Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Er wies auf sein leeres Glas. »Etwas Wasser, bitte.«
Marella ging ins Bad und füllte es auf.
»Danke. Stell es einfach auf die Kommode.«
»Soll ich dir die Kissen aufschütteln?«
»Nein danke, alles gut so.«
»Sonst etwas?«
»Nein, wirklich nicht. Mir geht’s gut.«
»Gut. Dann gehe ich. Baldige Genesung!«
»Danke«, wiederholte Attilio zum dritten Mal. Und zum vierten: »Und
danke, dass du gekommen bist. Das hat mich gefreut.«
Marella verließ nicht schnell und nicht langsam das Zimmer, ging ruhigen
Schrittes den Flur der Station entlang, nahm den Aufzug, durchquerte die
Eingangshalle hinaus in den Garten der zur Klinik umgebauten
Jugendstilvilla. Erst auf dem Parkplatz, beim Öffnen des Wagenschlags,
brach sie in Tränen aus. Schluchzend ließ sie sich auf den Fahrersitz sinken
und entdeckte neben sich auf dem Beifahrersitz den Umschlag für Attilio. Sie
hatte vergessen, ihn ihm zu geben.
Manchmal fand Marella noch Post für ihren Ex-Mann im Briefkasten.
Jahrbücher von Vereinen, die er seit Ewigkeiten nicht mehr frequentierte,
Weihnachtskarten früherer Kunden, Werbung. Sie legte alles zur Seite und
gab den Stapel dem ersten ihrer Kinder mit, das sie besuchen kam. Sie hatte
die äthiopische Briefmarke sofort erkannt, obwohl seit Jahren nichts mehr
gekommen war. Diesmal klebte sie aber nicht auf einem Umschlag aus
minderwertigem Papier, wie Carbone ihn immer verwendet hatte, Attilios
früherer Kriegskamerad. Das hier war hauchdünnes Luftpostpapier, und auch
der Absender war ihr nicht bekannt, schwer zu entziffern. Die Adresse
bestand aus einer Reihe von Zahlen, dahinter dann: »Kebele Lideta, Addis
Abeba, Ethiopia«.
Mit roten Augen kehrte Marella in die Klinik zurück und gab den
Luftpostbrief beim Pförtner ab, damit der ihn weiterleitete. Dann fuhr sie
immer noch schniefend nach Hause und ärgerte sich über sich selbst. Sie war
eine alte Frau, eine Oma mit weißen Haaren, und immer noch trauerte sie so
schlimm ihrem Ex-Mann hinterher. An der nächsten roten Ampel wäre sie
fast ihrem Vorgänger hinten draufgefahren und musste scharf bremsen.
In diesem Moment traf sie ihre Entscheidung: »Schluss jetzt. Es reicht.«
Sie würde nicht länger unter dem Betrug leiden, unter der vorenthaltenen

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