S_252_ddeutsche_Zeitung_-_11_09_2019

(vip2019) #1
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von hanna engelmeier

E

her ruhig war es in der Literatur
langeZeitumdieIdylle–wenigüber-
raschend hinsichtlich der Großwet-
terlage, aber auch dessen, was literarisch
interessant zu verarbeiten ist. Was soll
man schon erzählen, wenn alles in schöns-
ter Ordnung ist? Zuletzt stand ein Roman
in der Kritik, der eine mit Idylle garnierte
Geschichte wenig überraschend als ver-
drehte Dystopie erzählt: In Karen Köhlers
„Miroloi“ (Hanser-Verlag) widerfahren der
Protagonistin auf einer sogenannten
„Schönen Insel“ schreckliche Dinge. Die
Welt des Romans ist ebenso archaisch
gewaltvoll wie anheimelnd strukturiert.
Zur Diskussion stand besonders Köhlers
betontschlichter,fastkindlicherManieris-
mus sowie die Frage, ob das die geeignete
Form für eine emanzipatorische Selbstfin-
dungsgeschichte sei.

Raphaela Edelbauers Roman „Das flüs-
sige Land“ verhält sich in vieler Hinsicht
komplementär zu „Miroloi“. Die Erzähle-
rinistkeine15-jährigeUnschuldvonderIn-
sel, sondern eine 35-jährige, mit diversen
Psychopharmaka gedopte Hochleistungs-
physikerin, die kurz vor der Habilitation
steht. Nachdem Ruth Schwarz’ Eltern bei
einem Autounfall ums Leben kommen,
möchte sie zur Vorbereitung einer Anspra-
che bei ihrer Beerdigung deren Biografien
besser verstehen. Zu diesem Zweck macht
siesichvonWien ausaufin dieösterreichi-
sche Provinz, um in eine Region namens
Groß-Einland zu gelangen, in der ihre
Eltern aufwuchsen.
TiefindenWälderneinesnichtnäherbe-
zeichneten Teils des doch eigentlich nicht
so unübersichtlichen Österreichs stößt sie
schließlich auf ein Städtchen, dessen Flair
sie sich nicht entziehen kann: „Groß-Ein-
land war von unfassbarer Schönheit, ähn-
lich der Kulisse eines Mittelalterfilms, in
demdieHochphasedesHandwerksanma-
kellosen Fassaden entlang ausgewiesen
wird.“ Hier bleibt Ruth nun für sie selbst
überraschend mehrere Jahre, denn nicht
nur ästhetisch bewegt sie sich scheinbar in
der besten aller denkbaren Welten. Auch
sozial ist auf den ersten Blick alles in
Butter: „Jeder Bewohner besaß eine genau
bezifferte Bedeutsamkeit in diesem sozia-
len Gefüge, die man mit Händen greifen
konnte, dennsiewarhierarchischundwur-
de ihren Bedingungen nach meist offenge-
legt. Die einfachsten Verrichtungen hatten
etwas Magisches an sich.“
Weil wir uns aber in einem Roman für
die Großen und nicht in einem Pixie-Buch
fürdieKleinen befinden, stelltsich heraus,
dass die Heimeligkeit schwer zu überse-
hende Risse hat. Praktischerweise darf das
ganz wörtlich aufgefasst werden: Unter
Groß-Einland befindet sich ein riesiger
Hohlraum namens „das Loch“, der den Bo-
den destabilisiert, auf dem dieser unheim-

