schmetterling

(Martin Jones) #1

Ruth geht zurück zum Streifenwagen.
Hoch über ihr verlagert sich ein monotones Brummen in südliche
Richtung. Als sie den Kopf hebt, sieht sie die ferne Maschine einen
Kreidestrich ins Blau malen, überkreuzt von einer verblassenden, schon
älteren Linie, sodass ein zerdehntes X dort oben prangt. Eigenartigerweise
scheinen ihr beide Linien nicht menschgemacht, sondern Ausdruck eines
universellen Rätsels, dessen Lösung jeglichen Konflikt, den Homo sapiens je
mit sich auszufechten hatte, gleich mit erledigen würde. Eine Kreuzung: so
simpel, dass es keiner ausgefeilteren Symbolik bedarf. Der eine geht hierhin,
der andere dorthin, die Spuren verblassen, des Kartographierens nicht wert,
da man ja aus einer schieren Unzahl von Möglichkeiten die eigene Richtung
wählen kann. Seit ihrem vierzehnten Lebensjahr, als ihr Körper begann,
Signale auszusenden, hat Ruth die Unbeteiligtheit einer Natur gespürt, die
alle erdenklichen Offerten macht und sich einen Dreck darum schert, ob
jemand sie nutzt. Die gezackten Kämme der Sierra Buttes jenseits der
bewaldeten Bergflanke könnten Rücken versteinerter Riesensaurier sein, die
eines Tages zum Leben erwachen und wieder Richtung Meer ziehen, aus dem
sie das tektonische Kräftemessen vor hundertdreißig Millionen Jahren
vertrieben hat. Den Menschen, die in ihrem Schatten gesiedelt haben, wird
dann nicht mal mehr die Bedeutung einer Erinnerung zukommen, warum
also, denkt sie, versagen wir einander in diesem Mückenschiss von
Lebensspanne, sein zu dürfen, wer wir sind?
Sie lehnt sich gegen die Kühlerhaube, dreht das Gesicht zur Sonne und
überlässt sich den flüchtigen Berührungen des Windes. Frei von Verlangen
erkundet er Ruths Stirn, Wangenknochen, Brüste, ein Geliebter ohne jedes
Interesse an ihr. Sie sollte über Wichtigeres nachdenken, doch wie Züge,
deren Wagenreihung durcheinandergebracht wurde, rattern die Gedanken
durch ihren Kopf, und ihr Herz schlägt viel zu schnell. Der tastende Wind
ruft Vorstellungen in ihr wach, was die Hände der Frau in der Autowerkstatt
auf ihrer Haut verrichten würden, wenn diese Frau nur endlich aufhörte, sich

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