Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

öffentlichen Plätze. Menschenmengen, bei jedem Wetter. Im prasselnden
Regen verströmten die oft Hunderttausenden Demonstranten den
durchdringenden Geruch von nassem Stoff; in der Frühlingssonne waren die
Protestzüge fröhlich wie ein Sonntagsausflug. Vor den Mikrofonen der
Fernsehreporter verkündeten die Demonstranten: »Wir sind hier, um zu
sagen: Wir zählen«, dabei war die katastrophale Stimmauszählung erst
wenige Monate her. Sie skandierten neue Slogans passend zu den neuen
Zeiten: »Cavalieri, Faschisten, Mafiosi – alles eine Soße«, oder die Klassiker:
»Faschisten und Verräter, zurück in eure Gräben.« Die Mehrzahl von ihnen
hatte jede Gewissheit verloren, konnte sich keinen politischen Namen mehr
geben. Den Gegner jedoch hatten sie klar vor Augen, und aus ihm zogen sie
eine starke kollektive Identität. Sie waren die Anti-Berlusconianer. Über die
Wähler dieses Feindes dachten sie nur das Schlimmste, fühlten sich anders
als sie und vor allem besser. Sie empfanden sie nicht als Mitbürger, trauten
ihnen keine politischen Ziele zu, überzogen sie mit Häme und Verachtung.
Was im Übrigen von den Wählern der Rechten aus ganzem Herzen erwidert
wurde.
Piero und Ilaria sahen sich ein paar Jahre nicht. Er heiratete, sie lebte
zuerst mit einem Mann zusammen, dann mit dem nächsten. Während sie
andere Hände auf ihrem Körper spürte, verwendete sie viel Energie darauf,
keine Vergleiche anzustellen. Als Piero sich trennte, kam er wieder zu ihr und
sagte erneut: »Ich lasse mich scheiden und heirate dich.« Und wieder sagte
Ilaria nein. Er kehrte zu seiner Frau zurück, bekam den ersten Sohn. Ein paar
Monate später hätte Ilaria beinahe den dritten Mann geheiratet, brach dann
aber lieber allein zu einer Reise auf. Piero besuchte sie hin und wieder,
manchmal sagte sie, sie sollten sich nicht mehr sehen. Immer wieder hörten
sie lange nichts voneinander, immer wieder fanden sie zueinander. Ilaria kam
es vor, als stecke ihre Beziehung fest wie die Holzstümpfe in den
Stromschnellen auf Höhe der Tiberinsel. Wie oft hatte sie sie beobachtet, bei
ihren Spaziergängen am Fluss, um die Gedanken zu beruhigen. Sie erhoben
sich aus dem schäumenden Schlickwasser, kurz schienen sie sich befreien zu
können und weiter der Strömung zu folgen, doch dann wurden sie von dem
Strudel aufgesogen und verschwanden darin. Wenn sie endgültig versunken
zu sein schienen, tauchten sie plötzlich wieder auf, wie Wesen mit einem
Eigenleben, Wasserschlangen, irgendein Loch-Ness-Monster, das sich in den
Tiber verirrt hatte. Gefangen im ewigen Strudel der Stromschnellen, auf und

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