lich schöne Teil Österreichs erbaut ist. Ab
dem Moment, in dem das Ausmaß des
metaphorologischen Interesses Edelbau-
ers an diesem Loch deutlich wird, erhält
auch die Grenze zwischen Roman und
Pixie-Buch Groß-Einland-mäßige Risse.
Denn dieses Loch dient nicht nur den
BewohnernalsHalde,aufdersieihrenBau-
schuttverklappen,es dient auchdemBuch
dazu, seinen Plot in Richtung Vergangen-
heitsbewältigungauszudehnen. Es kommt
heraus, dass Groß-Einland, das von einer
schrecklich-jovialen Gräfin beherrscht
wird („Ich bin die Ulrike“, stellt sie sich
irgendwann vor), eine düstere Vergangen-
heit hat. Der Reichtum der Gräfin beruht
nämlichnichtzuletztaufderArbeitungari-
scher Zwangsarbeiter, die während des
Zweiten Weltkriegs für die Industriellen-
familie, der die Gräfin entstammt, ausge-
beutet und dann ermordet wurden. Das
Loch ist der Ort, an dem Groß-Einland sei-
ne Gewaltgeschichte verscharrt.
Wer Idylle sagt, muss Verdrängung
meinen: Dieser nicht ganz taufrische
Gedanke spielt sowohl bei Edelbauer, als
auch in Köhlers „Miroloi“ eine zentrale
Rolle.Köhlergreift aufeinen nervtötenden
Simplizissimus, Edelbauer auf einen ins

Schnörkelige driftenden Stil zurück, um
die Unerreichbarkeit einer heilen Welt
angemessenen poetisch abzubilden. Der
Abstand zum unterstellten Alltagserleben
des Publikums ist damit geschaffen. Es
fragt sich aber, ob ein Publikum, das den
Weg zu diesemBuch gefunden hat, aufklä-
rungsbedürftig beispielsweise hinsicht-
lich der Tatsache ist, dass es leider doch
keine Welt gibt, die frei von überzogenen
Ansprüchen an Habilitandinnen ist, dafür
aber voller sozialen Friedens und in gutem
EinvernehmenmitderhistorischenVerant-
wortung für den Faschismus.

Dass ihre Welt so gut nicht ist, erfährt
Ruth, als ihre Fähigkeiten als Physikerin in
Dienst genommen werden, um den Hohl-
raummithilfeeinesFüllmaterialszubefes-
tigen, das sie selbst erfindet. So erhält sie
Zugang zu Unterlagen über die Geschichte
des Ortes, in denen sie etwas über die un-
mittelbare Vorgeschichte des Todes ihrer
Eltern erfährt. Diese waren ebenfalls nach

Groß-Einland zurückgekehrt, um mehr
über dessen verleugnete Vergangenheit
herauszufinden, die offenbar stark mit
ihrer eigenen Biografie zusammenhängt.
Anhand der Tagebuchaufzeichnungen ei-
nes weiteren Groß-Einländers rekonstru-
iert Ruth, dass es sich bei ihren Großeltern
um Juden handelte.
Spätestens an dieser Stelle wird der Ro-
man, der von fiktiven Auszügen aus Ruths
HabilitationundArchivmaterialiendurch-
setzt ist, zu einer Zumutung selbst für gut-
gläubige und zugewandte Leserinnen und
Leser: Nun gut, es gibt da also dieses Loch


  • unklar, wie das statisch gehen soll, und
    warum die fast habilitierte Physikerin so
    zugeknöpft ist, was statische Details an-
    geht.Nun gut,schuldanallemistunteran-
    derem„dieUlrike“,undja,vermutlich,weil
    ihreFamiliemitdenNaziszusammengear-
    beitet hat, schlimm genug, man kennt das,
    dieHoffnungaufnähereAusführungenda-
    zu gibt man spät auf. Und okay, dieRisse in
    derErdesymbolisierendie RisseindenGe-
    wissheitenderErzählerin,vielHaltscheint
    siebeiihremCodein-Konsumnichtgehabt
    zu haben. Ihr nun aber auch noch jüdische
    Großeltern zu verpassen, die das Ausmaß
    an Involviertheit in die Geschichte Groß-


