schmetterling

(Martin Jones) #1

»Hallo? Jemand im Haus?«
Seine Stimme versickert in Stille. Langsam geht er zurück ins
Wohnzimmer, macht Licht. Erst nach und nach fallen ihm die Veränderungen
ins Auge. Zeitschriften, die nicht so liegen, wie sie sollten, ein Buch auf dem
Couchtisch, das er nicht kennt, ein halbvolles Glas, das er sich nicht erinnert,
gefüllt zu haben. Quer über dem Sessel eine Jacke, der Größe nach seine, nur
hat er dieses Kleidungsstück zu keiner Zeit besessen. Beunruhigend die Fotos
auf dem Kaminsims, genauer gesagt ihre Anordnung, aber auch das ist es
nicht, vielmehr alarmiert ihn, dass einige zu fehlen scheinen, während nie
zuvor Gesehene dazugekommen sind. Zögerlich tritt er näher, voller Angst
und Verlangen, sie zu betrachten. Wie Bodennebel steigt eine Vorahnung in
ihm auf, giftig und erstickend, Flucht gebietend, doch er kann sich nicht
lösen, geht auf schweren Beinen zu den Rahmen und Rähmchen. Ein
plötzlicher Schwall von Übelkeit lässt seine Magenwände kontraktieren,
wann hat er zuletzt etwas gegessen? Innehaltend sucht er nach dem großen
Portrait von Jodie und kann es nirgends entdecken. Wo es stand, gruppieren
sich Aufnahmen kleineren Formats, die Tamy zusammen mit einem fremden
Hund zeigen, ohne dass Luther zu sagen vermöchte, wo und wann sie
gemacht wurden. Seine Hände umklammern das Sims. Auch er selbst ist auf
einem der Bilder, in Gesellschaft Tamys und dieses Hundes, ein gutmütig
dreinblickender Golden Retriever. Tamys Gesicht ist in das sandfarbene Fell
vergraben, sie könnte vierzehn oder fünfzehn sein. Auf einem weiteren Bild
er, Jodie, Tamy samt Hund auf Darlenes Terrasse, und er prallt zurück wie
von einem Projektil ins Herz getroffen, stolpert gegen die Sofalehne, verliert
den Halt und stürzt hintüber, landet in den Lederpolstern, taumelt hoch, starrt
zum Sims, während das Entsetzen in ihn hineinkriecht, denn das hier ist
schlimmer als jedes Projektil, schlimmer als die Todesangst in der lodernden
Drogenhölle, schlimmer als alles, was er je erlebt hat – der grausame Beweis,
dass er wahnsinnig geworden oder – schlimmer noch – aus jahrelangem
Wahn erwacht ist.

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