schmetterling

(Martin Jones) #1

Seitentasche. Ertastet einen Schlüsselbund. Zieht ihn hervor, holt seinen
eigenen heraus und hält beide nebeneinander.
Sie sind identisch.


Gegen Mittag haben sich die letzten Zirruswolken verzogen. Der Himmel ist
blitzblank und nur im Zenit etwas ausgebleicht. Ruths Hände liegen
nebeneinander auf dem Lenkrad, ihre Ray Ban taucht die Landschaft in
Sepia. Adern schlängeln sich auf ihren Handrücken.
Sie versucht, nicht hinzuschauen, und schaut umso genauer hin.
Traten die immer schon so hervor?
Je länger sie darauf starrt, desto mehr erscheinen sie ihr wie blutgefüllte,
zwischen Knochen und Sehnen gequetschte Würmer, einzig von der straffen
Folie der Haut daran gehindert, sich zu winden und davonzukriechen. Die
Oberfläche ihrer Fingerknöchel runzelt sich wie alte Äpfel. Ekelhaft. Sind das
alles Sommersprossen? Woran erkennt man Altersflecken? Wohl daran, dass
sie kürzlich noch nicht dort waren. Neue, winzige Muttermale geben sich ein
Stelldichein, eine ganze Straße hat sie zuletzt seitlich des Halses entdeckt und
sich gefragt, welchem Zweck die Hinzukömmlinge dienen außer dem, ihr den
eigenen Anblick zu vermiesen.
Das muss die Hitze sein, denkt sie. Die lässt das Blut quellen. Obschon
von Hitze kaum die Rede sein kann, nicht in Sierra.
Hier wissen sie gar nicht, was Hitze ist.
Du bist vor fünf Jahren aus Monroe hergekommen, nach einem Skandal,
den du nicht verschuldet hast.
Monroe, Tennessee. Da war es heiß!
Danke, Luther, fürs Heraufbeschwören.
Doch die Erinnerung hilft ihr, ihn zu verstehen. Es macht einen
Unterschied, mit Zähnen und Klauen sein fragiles Selbstverständnis
verteidigen oder erleben zu müssen, wie es in sich zusammenkracht und
einen nackt und schutzlos der Willkür preisgibt. Wenn jede Distanz

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