Einlands steigern, wirkt plotstrategisch
wohlfeil und historisch frivol.
Sowohl die Anbindung des Romans an
die Gegenwart, als auch an die Geschichte
ist äußerst lose gestrickt: Gegenwart wird
er durch seine eskapistische Grundanlage
los. Unter anderem stellt sich nach Ruths
Ankunftheraus,dassherrlichsteGlasfaser-
kabel unter Groß-Einland befindlich sind,
die aber niemand nutzen möchte. Kein In-
teresse am Internet, ihr Handy vernichtet
Ruth schon auf der Hinfahrt. Ein Super-
markt im Ort und ein Fernseher hingegen
stören keinen großen Geist, der Roman
schreitet antiquiert tönend voran. Die rea-
le Vergangenheit, insbesondere die des
Austrofaschismus und der Shoah, ist mit
denStichworten Mauthausen,KZ,Zwangs-
arbeiter abgesteckt, der Rest sind von
Edelbauer selbst erdachte Spezialmythen
ihres im verwunschenen Wald gelegenen
Horrorörtchens. Während es einerseits er-
frischend ist, dass es hier jemand mit dem
Ausdenkensoernstnimmt, wäreesaufder
anderen Seite erleichternd, wenn der Ein-
druckentstünde,dassessichmitderhisto-
rischen Recherche ebenso verhält.

Dass die einzige Heimat, die Ruth je ge-
kannt hat, nur als eine Art Albtraum Reali-
tät hat, wird ihr deutlich, als sie schließlich
den Absprung schafft und nach Wien
zurückkehrt: „Ich würde schon abends,
dachte ich, am Donaukanal sitzen, in die-
ser schnurgeraden Betoneinfassung des
Flusses, und Menschen aus allen Nationen
würden mit Lautsprechern und Dosenbier
inderHandanmirvorbeirinnen.Groß-Ein-
landwäremirnichtsmehralseinmerkwür-
diger Traum, wenn ich den Faden, wo ich
ihn verloren hatte, wieder ergriffe.“
EinevonvielenMenschenunterschiedli-
cher Herkunft, Traditionen und Ethnien
mehr oder weniger friedlich bewohnte
Großstadt ist hier die eigentliche Insel der
Seligen. Viel spricht dafür, dass dieser am
EndeangerufeneOrtdieGegenweltundso-
gar das Gegengift zu der Homogenisie-
rungsfantasie ist, die Edelbauer mit Groß-
Einland entworfen hat. Mühsam ist jedoch
die Beflissenheit, mit der das Buch auf das
Publikum einhämmert, dass der feste
Grund, auf dem wir auch an solchen Orten
zu stehen glauben, längst ein flüssiges
Land geworden ist. Dass es sich bei unserer
Gegenwart um eine immer schon instabile
Welt handelt, die auf Fiktionen beruht.
Diese Botschaft wurde offenbar für so
überzeugend gehalten, dass Edelbauers
Debüt wie Köhlers „Miroloi“ auf der Long-
list für den Deutschen Buchpreis gelandet
ist. Die Mischung von zeitgeistigen The-
men mit Archaik und Fantastik scheint
einen Nerv zu treffen. Möglicherweise
auch, weil sich die Autorinnen die Mühe
machen, den Blick vom eigenen Nabel
abzuwenden, die Perspektive zu erweitern


  • und im Fall von „Das flüssige Land“ mit
    einer Reflexion auf den (österreichischen)
    Umgang mit der Geschichte zu verbinden.
    Allerdings arbeiten sowohl Edelbauers, als
    auch Köhlers Versuche, einebrüchige Idyl-
    le als Genre zu aktivieren, in dem sich der
    Verlust von Eindeutigkeit gut modellieren
    lässt, unablässig mit Vereindeutigungen.
    Unschuldige Frauen gegen böse Männer,
    hübsche Fassaden gegen düstere Löcher,
    ErinnerngegenVergessen,multikulturelle
    Großstädte gegen homogene Dörfer, der
    Zeit entrückte Inseln gegen stressige
    Moderne. So entsteht zumindest in diesen
    Romanen ideologische Übersichtlichkeit,
    offene Fragen, Mischzustände, Uneindeu-
    tigkeit bieten sie nicht an. Es ist sehr scha-
    de,dasszweimitzeitgenössischenKonflik-
    ten so vollgesogene Bücher so weltarm
    geraten sind.


Raphaela Edelbauer: Das flüssige Land. Roman.
Klett-Cotta, Stuttgart 2019. 350 Seiten, 22 Euro.

