schmetterling

(Martin Jones) #1

Luther biegt die Zweige auseinander und schaut nach unten. Die
Hangkante ist von brusthohem Gestrüpp bestanden, kalifornischer Lorbeer
und ein bisschen Quercus. Wo die Barriere Lücken lässt, kann er die Männer
des freiwilligen Bergungsteams sehen, wie sie – an Seilen gesichert – die
Leiche aus dem Geflecht lösen und mit geübten Handgriffen vertäuen, um sie
nicht noch an den Fluss zu verlieren. Er hört einen Akkord splitternder Äste,
als der Körper kurz wegsackt, das Ächzen der Flaschenzüge.
Eine Fuchsschwanz-Kiefer, denkt Luther. Nadeln spitz wie Stilette.
Ein aufgespießter Engel.
Ruth Underwood geht neben ihm in die Hocke. Ihre rotblonde Mähne, die
sie von hinten aussehen lässt wie die Mutter aller California Girls in einem
Drogentraum Brian Wilsons, wird fahl, als sie in die Schatten abtaucht, die
das Sonnenlicht noch nicht hat vertreiben können. Der Tag verspricht
wolkenlos zu werden. Binnen Kurzem werden die Schatten abgeflossen sein
und ihre Geheimnisse mit sich genommen haben, Geisterbilder der Tragödie,
gewoben aus Mondlicht. Mitunter, wenn Luther alleine in den Wäldern
unterwegs ist, könnte er schwören, im Seufzen des Windes und
vielstimmigen Flüstern des Laubs, in all den verschwörerischen kleinen
Lauten, die zusammen Stille ergeben, Echos aus einer Zeit zu vernehmen, als
Urgewalten den riesigen Granitblock namens Sierra Nevada auftürmten, und
im kaleidoskopischen Spiel des Lichts auf dem Waldboden nehmen die Toten
Gestalt an.
»Kaum zu glauben«, sagt Ruth und hält einen frisch gebrochenen Ast
hoch. »Die ist ungebremst in die Büsche gerannt.«
Luthers Blick weilt auf der gegenüberliegenden Anhöhe. Die Tannen
erwecken den Eindruck einer verschwiegenen Gesellschaft. Dicht an dicht
stehen sie, soweit das Auge reicht, gekrönt von den pastellenen Felsen der
Sierra Buttes, Zacken einer gewaltigen, fernen Krone.
»Wer rennt denn im Stockdunkeln auf einen Steilhang zu?«, sagt er mehr
zu sich selbst.

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