Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

langsam, aber stetig gemehrt hatten, mit denen Casati eine größere Distanz
zwischen sie beide gelegt hatte. Die Firmengeschenke zu Weihnachten, die
früher wahre Füllhörner des Schlaraffenlandes gewesen waren – ein Triumph
aus edlen Wurstwaren, Parmesanlaiben, teurem Champagner, Spezialitäten
aus allen Regionen Italiens, erlesenen Weinen aus dem In- und Ausland bis
hin zu massiven Silbertellern –, waren nach und nach auf die
Durchschnittsgröße von Geschenkkörben mit Pandoro, einem Billigsekt und
einem Riegel Torrone geschrumpft. Ihm fiel ein, wie er irgendwann von der
Sekretärin seines Chefs und Wohltäters, dem er sein Leben lang treu und
ergeben gedient hatte, Einladungen zu offiziellen Veranstaltungen bekam –
u. A. w. g. –, in denen Anita nicht mehr erwähnt wurde. Als zweite Frau eines
Geschiedenen war ihre Anwesenheit bei formellen Anlässen, bei denen es um
Verhandlungen mit der Kurie ging, nicht erwünscht. Vor allem dachte er an
das Interview mit einem Mann, gegen den wegen Korruption ermittelt wurde
(einer der vielen, er konnte sich nicht an seinen Namen erinnern), das er vor
kurzem in der Zeitung gelesen hatte. Der Mann, Geschäftsführer eines
Betriebs mit Beteiligung der öffentlichen Hand, hatte erzählt, dass er
persönlich einen Schmiergeldkoffer mit einer Milliarde Lire in bar überreicht
hatte. Auf die Frage des Journalisten: »Wie viel wiegt denn eine Milliarde
Lire?«, hatte er geantwortet: »Etwa zehn Kilo.« Attilio hatte an die vielen
Köfferchen denken müssen, besser gesagt Umschläge, die er angenommen
oder überreicht hatte. Keiner davon hatte auch nur annähernd zehn Kilo
gewogen. Höchstens zwei-, dreihundert Gramm.
»Isst du gar nichts, Liebling?«, fragte ihn Anita.
Attilio reagierte nicht. Er war wie erstarrt, die Hände flach auf dem Tisch
wie Brotscheiben, die Augen groß ins Leere gerichtet. Ein kalter Schauer lief
ihm über den Rücken. Endlich hatte er begriffen, warum sie ihn nicht
festgenommen hatten.
Er war nicht wichtig genug.
Er war nur ein Mittelklassespieler, der nicht einmal einer Strafe wert war.
Er hatte sich immer für einen Protagonisten gehalten, dabei war er im Spiel
ohne Grenzen der italienischen Korruption nur ein Wasserträger gewesen.
Nützlich und brauchbar für die Transaktionen, die Casati nicht selbst
ausführen wollte, aber für die moralpredigenden Richter von geringem oder
gar keinem Interesse. Die echten Geschäfte, die echte Kohle, die vielen ach

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