S_252_ddeutsche_Zeitung_-_11_09_2019

(vip2019) #1
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Das Wehklagen über eine brüchig geworde-
ne Privatsphäre in einer Welt des perma-
nenten Trackings, wo an jeder Ecke Kame-
ras und Mikrofone lauern, ist schon etwas
älter. Die Tatsache, dass mittlerweile auch
Mitarbeiter von Google, Amazon und
Apple Audiomitschnitte von Nutzergesprä-
chen analysieren und sogar im Schlaf-
zimmer mithören, hat jedoch allenfalls
unter Datenschützern für einen Aufschrei
gesorgt. Von der Mehrheit der Verbraucher
werden solche Meldungen mit Gleichgül-
tigkeit zur Kenntnis genommen. „Sollen
sie doch spähen, ich habe nichts zu verber-
gen!“, ist der häufigste Biedersinn-Reflex,
den man zu hören bekommt, gefolgt von
dem fatalistischen Satz: „Die wissen eh
schon alles über mich!“ Die Erosion der Pri-
vatsphäre wird erstaunlicherweise kaum
als Verlust bürgerlicher Werte wahrgenom-
men, sondern eher als bewusste Verzichts-
erfahrung eines bestimmten Lifestyles.
Die Anhänger der Post-Privacy-Bewe-
gung argumentieren, dass Privatsphäre ei-
ne überkommende Idee aus der analogen
Welt sei. Dementsprechend können Daten
auch gar nicht geschützt werden. Der Goo-
gle-Entwickler Vint Cerf, einer der Väter
des Internets, sagte einmal, bei Privat-
sphäre könne es sich historisch betrachtet
um eine Anomalie handeln. Facebook-
Chef Mark Zuckerberg sekundierte, dass
Privatsphäre nicht mehr länger die „sozia-
le Norm“ sei, um in einer seiner vielen
opportunen Volten eine „Vision“ für Privat-
sphäre zu verkünden (ironischerweise
überklebt er selbst die Kamera seines
Notebooks).
Was aber ist kulturell betrachtet die
Norm? Überwachung? Oder Privatheit?
Das Konzept der Privatsphäre ist kaum
älter als 200 Jahre. Die Privatsphäre erleb-
te ihre Geburtsstunde in den Großstädten
im späten 18. Jahrhundert, als das zu
materiellem Wohlstand gelangte Bürger-
tum sich von den unteren Schichten nicht
nur habituell, sondern auch räumlich sepa-
rieren wollte. Das Bürgertum wollte sich
mit der einsetzenden Industrialisierung

vom Gestank der Fabriken, vom Getöse
der Metropolen abgrenzen.
Der amerikanische Anthropologe Dou-
glas Raybeck, der Privatsphäre in verschie-
denen Kulturen erforscht hat, argumen-
tiert, dass der technische Katalysator die
Erfindung des Kamins beziehungsweise
des Schornsteins war. „Zuvor schliefen die
Haushaltsmitglieder im gleichen Raum
mit einer Zentralheizung, die durch ein
Loch darüber abzog“, erklärt er. „Selbst
wohlhabende Menschen schliefen nahe ih-
rer Diener – und manchmal auch mit ihren
Tieren. Mit Kaminen kam die Möglichkeit
für Trennung und Privatsphäre, speziell
für Reiche.“ Damals war Privatheit eine
Klassenfrage: Während die Betuchten in
ihren privaten Wohnstuben mit mehreren
Schlafgemächern fernab der Blicke der
Öffentlichkeit lebten, musste sich das
Lumpenproletariat in den Mietskasernen
eine kleine Wohnung teilen. Privatsphäre
war schon raumtechnisch unmöglich. Was
zeigt, dass Privatsphäre und Architektur
miteinander zusammenhängen.
In dörflichen Umgebungen, wo Sozial-
strukturen homogener sind und die Inter-
aktionsdichte zwischen den Bewohnern
traditionell hoch, ist es schwieriger, ein
Privatleben zu führen. Im Dorf kennt jeder
jeden. Man kann sich nicht so einfach aus
dem gesellschaftlichen Leben ausklinken
(und wenn, dann nur mit hohen Kosten wie
sozialer Ächtung). Anthropologe Raybeck
hat bei seiner Feldforschung in Dörfern im

