S_252_ddeutsche_Zeitung_-_11_09_2019

(vip2019) #1
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München – Der Schweizer Fotograf Ro-
bert Frank ist am Montag in Inverness, Ka-
nada, im Alter von 94 Jahren gestorben. Er
galt als einer der einflussreichsten Fotogra-
fen des 20. Jahrhunderts. Frank wurde
1924 als Sohn eines Deutschen und einer
Schweizerin in Zürich geboren, ging mit 23
nach New York, nachdem er bereits in Zü-
rich und Genf als Fotograf gearbeitet hatte.
Er fotografierte für Magazine wieLife,
LookundVogue. sz  Feuilleton

Meinung
In etlichen Handwerksberufen
soll wieder Meisterpflicht gelten –
doch das überzeugt nicht 4

Politik
Auf Tumulte im britischen Parlament
folgen Vorbereitungen für
die nächste Brexit-Schlacht 7

Wissen


Hunderte Amerikaner leiden an einer
unbekannten Lungenkrankheit.
Sind E-Zigaretten schuld? 14

Wirtschaft
Wie Katy Roewer den
Versandhändler Otto
moderner machen will 16

Sport
Immer noch erlaubt sich die
deutsche Fußball-Nationalelf
instabile Momente 23

Medien, TV-/Radioprogramm 27,
Forum & Leserbriefe 13
München · Bayern 26
Rätsel & Schach 27
Traueranzeigen 10

Rom – Nach der gewonnenen Vertrauens-
abstimmung in der Abgeordnetenkammer
steht dem italienischen Ministerpräsiden-
ten Giuseppe Conte am Dienstag eine Ab-
stimmung im Senat bevor. Es wird erwar-
tet, dass das Votum enger ausgeht, da die
Koalition aus Fünf-Sterne-Bewegung und
dem Partito Democratico nur über eine
knappe Mehrheit verfügt. Sollte der partei-
lose Conte verlieren, muss er das Amt nie-
derlegen.ap  Seiten 4 und 6

Brüssel – Die neue EU-Kommission will
den Kampf gegen Klimawandel verstärken
und Europa für den digitalen Wandel vor-
bereiten. Die designierte Kommissionsprä-
sidentin Ursula von der Leyen gibt der
obersten Behörde der EU dafür eine ande-
re Führungsstruktur. Die deutsche CDU-
Politikerin stellte am Dienstag in Brüssel
ihr Kommissarskollegium vor. Drei Mit-
glieder erhalten die neu geschaffenen Pos-
ten der Exekutiv-Vizepräsidenten; sie sol-
len als mächtige Stellvertreter wichtige res-
sortübergreifende Themen vorantreiben.
Der Niederländer Frans Timmermans
soll in dieser Rolle die Klimapolitik der EU
koordinieren. Die Dänin Margrethe Vesta-
ger wird sich um den digitalen Wandel
kümmern. Beide waren bisher schon Kom-
missionsmitglieder; Vestager machte als

Wettbewerbskommissarin Schlagzeilen
mit harten Strafen gegen die US-Technolo-
giekonzerne Google und Apple. Damit er-
regte sie den Zorn von US-Präsident Do-
nald Trump. Sie bleibt auch als Vizepräsi-
dentin für Wettbewerb verantwortlich.
Dritter Exekutiv-Vize ist der Lette Valdis
Dombrovskis, der für Finanzmärkte, den
Euro und Soziales zuständig ist.
Von der Leyen, die frühere Bundesvertei-
digungsministerin, sagte, sie wolle „eine
Kommission, die mit Entschlossenheit ge-
führt wird, die sich auf die akuten Proble-
me konzentriert und Antworten liefert“.
Die neue Kommission hat nur 27 Mitglie-
der, da Großbritannien keinen Posten be-
setzen wird. Die Kandidaten müssen sich
Ende September und im Oktober Anhörun-
gen in den Ausschüssen des Europaparla-

