schmetterling

(Martin Jones) #1

»Wir sitzen auf der Terrasse und versuchen uns zu erinnern, in welchem
Jahr wir leben.«
»Lass mich raten. Jüngere Geschichte?«
»Doppelstunde! Gewaltmarsch durch die Sezessionskriege und ihre
Reflektion in der amerikanischen Geschichtsschreibung des beginnenden
zwanzigsten Jahrhunderts. Ich weiß mal wieder im Detail, was Leute dachten,
die längst tot sind.«
»Klingt, hm – kontrageil.«
»Bitte, Ruth!«, sagt Tamy gequält. »Benutz keine Wörter, die mir selber
peinlich sind.«
»Woher soll ich wissen, was dir gerade peinlich ist?«
»Kontrageil sag ich schon seit einem Jahr nicht mehr.«
»Ich geb’s auf.«
»Teenager etablieren keine neuen Wörter, und wenn wir noch so
unumstößlich der Meinung sein mögen«, doziert Tamy, als wäre sie nicht
gerade erst siebzehn geworden. »Jugendsprache produziert
Wegwerfvokabeln. Saisonfummel. Die paar Begriffe, die überdauern, kannst
du an einem Rechenschieber abzählen.«
»Woher weißt du, was ein Rechenschieber ist?«
»Gibt’s als App. Es geht um Spaß und Wandel, verstehst du? Kreativität
trainieren. Neues erschaffen. Weg damit. Neues. Weg. Bis Konsens entsteht,
Präzisierung, Wortschöpfungen, um beispielsweise Missverständliches auf
den Punkt zu bringen –«
»Stehen bleiben, oder es knallt, hat noch jedes Missverständnis geklärt.«
»Im Ernst. Wir machen uns zu wenig Gedanken über unsere Wortwahl.
Weißt du, was Rudyard Kipling gesagt hat? Worte sind die mächtigste Droge,
welche die Menschheit benutzt.«
»Ja, es ist viel billiges Crack im Umlauf.«
»Wie willst du das beurteilen, Frau Stehen-bleiben-oder-es-knallt?«
Ruth lacht. »Schon gut.«

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