malaysischen Bundesstaat Kelantan her-
ausgefunden, dass die Bewohner – meist
Reisbauern – der Privatsphäre als einem
bürgerlichen Konzept westlicher Gesell-
schaften ablehnend gegenüberstehen. Das
Wort „sembunyi“, das der Privatsphäre
semantisch am nächsten kommt, heißt
übersetzt „versteckt“ oder „geheimnis-
voll“ und impliziert ein Verbergen von In-
formationen auf der sozialen Bühne. Der
Wortstamm „bunyi“ bedeutet Geräusche,
sowohl natürliche als auch gesprochene.
Diese auditive Konzeption von Abkapse-
lung wurzelt in der räumlichen Struktur
des Dorfes.
Die Menschen wohnen in Pfahlbauten
auf hölzernen Stehlen, deren Wände aus
Pandanus-Matten bestehen. Die traditio-
nelle Architektur erlaube zwar visuelle,
aber keine auditive Privatsphäre. Denn die
Konstruktion der Holzhäuser bringt es mit
sich, dass man Streitigkeiten im Nachbar-
haus jederzeit mitbekommt. Trotzdem
gibt es Hinterbühnen wie etwa Bars, wo
Alkohol ausgeschenkt wird (in dem streng
islamischen Bundesstaat ist Alkohol verbo-
ten) und die von Bewohnern wie Prostitu-
ierten frequentiert wird. Die gegenseitige
Sichtbarkeit, so Raybecks Erfahrung, sei
eine Art Versicherung, weil ein Dorfbewoh-
ner ja keine Geschichten von nächtlichen
Barausflügen erzählen kann, ohne sich
dabei selbst zu verraten. Sozialkontrolle
funktioniert reziprok. Raybeck schließt
aus seinen Studien, dass alle Kulturen für

sich eine graduelle Rückzugsmöglichkeit
beanspruchen und Privatheit in ihrer jewei-
ligen kulturellen Ausprägung eine anthro-
pologische Konstante ist.
Die Frage ist, ob es in einer Welt ubi-
quitärer Überwachungstechnologien noch
solche Hinterbühnen gibt. Und ob wir so
etwas wie eine Reruralisierung der Gesell-
schaft erleben. Man muss im digitalen
Zeitalter ständig seine Türe öffnen, um
Kontrolleure ins Haus zu lassen, sonst
kann man an der vernetzten Gesellschaft
gar nicht teilhaben. Amazon hat zum Bei-
spiel ein Patent für einen smarten Kühl-
schrank angemeldet, der mithilfe von Sen-

soren und Kameras verdorbene Lebensmit-
tel erkennt. Der Sensor identifiziert chemi-
sche Verbindungen, die bei der Oxidation,
Fermentation oder Reifung entstehen, wie
etwa Ethylen oder Aldehyde. Amazon weiß
also, wer Milch im Kühlschrank verderben
lässt und wer ein Messie ist. Ein Stuben-
gang ist in einer postdisziplinarischen Ge-
sellschaft gar nicht mehr nötig.
Wissenschaftler der Universität Carne-
gie Mellon haben unlängst ein Amazon-
Echo-Gerät mit einem Radarsystem aus-
gestattet, mit dem es möglich sein soll,
Gesten und Objekte im Raum zu erkennen.
Theoretisch könnte das System Waffen
erkennen und dies der Polizei mitteilen.
Die künstlich intelligenten Sozialkontrol-
leure sind ständig im Haus. Die Apple-Mit-
arbeiter hörten in den Siri-Sprachaufzeich-
nungen sogar Sex und Drogendeals.
Die Saint Louis University hat wieder-
um ihre Wohnheime mit Echo-Lautspre-
chern ausgestattet, damit die Studieren-
den Fragen über das Campusleben stellen
können. Überwachtes Lernen, das man im
Kontext von KI kennt, bekommt hier eine
ganz neue Bedeutung. Der Verlust von Pri-
vatsphäre führt dazu, dass auch das Leben