ments stellen, und die Volksvertreter müs-
sen der Ernennung zustimmen. Ist das Par-
lament einverstanden, kann die Kommissi-
on am 1. November mit der Arbeit begin-
nen. Die Amtszeit der amtierenden Kom-
mission endet im Oktober. Bei drei Kandi-
daten gilt ein Placet wegen Bedenken eini-
ger Abgeordneter nicht als sicher: beim de-
signierten Agrarkommissar aus Polen, der
Verkehrskommissarin aus Rumänien und
dem Erweiterungskommissar aus Ungarn.
Wichtige Posten gingen an Politiker aus
Frankreich und Italien: Der frühere italieni-
sche Premierminister Paolo Gentiloni wird
für Wirtschaft und Währung zuständig
sein und damit auch für die Anwendung
des Stabilitätspaktes, der zu hohe Staats-
schulden von Euro-Staaten verhindern
soll. Das ist pikant, da die EU-Kommission

und Italien wegen des Pakts lange im Streit
lagen. Von der Leyen schreibt in ihrem Be-
rufungsbrief an Gentiloni, er solle beim
Pakt „die volle Flexibilität nutzen, die die
Regeln erlauben“.
Die frühere französische Verteidigungs-
ministerin Sylvie Goulard wird Binnen-
markt-Kommissarin. Sie soll an einer neu-
en Industriepolitik mitarbeiten und für ei-
ne extra geschaffene Abteilung für Rüs-
tungsindustrie und Raumfahrt zuständig
sein. Um das Thema Rechtsstaatlichkeit –
und mögliche Verstöße dagegen in Staaten
wie Polen und Ungarn – sollen sich zwei
Kommissionsmitglieder kümmern: der
Belgier Didier Reynders als Justizkommis-
sar und die Tschechin Věra Jourová, die für
Grundwerte und Transparenz verantwort-
lich ist. björn finke  Seiten 4 und 6

Berlin – Bundestagspräsident Wolfgang
Schäuble hat den Beitrag Ungarns zur deut-
schen Wiedervereinigung gewürdigt. Der
CDU-Politiker erinnerte am Dienstag dar-
an, dass Ungarn vor 30 Jahren, am 10. Sep-
tember 1989, seine Grenze für die DDR-
Flüchtlinge geöffnet habe. „Die Grenzöff-
nung in Ungarn löste eine neue Dynamik
aus. Zwei Monate später fiel die Berliner
Mauer – das Symbol des Kalten Krieges“,
sagte Schäuble. dpa  Seiten 4 und 6

Chinesisch gehört mit zu den schwierigs-
ten Sprachen der Welt. Glaubt man einer
Gruppe von chinesischen Wissenschaft-
lern, können sich zumindest die Englisch-
sprechenden nun freuen. Der Forschungs-
verbund der Weltzivilisation, ein Zusam-
menschluss aus chinesischen Akademi-
kern, will nämlich herausgefunden ha-
ben, dass Englisch eigentlich ein Dialekt
der chinesischen Sprache ist. Beispiel ge-
fällig? Shop leite sich vom gleichbedeuten-
den Wort shangpu ab. Die Farbe yellow
stamme von yelou, chinesisch für fallen-
de Blätter. Und heart, also Herz, komme
von hexin, dem Wort für Kern.
Fairerweise sollte man hinzufügen,
dass trotz des medialen Rummels um die
angebliche Entdeckung auch die meisten
Wissenschaftler in China Zweifel an der
Theorie hegen. Viele halten sie wohl
schlicht für verrückt. Eine gewisse Emp-
fänglichkeit gegenüber waghalsigen his-
torischen Theorien lässt sich allerdings in

China zunehmend beobachten. Spätes-
tens mit dem Amtsantritt von Xi Jinping
verstärkt die Parteiführung wieder die
Propaganda rund um die Errungenschaf-
ten des antiken Chinas. Der Präsident ver-
spricht seinem Volk, die Jahrhunderte der
Demütigung und des Rückstands hinter
sich zu lassen und wieder eine Weltmacht
zu werden. China soll wieder Reich der
Mitte sein, Zentrum der Innovation und
des Fortschritts. Dafür wird die Geschich-
te des Landes kontinuierlich ein bisschen
länger – so wie die Liste angeblicher Er-
rungenschaften.
Die vier größten Erfindungen kennt in
China jedes Kind: Das sind Papier, der
Kompass, das Schießpulver und der Buch-
druck. Doch reichen tut das längst nicht

