schmetterling

(Martin Jones) #1

Verstehen, Fortschreiten, gute und schmerzhafte Erfahrungen, um endlich auf
verlockend daliegende Landschaften voller Sinn und Bedeutung zu blicken,
guter Chancen gewiss, und dann ein scheiß Peterbilt 389.
Jodie mochte erkannt haben, dass keine Reise mehr vor ihr lag. Kein
unbetretenes Land mehr, nur Bewusstlosigkeit, abruptes, sinnloses Enden.
Vielleicht hatten ihre schwindenden Gedanken Tamy gegolten; dass nicht sie
ihre Tochter, sondern ihre Tochter sie zurücklassen würde, so wie die ganze
Welt sich von ihr abwandte im Moment ihres Sterbens, um sich künftig ohne
sie weiterzudrehen. Vielleicht blieb Zeit für ein letztes Bedauern, nicht auf
der Schwelle umgekehrt und noch etwas aus dem Haus geholt oder früher
begriffen zu haben, dass Luther nicht mehr kommen würde – was die Abfahrt
eben genug verschoben hätte, um dem hier zu entgehen. Vielleicht aber auch
nichts davon. Reflexe. Chemische Prozesse bar jeder Bedeutung.
Oder doch Schmerz. Unerträglicher Schmerz.
In Anbetracht der damaligen Umstände war es schon eine respektable
Leistung, nicht in den Armen Jack Daniels gelandet zu sein. Bis heute fragt
sich Luther, was genau ihn eigentlich davor bewahrt hat. Vielleicht, dass ihm
zu viele Einsitzende im County-Gefängnis über die Jahre vor Augen führten,
welche Spätfolgen es hat, sich das Hirn mit Hochprozentigem zu marinieren.
Aus seiner gesamten Erfahrungswelt stach die Gewissheit heraus, dass nicht
der Schmerz weniger wurde, wenn man trank, sondern die Fähigkeit, ihn
zuzuordnen, und das erschien ihm weit schlimmer als jeder Splitter im
Herzen. Leiden am bloßen Leiden bedeutete die Hölle, die ewige
Verdammnis. Also blieb er trocken und funktionierte, für Tamy, Darlene und
alle um sich herum. Er funktionierte, wie er gewohnt war zu funktionieren,
seit ihm die Vorsehung eine Tante aus dem Wilden Westen ins Haus
geschickt und ihn ermuntert hatte, seine Mutter nach Loyalton zu locken. Er
war Ermittler. Noch der größte Horror ließ sich herunterbrechen auf die
Prinzipien von Ursache und Wirkung, wie grell einem die Bilder auch in den
Augen stehen mochten.

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