und bestimmte Rollenbilder dörflicher
werden, wie in einer vormodernen Gesell-
schaft. Jeder kennt jeden, seine Frauen-
geschichten, Eskapaden, Krankenakten,
berufliche Situation und so weiter. Es gibt
Stämme, Pranger, Herdentriebe.
In traditionellen Gesellschaften, erklärt
der Hamburger Soziologe Nils Zurawski,
gebe es zwar noch Geheimnisse, doch mit
dem Wegfall von Herrschaft keine Notwen-
digkeit mehr, über die persönliche Scham
hinaus private Bereiche gegen eine Herr-
schaft abzustecken. Alles ist transparent,
alles hör- und sichtbar, Kommunikation
ein einziges Hören- und Weitersagen. So-
lange es aber Machtstrukturen in einer ka-
pitalistischen Welt gibt, bräuchte es eine
Gegenwehr, auch in Form von Privatsphä-
re. Das Problem sieht der Soziologe nicht
im mangelnden Schutz der Daten, sondern
darin, dass Facebook & Co „unsere Lebens-
welten kolonisieren, dass wir komplett in
einer Conditio digitalis leben und uns die
Alternativen ausgehen.“
Man fühlt sich ja häufig dabei ertappt,
dass Algorithmen einem dieses oder jenes
Produkt empfehlen, worüber man gerade
mit Freunden gesprochen hat, als hätte
das im Smartphone integrierte Mikrofon
heimlich mitgelauscht. Man muss aber –
und das ist der Kniff einer postpanopti-
schen Wissensarchitektur – keine Gesprä-
che mehr abhören oder in Wohnungen
hineinschauen, um die innersten Wünsche
von Individuen zu erfahren. Es reichen sta-
tistische Verfahren und hinreichend viele
Datenpunkte, um zu wissen, was der Ein-
zelne als nächstes tun wird. Diese mathe-
matische Bestimmungsmacht lässt sich
auch nicht mit dem Verweis auf Vorhänge
oder den Verzicht auf Alexa einhegen, weil
sie die digitale Existenz penetriert. Und
das macht es auch so schwer, sich räumlich
davon abzugrenzen. Mit internetfähigen
Geräten wächst also eine Generation her-
an, die keine Wahl mehr hat, ob sie ihre
Hinter- oder anderen Türen öffnet oder
nicht – und damit ein großes Stück Frei-
heit verliert. adrian lobe