mehr. Präsident Xi ließ bereits die
größten chinesischen Entdeckungen im


  1. Jahrhundert küren. Glaubt man den
    Staatsmedien, gehören dazu die Entwick-
    lung der Schnellzüge, der Onlinehandel,
    die Leihfahrräder ohne festen Abstell-
    platz und das Zahlen mit dem Mobiltele-
    fon. Insgesamt eine eher abenteuerliche
    Aufstellung.
    Und es geht noch weiter. Bei einem Be-
    such auf der britischen Insel erklärte Xi
    2015 den Engländern, dass man in China
    schon 2000 Jahre länger Fußball spiele.
    Laut Staatsmedien schlug man dort auch
    schon Golfbälle, da gab es in Großbritan-
    nien nicht mal eine Queen. Ebenso habe
    man neben Pizza und Pasta (ein angebli-
    ches kulinarisches Raubgut von Marco Po-


lo) den Hund erfunden. Das erste domesti-
zierte Tier sei schon vor 16 000 Jahren
durch China spaziert. Möglicherweise so-
gar schon vor 33 000 Jahren.
Um dem Ganzen ein solides wissen-
schaftliches Fundament zu geben, wählte
die Regierung bereits vor ein paar Jahren
ein Team mit 100 Wissenschaftlern aus,
um endlich eine vollständige Liste aller
chinesischen Erfindungen aufzustellen.
Auf genau 88 Erfindungen und technolo-
gische Errungenschaften kam die Grup-
pe 2016. Ein echter Zufall, wenn man be-
denkt, dass die Zahl Acht in China Glück
verheißt.
Der Forschungsverbund, der Englisch
als chinesischen Dialekt bezeichnet, geht
aber noch einen Schritt weiter. Rom und
Athen? Hat es nie gegeben. Die europäi-
sche Zivilisation: ein Mythos. Ein Versuch
des barbarischen Westens, ein klein biss-
chen weniger armselig auszusehen – also
im Vergleich zu China. lea deuber

von cerstin gammelin

Berlin – Bundesfinanzminister Olaf
Scholz (SPD) plant im Falle einer wirtschaft-
lichen Krise mit einem milliardenschwe-
ren Konjunkturpaket. Deutschland sei in
der Lage, „mit vielen, vielen Milliarden da-
gegenzuhalten, wenn tatsächlich in
Deutschland und Europa eine Wirtschafts-
krise ausbricht“, sagte Scholz am Dienstag
im Bundestag in Berlin. „Wir werden es
dann auch tun“, fügte er hinzu. Aber dafür
müsse eine tiefe Krise erst einmal da sein.
Scholz stellte am Dienstag seinen Ent-
wurf für den Bundeshaushalt 2020 sowie
die Finanzplanung bis 2023 vor. Wie im Ko-
alitionsvertrag vereinbart, plant Scholz, al-
le Vorhaben ohne neue Kredite zu finanzie-
ren. Er lege einen „soliden Haushalt vor,
der ohne neue Schulden auskommt“. Der

SPD-Politiker, der sich um den Co-Vorsitz
seiner Partei bewirbt, verteidigte die
schwarze Null. Die solide Finanzplanung
habe die Grundlage dafür geschaffen, dass
die Bundesregierung in einer schweren Kri-
se handeln könne. „Denn da wird es schon
sehr auf uns ankommen als größte Volks-
wirtschaft mitten in der Europäischen Uni-
on, ob wir eigentlich einer sich ins Negative
wendenden Konjunktur etwas entgegen-
halten können.“
Seit einem guten Jahr haben sich die
wirtschaftlichen Aussichten für Deutsch-
land und die Euro-Zone insgesamt ver-
schlechtert. Der Internationale Währungs-
fonds IWF hatte die Wachstumsprognose
dreimal nach unten korrigiert. Die Wirt-
schaft ist im zweiten Quartal ganz leicht ge-
schrumpft; Unternehmen melden weiter
sinkende Auftragseingänge. Zunächst wa-

ren die Wirtschaftsexperten davon ausge-
gangen, dass die Konjunktur im Laufe des
Jahres wieder anziehen werde. Die Unsi-
cherheiten um den Brexit sowie die andau-
ernden Handelsstreitigkeiten zwischen
den USA und China lassen jedoch viele In-
vestoren zögern. Zudem ist unklar, ob und
wann die Europäer mit den USA über ein
Handelsabkommen verhandeln können.
In Deutschland sind inzwischen Forde-
rungen nach einem großen Konjunkturpa-
ket laut geworden. Die Grünen wollen eine
verbindliche Investitionsregel im Grundge-
setz festschreiben. Die FDP will mehr inves-
tieren in Zukunftstechnologien. Aus Itali-
en kommen Forderungen, Berlin solle mit
einem Milliardenpaket auch der schwä-
chelnden Konjunktur in Europa helfen.
Scholz betonte, die Bundesregierung
könne und werde sich einer Krise aktiv ent-

