schmetterling

(Martin Jones) #1

»Ja, zehn. Dem Jungen wurde nie was geschenkt. Gott weiß, ich hab
versucht, ihm ein Freund zu sein, aber meine Kräfte –« Der Sheriff seufzt.
»Die Welt ist kein friedlicher Ort, Ruth. Voller Dämonen, pflegte mein alter
Herr zu sagen, und er meinte das ernst! Epheser 6, 12: ›Denn wir haben nicht
mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Mächtigen und Gewaltigen,
nämlich mit den Herren der Welt, die in der Finsternis herrschen, mit den
bösen Geistern unter dem Himmel.‹ Ich sagte zu ihm: ‹Blödsinn, jeder ist
sein eigener Dämon. Um das zu erkennen, braucht man keine Bibel‹, aber er
schlug mit der flachen Hand auf das Buch und rief: ›Du leugnest Gott, wenn
du jene leugnest, die zusammen mit dem großen Drachen, der alten Schlange
auf die Erde geschleudert wurden, die Frage ist nicht, ob es Dämonen gibt,
sondern wessen Hölle sie bevölkern, also nimm dich in Acht, denn die Hölle
ist in uns allen!‹ – Das waren so die Diskussionen, die wir führten. Glaube
ich dran? Ich weiß es nicht, Ruth. Ich liebe die Bibel und den gesunden
Menschenverstand, ich glaube nicht an geflügelte Unholde, und zugleich
weiß ich, Luthers Hölle ist sehr geräumig! Was immer da wütet und ihn
bedrängt, es hat ihn schon zu viel gekostet.« Er sieht sie an. »Und du wirst
Undersheriff werden, also versprich mir was, Kind.«
»Was, Carl?«
»Gib auf ihn acht. Hörst du? Gib auf den Jungen acht.«
»Das tue ich schon die ganze Zeit.«
Der Sheriff legt zwei Finger an die Schläfe, als versuche er, sich zu
erinnern, worüber sie gerade gesprochen haben. Er tätschelt ihren Arm und
setzt sich wieder in Bewegung. Ruth blickt ihm hinterher und fragt sich, wie
die Welt wohl aussähe, wenn mit dem Verlöschen der Geisteskräfte auch die
Menschen durchscheinend würden. Wenn ihre Körper sich im Einklang mit
ihren Erinnerungen langsam auflösten, blasser, transparenter würden und
man durch sie hindurchblicken könnte, bis sie schließlich gänzlich
verschwänden und nichts von ihnen bliebe als Hörensagen. Sie will den alten
Mann nicht verlöschen sehen und fühlt sich dabei, als verlösche sie selbst

Free download pdf