Mehr als zehn Jahre sind vergangen, seit
die Stadt L’Aquila in den Abruzzen von ei-
nem Erdbeben erschüttert wurde, das vor
allem das historische Zentrum traf. Es dau-
erte Jahre, bis die Rekonstruktionen in
Gang kamen. Dann jedoch verwandelte
sich die Altstadt in eine gewaltige Baustel-
le. Die historischen Fassaden ganzer Stra-
ßenzüge sehen jetzt neu aus, bei einigen Pa-
lazzi sind sogar die Innenhöfe wieder be-
gehbar. Der Dom allerdings, mit seiner ein-
gestürzten Vierung, befindet sich ebenso
noch im Zustand des Jahres 2009 wie die
Kirche Santa Maria Paganica. Dennoch
wird am kommenden Wochenende die Jah-
reskonferenz des italienischen Ministeri-
ums für Kunst- und Kulturschätze in
L’Aquila tagen, und es gehört nicht viel pro-
phetischer Sinn dazu, um vorherzusagen,
dass man mit den Fortschritten des Wie-
deraufbaus halbwegs zufrieden sein wird.
Mindestens zehn Jahre wird es, den ge-
genwärtigen Takt des Wiederaufbaus vor-
ausgesetzt, wohl noch dauern, bis die Fol-
gen des Erdbebens nicht mehr zu sehen
sind. Dass die dann rekonstruierte Stadt
ein völlig anderes Gemeinwesen sein wird,
ist allerdings schon zu erkennen: Zwar gibt
es Geschäfte, die in das Zentrum zurückge-
kehrt sind. Doch es handelt sich vor allem
um Gastronomie und um Läden des tägli-
chen Bedarfs, von denen die Arbeiter der
Baustellen und die Studenten der teilweise
zurückgekehrten Universität tagsüber mit
dem Nötigsten versorgt werden. Schon ein
paar Schritte weiter ist man in den Gassen
so allein, dass die Schritte widerhallen. Die
Farben der rekonstruierten Gebäude sind
vermutlich dieselben wie die alten – den-
noch sehen sie anders aus. Ein Geruch von
Kalk oder Gips liegt in der Luft. Etwa zwan-
zigtausend Einwohner hatte die Altstadt
vor dem Erdbeben. Jetzt sind es ein paar
hundert Menschen, vielleicht tausend, was
keiner so genau weiß. Am Wochenende je-
denfalls, wenn die Bauarbeiter und Studen-
ten nach Hause gefahren sind, ist, abgese-
hen vom Sonntagvormittag vor den Kir-
chen, fast niemand zu sehen.
Wenige Monate nach dem Erdbeben be-
gann man, im Tal unterhalb von L’Aquila
Siedlungen zu bauen, um die obdachlos ge-
wordene Bevölkerung aufzunehmen:
schnell, mit einfachen Mitteln, ohne große
Ansprüche an die Architektur. Eigentlich
nur als Provisorium gedacht, bilden diese
Siedlungen längst eine Agglomeration, so
wie es sie in der Peripherie vieler Großstäd-
te gibt. Die Menschen haben sich dort ein-
gerichtet, auch wenn sie nun anders leben,
als sie es vorher taten: in Abhängigkeit von
einem Automobil, ohne die alte urbane In-
frastruktur. Eingekauft wird im Super-
markt vor der Stadt. Unwahrscheinlich
wirkt der Gedanke, diese Menschen wür-
den in die Altstadt zurückziehen, wenn de-
ren Rekonstruktion einst vollendet sein
sollte. Ihre Erinnerungen werden verblas-
sen. Und irgendwann wird es auch keine
Nostalgie mehr geben.
Man versteht den Impuls, der nach je-
der Naturkatastrophe in Italien sagt: Es
soll werden, wie es war. Aber diese Rück-
oder Wiederkehr ist eine Schimäre. Anders
gesagt: Selbstverständlich wird es eines Ta-
ges eine neue Altstadt geben. Aber sie wird
erst dann wieder Altstadt sein, im eigentli-
chen Sinn, wenn es niemanden mehr gibt,
der sagen könnte, früher sei es hier schö-
ner gewesen. thomas steinfeld

Das elektronische Dorf


Das Leben im Netz erinnert mit seiner extremen Transparenz erstaunlich deutlich an das Leben auf dem Land vor langer Zeit