gegenstellen. Allerdings sei es gegenwär-
tig so, „dass wir zwar eine abschwächende
Konjunktur haben, aber unverändert lau-
ter Symptome, die nichts mit einer Krise,
zu tun haben, die nach unten marschiert“.
Es herrsche Mangel an Fachkräften.
„Wenn ein paar Hunderttausend Arbeit-
nehmer mit guter Qualifikation an den
richtigen Türen klopften, würden sie alle
morgen früh eingestellt“, sagte er. In der
Baubranche seien unverändert Kapazitä-
ten überausgelastet. „Wenn man in
Deutschland 400 000 Wohnungen im Jahr
bauen will, wenn man die Infrastruktur so
weiter entwickeln will, dann brauchen wir
größere heimische Kapazitäten“.
Scholz forderte Deutschland auf, eine
Vorreiterrolle im internationalen Klima-
schutz anzustreben. Das sei nötig, „weil
wir es können“, sagte er.  Seiten 4 und 5

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HEUTE


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Italiens Senat stimmt


über Regierung ab


Frankfurt – Nach dem tödlichen SUV-Un-
fall in Berlin drücken deutsche Automana-
ger ihr Bedauern aus, widersprechen aber
der Kritik an den Geländewagen. „Sehr vie-
le Kunden mögen die souveräne Fahrpositi-
on, vor allem Frauen schätzen das“, sagte
Daimler-Chef Ola Källenius auf der Bran-
chenmesse IAA. „Wenn SUVs verboten wer-
den, was verbieten wir als nächstes?“, sag-
te Elmar Degenhart, Chef des Zulieferers
Continental. Die Konzerne verweisen auf
die Nachfrage durch die Kunden. SUVs ver-
kaufen sich sehr gut. Das Segment der klei-
neren Geländewagen wird laut Opel-Chef
Michael Lohscheller weiter wachsen. „Die
Kunden fragen insbesondere diese kleinen
SUVs stark nach“, sagte er. Der Finanzchef
von BMW, Nicolas Peter, betonte, der Kon-
zern setze nicht nur auf SUVs. Der Konzern
aus München sehe auch bei den flacheren
Autos Wachstum und investiere „beidbei-
nig“ in SUVs und Limousinen. „Wir setzen
überhaupt nicht auf eine Karte“, sagte Pe-
ter. Zuvor hatte bereits der Automobilclub
ADAC gesagt, er halte ein Verbot von SUV
weder für umsetzbar noch für sinnvoll. Die
Autokonzerne müssen sich auf der IAA au-
ßerdem den Umweltschützern stellen. Kli-
maaktivisten haben Proteste angekün-
digt. Die Branchenmesse hat am Dienstag
mit Presseterminen begonnen, die Publi-
kumstage der Frankfurter Messe begin-
nen am Samstag. sz  Wirtschaft

Nach Auflösung des Frühnebels scheint
die Sonne, und es wird bei 18 bis 24 Grad
meist freundlich. Später ziehen im Nord-
westen, im Westen und in den Alpen dichte
Wolken auf und bringen örtlich Regen-
schauer.  Seite 13

NEUESTE NACHRICHTEN AUS POLITIK, KULTUR, WIRTSCHAFT UND SPORT


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Von der Leyen beruft drei mächtige Stellvertreter


Die Vizepräsidenten der EU-Kommission sollen sich um Klimaschutz, Digitalisierung, Wirtschaft und Soziales kümmern


Wer hat’s erfunden?


Forscher behaupten, dass Englisch ein chinesischer Dialekt sei


Scholz: Gerüstet für möglichen Abschwung

Der Bundesfinanzminister verteidigt den geplanten Haushalt für 2020 und die schwarze Null.