Als Umberto Eco im Februar 2016 starb,
trauerte man in Italien um einen Mann,
der mehr gewesen war als nur ein ausge-
zeichneter Gelehrter und Schriftsteller.
UmbertoEco, das war nicht nur derüberall
auf der Welt geachtete Autor eines Ro-
mans, den alle kannten, und der Schöpfer
einer Zeichentheorie, die es auf die Litera-
turlisten unzähliger kulturwissenschaftli-
cher und linguistischer Seminare gebracht
hatte.Umberto Eco, daswar vielmehr auch
der gemütliche, wohlmeinende Professor
der Universität Bologna, der bärtige, ver-
schmitzte Mann mit der großen Brille, der
über eine riesige Bibliothek verfügte und
zu jeder Frage die interessantesten Werke
auchlängstvergangenerJahrhunderteauf-
zuschlagenwusste,immeranderentschei-
denden Stelle.
Unter dem Titel „Auf den Schultern von
Riesen“ ist nun auch auf Deutsch eine
Sammlung von zwölf Vorträgen erschie-
nen, die Umberto Eco über ebenso viele
JahrehinwegbeieinemsommerlichenKul-
turfestivalin Mailandgehaltenhat.Siehan-
deln von Themen, die man von ihm kennt:
von der Frage, was schön und was hässlich
sei, von der Frage nach dem Absoluten,
von der Unterscheidung zwischen realen
undfiktivenPersonen,vomWesenderVer-
schwörung. Und wie immer zieht Eco bei
der Erörterung dieser Probleme nicht nur
die gesamte abendländische Geistes-
geschichte heran, sondern wildert auch in
der populären Kultur, beim Grafen von
MonteChristozumBeispiel, oderin„Casa-
blanca“,dem Film mit IngridBergmanund
Humphrey Bogart. Oder er wünscht sich,
auf einer polynesischen Insel Schiffbruch
zuerleiden,inGesellschaftvonSharonSto-
ne. Stets geht man belehrt aus der Lektüre
hervor, und auch wenn der Leser am Ende
immernoch nichtweiß, woran erzuverläs-
sig eine Verschwörungstheorie erkennen
kann, so hat er doch zumindest verstan-
den, wie verbreitet und fruchtbar solche
Lehren sind– unddass die Übergängezwi-
schen den Ideen der Rosenkreuzer und
den Romanen von Dan Brown allenfalls
graduell sind.

DieWirklichkeitzuerkennen,hatteWil-
liam von Baskerville, der Held des Romans
„Der Name der Rose“, gelehrt, das heiße: in
die vermeintlich regellose Vielfalt der Er-
scheinungen eine Ordnung zu bringen,
von der man zwar wisse, dass sie nur be-
dingthaltbar,weilandenEinzelnengebun-
den sei, die aber doch das Einzige sei,
woran man sich halten könne. In diesem
Franziskaner verbarg sich, was die meis-
tenLeserdieses Buchsbaldverstanden,ei-
ne Selbstdarstellung seines Autors. Das
gilt nicht nur in einem persönlichen Sinn.
Denn so, wie der Mönch aus dem Spätmit-
telalter an die Regeln seines Ordens und
die Lehren der Kirchenväter gebunden er-
schien, denen er selbstbewusst und kri-
tisch gegenübertrat, so trat Umberto Eco
als ein freisinniger Gelehrter in gleichwohl
scholastischer Tradition auf. Dieses ge-
schichtliche Erbe, als Amt begriffen, stün-
de einem nordeuropäischen Professor,
den Mainzer Philosophen Kurt Flasch aus-
genommen, nicht mehr zur Verfügung. In
Umberto Eco aber blieb die Geschichte der
europäischenUniversitätlebendig,auchin
ihrerengenBindungandiekatholischeKir-
che,weshalbsowohlThomas vonAquinals
auch Joseph Ratzinger, erst als Kardinal,
dann als Papst Benedikt XVI., zu den wie-
derkehrenden Gestalten dieser Vorträge
gehören – der eine als zwar historische,
aber doch auch philosophische Autorität,
der andere als eher unfertiger Denker.
Die italienische Universität hat in
DeutschlandnichtdenbestenRuf.Zuhier-
archisch scheinen die Institutionen aufge-
baut zu sein, zu sehr auf positives Wissen
ausgerichtet das Studium, zu formalisiert
die Examina. Aus den Vorträgen von Um-
berto Eco lässt sich, gleichsam als essenzi-
eller Nebeneffekt, lernen, dass auch die
auf diese Weise noch immer lebendige
Scholastik eine andere Seite besitzt. In Ge-
stalt von Eco tritt einem eine Gelehrtheit
gegenüber,zudereshierzulandekeinÄqui-
valent gibt. Sie erscheint in Gestalt imagi-
närer Netze, in denen sich das antike Rom
mitdemmodernenMailandverbindet und
in die das heutige Italien gleichsam einge-
sponnen wird. Auf dieser Grundlage mag
geschehen, was geschehen will: Immer er-
scheint es gebunden an sehr lange und
sehrmelancholischeTraditionen,dieletzt-
lich weniger wissenschaftlicher als viel-
mehr sozialer oder kultureller Natur sind.
Über die Rosenkreuzer schreibt Eco, sie
hätten im 17. Jahrhundert von einer Ge-
heimgesellschaft geträumt, „die Gold, Sil-
ber und Edelsteine im Überfluss besitzt
und an die Könige verteilt, damit diese
ihren Pflichten und legitimen Zielen nach-
kommenkönnen“.Manmussnurdiemate-
riellen in immaterielle Güter übersetzen,
um zu verstehen, was Umberto Eco an ei-
ner solchen Verschwörung faszinierte. Je-
der Vortrag muss ihm als ein Kassiber er-
schienen sein, jedes Buch als konspirativer
AktderVermittlungzwischeneinerniehin-
reichend aufgeklärten Gegenwart und ih-
ren intellektuellen Möglichkeiten. Denn
Zeichen sind die Dinge, und keineswegs
deutungslos. thomas steinfeld