von nadia pantel

D

ie ersten Tränen fließen, noch be-
vor Taylor Swift am Montagabend
die Bühne betreten hat. „Ja, ich bin
jetzt drin!“ Einer extra aus Deutschland an-
gereisten Frau bricht die Stimme, als sie
am Handy die frohe Kunde nach Hause
übermittelt. Dreizehn Stunden Autofahrt,
dann einen Tag lang auf dem Boulevard
des Capucines Schlange stehen, bis sich
die PR-Menschen schließlich erbarmen.
Die vier Mitglieder des Swift-Fanklubs aus
Norddeutschland kriegen gelbe Bändchen
ums Handgelenk. Sie dürfen sich zu den
2000 Personen zählen, die an diesem
Abend unter den Ersten sind, die das neue
Album der Amerikanerin live hören.
Der Name des Popstars steht in riesigen
roten Leuchtbuchstaben an der Fassade
des Olympia. Hier haben sie alle gespielt:
Edith Piaf, Louis Armstrong, David Bowie,
dieRolling Stones.Mit ihren zehn Gram-
mys kann sich Swift entspannt in diese Rei-
he einschreiben. Und sie tut es so swifthaft
wie gewohnt. Die anderen vor ihr waren Le-
genden, sie ist zusätzlich noch beste Freun-
din. Tickets für das Konzert konnte man
nicht kaufen, man besorgte sie sich mit der
Swiftwährung: Liebe und Hingabe. Im
Olympia sollen an diesem Abend nur Men-
schen stehen, die entweder sehr lange vor
der Tür gebettelt oder unermüdlich an Ra-
dioverlosungen teilgenommen haben.

„Ich würde für sie Dinge tun, die würde
ich nicht mal für meine Familie tun“, sagt
ein 20-Jähriger, und seine Konzertpartne-
rin presst ihre Hände an den Brustkorb,
um all ihre Gefühle in den Griff zu bekom-
men: „Sie ist einfach unnormal nett.“
Swift, sagen sie, sei „wie eine Droge“,
„wenn sie mal länger nichts postet auf
Instagram, kriege ich Entzugserscheinun-
gen“. Ganz nah und unerreichbar: Im ech-
ten Leben führt diese Kombination zu
bitterstem Liebeskummer, Swift hat mit
diesem Rezept mehr als 50 Millionen Al-
ben verkauft.
Als sie auf die Bühne tritt, beginnt nicht
nur der ganze Saal zu schreien, die Fans
leuchten sogar. Möglich macht es das
Spezialarmband, das jeder am Einlass um-
geschnallt bekommt und auf dem LED-
Lichter zum Klang von Swifts Stimme die
Farbe wechseln. So hat jeder ein kleines
Stückchen blinkende Swift, ganz für sich al-
lein. Dieses Armband ist auch deshalb eine
gute Idee, weil ohnehin alle ständig die
Hände in die Luft halten, um das Konzert
von Anfang bis Ende zu filmen. Dank der
Leuchtdeko neben den Displays sehen die
Handys ein bisschen weniger profan aus.
„City of Lover“ hat Swift diesen Pariser
Abend genannt. Nicht die Stadt der Liebe
also, sondern die Stadt von „Lover“, ihrem
neuen Album. Schließlich bekommt alles,
was Swift anfasst, den Markenstempel des
Taylor-Universums. Paris ist heute also ih-
re Stadt, und was das bedeutet, hat sie be-
reits im Musikvideo zu ihrer Single „ME!“
klargemacht. Dort tanzt die Sängerin
durch eine am Computer gebastelte Paris-

kulisse in Pastellfarben. Alles ist Liebe, Lie-
be, Liebe.
Wenn man in Paris lebt, wird man ja
schnell zu einem Garstbold, der applaudie-
rend daneben steht, wenn die Stadtreini-
gung mal wieder ein paar herzchenverzier-
te Vorhängeschlösser von den Brücken
flext. Swift, ganz Amerikanerin, hält sich
mit solchen Zynikern nicht auf. Ihr Paris
ist voller Regenbögen, Schmetterlingen,
Katzenbabys und Menschen, die mit Re-
genschirmen durch die Luft fliegen, weil
sie so glücklich sind.