Im Falle einer Krise könne Deutschland „mit vielen, vielen Milliarden dagegenhalten“


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Trauer um


Fotograf Robert Frank


Schäuble dankt Ungarn


für Grenzöffnung


24 °/5°


Manuela Schwesig zieht sich wegen


einer Krebserkrankung aus der


SPD-Spitze zurück. Ihr Auftritt zeigt,


wie sich der Umgang mit Krankheit


in der Politik verändert hat


 Thema des Tages


FOTO: DPA

FOTO: M. POPOW/IMAGO

Dax▲


+ 0,37%

Dow▼



  • 0,37%


Euro▼



  • 0,


Voll verstimmt: Altenstadt und der Ortsvorsteher von der NPD Die Seite Drei


Automanager


verteidigen SUVs


Deutsche Hersteller wehren
sich gegen Kritik

(SZ) „An den Händen beiden / ließ er sich
nicht schneiden / seine Nägel fast ein Jahr.
/ Kämmen ließ er nicht sein Haar. / Pfui!
ruft da ein jeder: Garst’ger Struwwelpe-
ter!“ Der Arzt Heinrich Hoffmann, der vor
nun 125 Jahren diese Welt verließ, ahnte
nicht, dass seine Schöpfung, eben der
Struwwelpeter, noch im 21. Jahrhundert
Kindern vorgelesen würde. Kaum weniger
lang hat es bis zur Erkenntnis gedauert,
dass seine „Und die Moral von der Ge-
schicht“-Bilderstorys, in denen die garsti-
ge Jugend mit Tinte geschwärzt, vom
Hund gebissen oder vom Wind fortgetra-
gen wird, nicht die Mutter der schwarzen
Pädagogik, sondern voller Ironie und Sati-
re sind. Die Rohrstockdidakten, die seit
Wilhelm I. den Verfall von Zucht und Diszi-
plin beklagten und beklagen, haben das na-
türlich niemals erkannt, wenn sie ihre
Schüler zur Abschreckung mit dem „Struw-
welpeter“ traktierten. Deshalb geschah es
der Stahlhelmpädagogik mehr als recht,
dass ihr britische Zeichner 1941 mit „Struw-
welhitler – A Nazi Story Book by Doktor
Schrecklichkeit“ den Spiegel vorhielten.
Die DDR übrigens schuf sich einen eigenen
Struwwelpeter, um junge Genossen vor
den Irrwegen westlicher Dekadenz zu war-
nen: „Und noch mitternächtlich spät /
hockte Frank vorm Bildgerät.“
Aber hätten es der Struwwelpeter, das
zündelnde Paulinchen und der Zappelphi-
lipp, kämen sie heute zur Welt, besser ge-
troffen? Gewiss, man würde dem Konrad
fürs Daumenlutschen nicht mehr die Dau-
men abschneiden, jedenfalls solange die
AfD keinen Kultusminister stellt. Mit dem
strengen Nikolas hingegen, der die drei bö-
sen Knaben zur Strafe in ein Fass voll
schwarzer Tinte tunkt, könnten jene schon
mehr anfangen, die sich zur Welterzie-
hung berufen fühlen. Ihr Bestreben ist es
ja, alle Zwischentöne zu übermalen, als sei-
en sie für unkorrekt erklärte Verszeilen an
einer Berliner Hochschulwand. Struwwel-
peters antiautoritäres Gebaren legitimiert
ihn nämlich noch lange nicht als Teil der
Belehrungsbewegung. Hey, ’68 ist lange
her. Wo, bitte, ist auf Struwwelpeters Po-
dest Platz für die Struwwelliese? Schon
sein rötliches, kleidartiges Gewand und sei-
ne Frisur künden von völliger Verkennung
des Genderkampfes, wenn nicht gar ein
empörender Fall kultureller Aneignung
vorliegt: Seine Tracht gleicht verdächtig je-
ner von Einwohner*innen mittelöstlicher
Länder. Und ohne Zweifel trägt „der Friede-
rich, der Friederich“ („das war ein arger
Wüterich“) alle Züge toxischer Männlich-
keit, die uns heute so verstören und am Sys-
tem zweifeln lassen, in dem wir leben.
Den „Struwwelpeter“ schrieb Heinrich
Hoffmann übrigens, weil er die Kinderbü-
cher seiner Zeit so lachhaft fand: „Alberne
Bildersammlungen, moralische Geschich-
ten, die mit ermahnenden Vorschriften be-
gannen und schlossen.“ Leider wird man
niemals erfahren, was sein Struwwelpeter
heute wohl anstellen würde.

DAS WETTER



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NACHTS

„Ich habe schon


einige Kämpfe


in meinem


Leben geführt“


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