Umberto Eco: Auf den Schultern von Riesen. Das
Schöne, die Lüge und das Geheimnis. Aus dem Itali-
enischen von Martina Kempter und Burkhart Kroe-
ber. Carl Hanser Verlag, München 2019. 416 Seiten,
32 Euro.

Brüchiger nie


Die Idylle ist wieder da, in der Literatur deutscher Debütanten. Dass da etwas


nicht stimmen kann, zeigt Raphaela Edelbauers Roman „Das flüssige Land“


Für ein Jahr ist die Berliner Journalistin
Emilia Smechowski nach Danzig, Gdańsk,
gezogen, um das heutige Polen zu erkun-
den, in dem seit 2015 die rechtspopulisti-
sche Partei PiS regiert. Ihre kleine Tochter
nahm sie mit. Am ersten Tag in der neuen
KitaverhieltsichdieVierjährigewieinBer-
lin auch, sie gab der Mutter einen Kuss,
schubste sie über die Türschwelle und
winkte ihr zu, als sei nichts dabei, in einer
fremden Stadt, unter lauter Unbekannten
ein neues Kita-Leben zu erproben. Eine
Woche später dann erzählte die Tochter
von einem Jungen, der ihr die Autos weg-
nehme.SieseidocheinMädchen,dürfeda-
her nicht mit Autos spielen. „Was hast du
daraufhingesagt?“.fragtEmiliaSmechow-
ski. „Nichts“, antwortete die Tochter, „Ich
kann doch gar kein Polnisch“.

Emilia Smechowski war fünf Jahre alt,
alssie1988mitihrerFamilieausderVolks-
republik Polen nach West-Berlin floh, eine
neue Sprache lernen musste. Vor zwei Jah-
ren hat sie in ihrem Debüt „Wir Strebermi-
granten“darüber berichtet,den Aufstiegs-
willen ihrer „Leistungsträger“-Familie ge-
schildert. Ihre Tochter, mit dem Polni-
schen ein wenig nur vertraut, braucht in
Danzig nicht lang, um die Sprache der an-
deren Kinder zu sprechen, zu sagen, wann
sieHungeroderDurst hat,aufToilettewill,
was sie spielen möchte. Bald schon sieht es
so aus, als würde die Vierjährige ihre Mut-
ter sprachlich überholen: „Vor Kurzem