Das Überraschende an ihrem Konzert
ist, dass all der Zuckerguss nach ziemlich
harter Arbeit aussieht, wenn sie ihn live
auf der Bühne vorführt. Jede ihrer Bewe-
gungen ist exakt, kein Hüftschlenker über-
flüssig, jedes Lächeln kontrolliert gesetzt.
Sie vereint den harmlosen Mädchen-
charme, der sie groß gemacht hat, mit dem
Auftritt einer Frau, die so wirkt, als träfe
sie alle Entscheidungen selbst.
Der Nachhauseweg auf dem Fahrrad
führt am Eiffelturm vorbei. Schriftsteller
Guy de Maupassant soll oft genau neben

dem Bauwerk zu Mittag gegessen haben.
Weil er den Turm so schrecklich fand. Er
wird zitiert mit dem Satz: „Es ist die einzi-
ge Stelle, von wo aus ich ihn nicht sehe.“
Nach der einstündigen Popinfusion im
Olympia ist der Blick auf den Turm ein an-
derer. Die Gedanken reichen gerade noch
für ein „Oh, wie schön er glitzert“, bevor
man sich gezwungen sieht, weiter Taylor-
Swift-Songs zu summen. Das Hirn will pro-
testieren, doch die Füße strampeln zum
Rhythmus des Rausschmeißerhits: „Ha-
ters gonna hate, hate, hate, hate, hate.“

Solange es kapitalistische
Machtstrukturen gibt,
ist Privatsphäre auch Gegenwehr

Eiffelturm mit Katzenbabys


Ihre Währung ist Hingabe: Vor 2000 handverlesenen Hardcore-Fans präsentiert


Taylor Swift im Pariser Olympia ihr neues Album „Lover“


Unvermittelt mit von monotoner Akus-
tikgitarre grundierten Klagegesängen,
wie von einem verstimmten Cyborg –
so beginnt das neue Album von Alexan-
der Giannascoli, „House of Sugar“ (Do-
mino). Es ist bereits die achte Platte des
26-jährigen Songwriters aus Philadel-
phia, der unter dem Namen (Sandy)
Alex G auftritt. Grunge-Stimmung,
Indie-Folk-Einflüsse, Lofi-Homerecor-
ding-Sound, dabei aber eine ausgefeilte
Konstruktion und Abmischung der
Songs – hier ist merkwürdig gleichbe-
deutend mit bemerkenswert. Ins Extra-
terrestrische manipulierte und kunst-
voll geschichtete Gesangs-Loops treffen
auf schmutzige, catchy Gitarrenriffs,
dann quaken wieder Synths wie aus
einem Vaporwave-Track über einen
verstolperten Breakbeat. Und Alex kann
lyrischen Minimalismus: Er wiederholt
etwa immer wieder
die verunsichern-
den Worte „Some-
day I’m gonna walk
away from you /
Not today“. Wenn
das mal keine Dro-
hung ist.

Viel smoother dagegen die Musik der
britischen Indie-Popper von Metrono-
my , die man im 21. Jahr ihrer Existenz
wohl schon Veteranen nennen kann.
Funky Basslines paaren sich hier mit
genau dosiert pumpenden Drums, apar-
ten Elektronikklängen – und gelegentli-
cher Schrammelgitarre, wobei letztere
dank einer stets artig arty bleibenden
Soundästhetik nichts Kontaminieren-
des an sich haben. Die Weste auf der
Dandyparty bleibt weiß. Die Hooklines
sind so nett, dass sie einen ebenso
schnell einfangen, wie sie einen am
Ende jedes Songs wieder vom Haken
lassen. 17 Songs sind es auf dem neuen
Album „Metrono-
my Forever“ (Becau-
se Music). Ziemlich
viele. Kurzum, das
ist alles ziemlich
makellos sexy. Aber
eher ein One Night
Stand.

