schmetterling

(Martin Jones) #1

»Nein.« Zoe beugt sich zu Jayden herab und legt eine Hand auf seine Stirn.
»Es gibt keinen idealen Menschen. Niemand ist der Mittelwert. Was wir
Persönlichkeit nennen, ist eine Mutation.«
»Und? Bist du noch die Mutation, die du warst?«
»Anfangs war es sonderbar. Ich lebte in einem Rechner.« Sie hebt den
Blick, und er geht nach innen. »In einem virtuellen Ambiente. Es heißt, man
braucht einen Körper. Wer in virtuelle Welten eintaucht, hat im Allgemeinen
einen Körper. Meiner war tot. Ich habe darauf verzichtet, meiner Beerdigung
beizuwohnen. Ich war ja noch am Leben. Ich meine, was ist der Sinn dieses
Zeremoniells, einen Körper oder Asche feierlich in Erde zu versenken oder
zu verstreuen? Wir tun es, weil der Körper das Letzte ist, was uns von einem
Toten bleibt. Aber welchen ideellen Wert hat ein toter Körper noch, wenn der
Geist im Hier und Jetzt weiterlebt?«
»Körper sind Hüllen.« Marianne schaut auf ihre spitzen Knie. »Schöne und
weniger schöne.«
»Nein. Sie sind mehr als das.« Zoe fokussiert wieder auf Marianne. »Sie
sind mehr, weil es keine Seele gibt. Die Vorstellung der Seele hat Menschen
jahrtausendelang versklavt und gequält! Ein fatales Konzept. Was sie hätte
glücklich machen sollen, die Option, nach dem physischen Tod
weiterzuleben, hat tatsächlich Unglück und Verzweiflung über uns gebracht.
Wir haben das eine Leben, das wir hatten, nicht wertgeschätzt. Den Körper,
den wir hatten, nicht wertgeschätzt. Alles für die abergläubische Vorstellung
eines besseren Jenseits. Kasteiung, Folter, Kriege, eingebildeter Paradiese
wegen. Das größte Verbrechen der Religionen besteht darin, uns diesen
Unsinn eingeredet zu haben. Das Märchen von der unsterblichen Seele ist
etwas zutiefst Zynisches, Körper hingegen sind etwas Wunderbares! In ihnen
und ausschließlich durch den Körper, durch biochemische Prozesse, entsteht
das andere Wunderbare, der Geist. Mit dem Körper erlischt der Geist. Mit
meinem Körper ist auch mein Geist erloschen. Ich bin gestorben, Marianne.
Vollständig gestorben, und ich lebe dennoch.«

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