fing sie an, immer wieder von einem Bröt-
chen mit Butter zu reden, bis ich sie end-
lich frage, was das zu bedeuten habe“.
„Bułka z masłem“, das sagt man, wenn et-
was ein Kinderspiel ist, „wenn etwas baby-
einfach ist, dann sagt man das“.
EsgibtnurwenigeBücher,diedenpolni-
schenAlltagbeschreiben, Träume,Sorgen,
das normale Leben der Nachbarn. Daher
liest mandieGeschichtenausdem Kinder-
garten, dem Wohnhaus, den Einkaufszen-
trengern,folgtEmiliaSmechowskineugie-
rig zu einem Treffen der Tartaren, in ein
Dorf, nach Posen und Warschau, auf all
den Expeditionen in das „Land voller Wi-
dersprüche“. Manches ist gut beobachtet:
„DiePolenliebendieAnarchie,abersieste-
hen auch wahnsinnig auf Ordnung“, resü-
miert Smechowski nach einem halben
Jahr: „Auf Spielplätzen hängen meterlan-
ge Benutzerordnungen, im Schwimmbar
stehen manchmal sechs Bademeister pfei-
fendamBeckenrand(undhaltendabeigel-
be Plastikbananen als Rettungsbojen in
derHand,wasihreAutoritätwiederumun-
tergräbt). Beim Schwimmunterricht müs-
sen alle, auch Erwachsene, eine Badekap-
pe tragen. Und wenn man in der Kita sein
Kind von einem fremden Elternteil abho-
lenlassenwill,mussmaneinFormularaus-
füllen, als wollte man einen neuen Reise-
pass beantragen“.
In der Tat begleitet und ergänzt ein gro-
ßer Ordnungssinn die sprichwörtliche pol-
nische Freiheitsliebe. Statt diesem Neben-
einander weiter nachzuspüren, wagt Emi-
lia Smechowski eine große politische The-
se, vorgetragen im nur scheinbar zurück-
haltenden Subjektivitätssound: „Manch-
malwundere ich mich nicht, dass das Land

auf dem Weg ist in totalitäre Strukturen.“
WäredieFormelvonder„illiberalenDemo-
kratie“ nicht angemessener? Das Gerede
vom Totalitären verstellt bloß den Blick.
Das Jahr im Heimatland endet mit der
Ermordung des Danziger Stadtpräsiden-
ten Paweł Adamowicz, der über Jahre der
halb konservativen, halb liberalen Bürger-
plattform PO angehörte und 2018 mit dem
Bündnis „Alles für Danzig“ im zweiten
Wahlgang wieder zum Stadtpräsidenten
gewähltwurde.NachdemMord wurdelan-
desweit gegen Hass und Gewalt demons-
triert. Unter den Trauernden vor dem Rat-
haus in Danzig stand im Januar 2019 auch
Emilia Smechowski. Sie war, schreibt sie,
„wirklich verzweifelt“, fühlte sich zum ers-
ten Mal „als Polin, als Danzigerin“. Und ih-

re Tochter fragte: „Mama, warum weinst
Du?“
Was hätte wohl Paweł Adamowicz zu
SmechowskisBehauptunggesagt,dieBür-
gerplattform PO dürfe man sich nicht „als
politisches Gegengewicht zur PiS“ vorstel-
len? „Im Grunde unterscheiden sich Bür-
gerplattform und PiS nicht allzu sehr,
wenn es um Wertvorstellungen und Le-
bensstile geht“. Sollen wir wirklich glau-
ben, die Unterschiede zwischen den Wer-
ten, denen Jarosław Kaczyński folgt, und
denen, die Donald Tusk wichtig sind, seien
nicht allzu groß? PiS wie PO, begründet
Smechowski ihre These, lehnen gleichge-
schlechtliche Partnerschaften ab und un-
terstützen die katholische Kirche. Ersteres
stimmt nicht ganz, Letzteres ist zu allge-
mein formuliert.
Und das schreibt Smechowski ausge-
rechnet ineinemPorträtdesPosenerStadt-
präsidenten Jacek Jaśkowiak, der seit 2013
Mitglied der Bürgerplattform PO ist und
als erstes Stadtoberhaupt in Polen die
Schirmherrschaft über die „Parade der
Gleichheit“, die Gay-Pride-Demonstration
in Posen, übernommen hat. Auch nennt er
sich einen Atheisten. Es gibt gewiss auf-
schlussreiche Gemeinsamkeiten zwischen
denverfeindetenParteien.Siezubeschrei-
ben,verlangteabermehrInteressefürZeit-
geschichte, als Smechowski aufbringt. Sie
gibt sich lieber mit Floskeln des Kommen-
tarbetriebes zufrieden und überdeckt das
Fehlen von Neugier mit dramatisierenden
Übertreibungen. Die Linke, heißt es, habe
es im postkommunistischen Polen immer
schwer gehabt. Nun, sie hat mehrfach re-
giert. Der linke Präsident Aleksander
Kwaśniewskiführte Polen in die NATOund