Zweifellos echte Veteranen sind die
Pixies , auch wenn Kim Deal seit 2013
leider nicht mehr Teil der Band ist. Die
Aufnahmen zu ihrem neuen Album
haben sie als Podcast dokumentiert, so
dass man die Entstehung der Songs
verfolgen konnte. Die musikalische
Variante der gläsernen Backstube hip-
per Biobäckereien also. Ob diese Ver-
marktung Schule macht? Der Opener
„In The Arms Of Mrs. Mark Of Cain“
schnurrt ziemlich uninspiriert ab, wes-
halb man zunächst nichts Gutes be-
fürchtet. „Spätwerke“ von Bands, die in
ihrer besten Zeit stilbildend waren, sind
ein heikles Genre. Die Pixies haben
einst gezeigt, wie man verschrobenen
Außenseiter-Rock mit der funkelndsten
Pop-Eingängigkeit verbinden kann,
und dabei mit „Hey“ einen der größten
Songs aller Zeiten mit einer der besten
Basslines aller Zeiten geschrieben. Aber
es kann Entwarnung gegeben werden:
So öde wie der Beginn sind die folgen-
den elf Lieder nicht. Wenn man mit
„Beneath The Ey-
rie“ durch ist, hört
man trotzdem lie-
ber gleich noch
dreimal „Doolittle“
von 1989, damit der
Glanz in die Augen
zurückkehrt.

Belle and Sebastian gibt es auch noch.
Eigentlich haben sie sogar erst im ver-
gangenen Jahr ein Album veröffent-
licht. Man hatte sie irgendwie trotzdem
vergessen. Doch nun kommt „Days Of
The Bagnold Summer“. Pünktlich zum
Herbstbeginn. Es handelt sich um den
Soundtrack zur 2020 erscheinenden
Verfilmung eines Comics gleichen Na-
mens. Ein Coming-of-Age-Film, in dem
es um eine Mutter und ihren Sohn geht,
der Thrash Metal vergöttert. Insofern
passt die Wahl von Belle and Sebastian
für den Soundtrack hervorragend: Herz-
allerliebstes Gezirpe von der Hochglanz-
klampfe eröffnet den Reigen, es folgen
zwölf zeitlose Belle
and Sebastian-Lie-
der, schunkelnd
zwischen Simon &
Garfunkel-Geträu-
me und elaborier-
tem Easy-Listening
für Indie-Feen.

Auch im Video zum neuen Song von
Jenny Hval , „Accident“, geht es um
Mutterschaft. Über einer verträumten
Synthie.Melodie singt Hval „She found
stretch mark cream in an Airbnb ba-
throom. It was just cream. Rubbing it on
her belly, she felt nothing.“ („Sie fand
Dehnungsstreifencreme in einem
Airbnb-Badezimmer. Es war nur Cre-
me. Sie rieb sich den Bauch damit ein
und fühlte nichts.“) Dies wird pantomi-
misch von der Mutter der Regisseurin
des Videos, Zia Anger, dargestellt, bevor
man durch ein Licht in ihrem Mund in
eine Parallelwelt eintaucht, in der ein
Waschbecken überläuft. Daraufhin
dringt die Kamera in ein weiteres Licht
zwischen den Beinen der Mutter in eine
steinige Höhle ein, eine, eh, Tropfstein-
höhle. Dazu singt Hval klar und lieblich,
dass sie nur ein Unfall war. Wie man das
deutet? Feiert das Video mütterliche
Sexualität? Sind Tropfsteinhöhlen ge-
mütlicher als Airbnbs? Will Anger nur
zeigen, dass ihre Mama echt gut in
Pantomime ist? Wir werden es wohl nie
erfahren. juliane liebert

An den Armen der Besucher
wechseln LED-Lichter zum Klang
von Swifts Stimme die Farbe

DEFGH Nr. 210, Mittwoch, 11. September 2019 (^) FEUILLETON 11
Die Erforschung mangelnder Rückzugsmöglichkeiten: Dorf in Indonesien. FOTO: IMAGO
POPKOLUMNE SCHAUPLATZ L’AQUILA
Die neue
Altstadt
Sie sei „unnormal nett“, erklären Fans ihre Begeisterung für Taylor Swift, hier zu sehen bei ihrem Auftritt in Paris.
„Wenn sie mal länger nichts postet auf Instagram, kriege ich Entzugserscheinungen.“ FOTO: DAVE HOGAN
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München

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