag garnierte. Als ob das der entscheidende Punkt in der Politik
wäre, nicht zu klauen! Außerdem, was hieß schon »klauen«, wovon
andauernd die Rede war, im Fernsehen, in den Zeitungen, beim Abendessen?
Er, zum Beispiel. Hatte er geklaut? Nein. Er hatte etwas genommen, aber nur
von dem, der es ihm angeboten hatte. Der einverstanden war. Wie ja auch der
Mann einverstanden gewesen war, dessen rechter Arm er jahrzehntelang
gewesen war, Casati. Und Anita genauso: In diesem Jugendstilhaus zu
wohnen mit Blick auf die Villa Borghese hatte ihr sicher nicht missfallen.
Alle waren sich also einig über die mangelnde Relevanz des Verbes
»klauen«.
Seit knapp zwei Jahren hatten alle einmal vor Gericht gestanden. Also
alle, die etwas zählten. Unternehmer, hochrangige Politiker,
Parteifunktionäre, halbstaatliche Führungskräfte: ein juristisches Erdbeben,
das seit seinem Ausbruch im Februar ’92 zu einer Flut von Verhaftungen,
Selbstmorden und Enthüllungen geführt und die gesamte Führungsschicht
des Landes mitgerissen hatte. Die Chefetagen der ehrwürdigsten italienischen
Unternehmen – Fiat, Olivetti, Ansaldo – und seit einigen Monaten auch
Silvio Berlusconi selbst. Auch gegen Casati wurde ermittelt. Er war vor dem
Amtsgericht vernommen worden, und nun gab es über ihn eine dicke Akte.
Über Attilio Profeti hingegen nicht.
Gewiss, er war erleichtert darüber. Doch gleichzeitig wuchs in ihm Tag
für Tag die Enttäuschung. Die Unruhe. Und er begann, sich selbst zu
befragen.
In der Erinnerung ging er noch einmal alle Anzeichen durch, die sich

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