die EU. Nirgendwo sonst als in Polen habe
eseinerechtskonservativeParteizurabso-
luten Mehrheit gebracht, heißt es im Buch.
Was ist mit Ungarn? Die falsche Übertrei-
bungerspartesSmechowski,aufdieWahl-
kämpfe einzugehen und zu erklären, war-
um die PiS 2015 mit 37,6 Prozent der Stim-
mendieabsolute Mehrheiterlangenkonn-
te.DerHistoriker PeterOliver Loewhat auf
forumdialog.eu einige der sachlich fal-
schen Behauptungen zusammengetragen.
Unter den alarmistischen Zuspitzungen
verblassen die wichtigen politischen Kon-
flikte der letzten Jahre. Die „Justizreform“
und die Paralysierung des Obersten Ge-
richts, den Märtyrerkult um die Toten des
Flugzeugabsturzes von Smolensk, die mit
Ermordetengleichgesetztwerden,dieEin-
wanderungvonetwazweiMillionenUkrai-
nern streift die Autorin nur oberflächlich.
Dabei käme es für das versprochene Por-
träteineszerrissenenLandesdaraufan,Po-
sitionen und Eskalationsdynamiken ge-
nau darzustellen. Emilia Smechowski hat
ihre polnischen Erfahrungen mit Berliner
Erwartungen abgeglichen. Eine Sprache
für die Ambivalenzen im heutigen Polen
hat sie dabei nicht gefunden. jens bisky

Traumschiffbruch


mit Sharon Stone


Umberto Eco über das Schöne,
die Lüge und das Geheimnis

Eco trat als ein freisinniger
Gelehrter in gleichwohl
scholastischer Tradition auf

Ein Hohlraum destabilisiert den
Boden, auf dem dieser unheimlich
schöne Teil Österreichs erbaut ist

Selbst für gutgläubige und
zugewandte Leserinnen wird der
Roman da zur Zumutung

Die Botschaft gilt offenbar als
überzeugend: Der Roman steht
auf der Longlist des Buchpreises

Emilia Smechowski: Rück-
kehr nach Polen. Expeditio-
nen in mein Heimatland.
Hanser Berlin, Berlin 2019.
256 Seiten, 23 Euro.

Babyeinfach und zerrissen


Zwischen Danzig und Berlin: Die Journalistin Emilia Smechowski versucht, ihr Heimatland Polen zu verstehen


„Die Polen lieben die
Anarchie, aber sie stehen
auch wahnsinnig auf Ordnung“

(^12) LITERATUR Mittwoch, 11. September 2019, Nr. 210 DEFGH
Die Autorin Raphaela Edelbauer, geboren
1990 in Wien. FOTO: DPA / VICTORIA HERBIG
Loch in der Heimat: Höhlen und Stollen in der österreichischen Landschaft dienen Raphaela Edelbauer als Metaphern für
Abgründe, die sich in der Idylle auftun können. Hier der Eingang zu einem Triftstollen in Niederösterreich. FOTO: IMAGO
„Es fing so gut an mit diesem Land.“
Emilia Smechowski. FOTO: SVEN SIMON/IMAGO
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