S_252_ddeutsche_Zeitung_-_11_09_2019

(vip2019) #1
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von kathrin werner

W

o sie das Foto von ihrem Sohn auf-
stellen soll, weiß sie noch nicht.
Oder wo sein selbstgemaltes Bild
hängen soll. Wenn Katy Roewer bald kein
eigenes Büro mehr hat, noch nicht einmal
einen Schreibtisch, wird kein Platz für per-
sönliche Gegenstände sein. Roewers neuer
Arbeitsplatz wird anders sein, als man sich
den Vorstandsflur eines Traditionsunter-
nehmens vorstellt. Keine dicken Teppiche,
kein Chefsessel aus Leder, kein Vorzim-
mer. Stattdessen locker über den Groß-
raum verteilte Bereiche für alle Vorstände
und eine gemeinsame Kaffeeecke. „Es
wird eine Gewöhnungsphase geben, und
dann wird das funktionieren“, sagt sie.

Katy Roewer ist Bereichsvorstand beim
Handelskonzern Otto. Es ist etwas kompli-
ziert bei dem Familienunternehmen, denn
sowohl die Konzernmutter, zu der auch
Firmen wie der Lieferdienst Hermes oder
Sport Scheck gehören, als auch die Ver-
sandhandelstochter heißen Otto. Roewer
ist bei der Tochterfirma Otto, also dem Ver-
sandhändler, für Personal und Service zu-
ständig, dazu gehört unter anderem die Lo-
gistik. Das macht sie zu einer der wichtigs-
ten Managerinnen, die aus Deutschland
heraus gegen den Internet-Marktführer
Amazon antreten – mit den Mitteln einer
Personalmanagerin. Otto ändert sich, will
moderner, innovativer und schneller wer-
den. Und dafür muss sich auch ändern, wie
die Menschen bei Otto arbeiten.
Roewer geht mit gutem Beispiel voran,
etwa was das Büro angeht. Von Vorstand-
Standesdünkel hält sie ohnehin nichts.
„Als ich Bereichsvorstand wurde, habe ich
mich erschrocken, wie groß das Vorstands-
büro ist“, sagt sie. „Ich fand das schreck-
lich. Da kam kein Mensch vorbei, es war so
abgetrennt.“ Inzwischen sind sie und ihre
Vorstandskollegen umgezogen in kleinere
Büros. Wenn aber der große Umbau an
Ottos riesigem Unternehmenssitz in
Hamburg fertig ist, ist es ganz vorbei mit
den Büros. Roewers Arbeitsbereich wird
sich dann kaum mehr unterscheiden von
denen der anderen Mitarbeiter, die in
„Home Zones“ arbeiten, in denen ihre Ab-
teilung zu Hause ist, sie aber keine festen
Plätze haben und keinen Ort, an dem sie
dauerhaft Kinderfotos abstellen können.

Dass Roewer nichts von Statusdenken
hält, liegt an ihrem Gerechtigkeitssinn –
und der kommt aus ihrer Vergangenheit.
Die 44-Jährige ist in einem kleinen Dorf in
Neubrandenburg aufgewachsen. Ihre Fa-
milie eckte oft an in der DDR. Ihr Großva-
ter fühlte sich immer eingesperrt, hörte
West-Radio. Ihre Großmutter hatte Ver-
wandtschaft und Freundinnen im Westen,
sodass alle in der Familie wussten, wie das
Leben im Westen war, obwohl sie in ihrem
Dorf ganz anders lebten. Ihr Vater war nur
unwillig in die SED eingetreten und galt als
nicht sehr linientreu. „Er hat gern mal den
Mund aufgemacht“, erzählt Roewer. Als
Kind bekam sie zu spüren, dass ihre Fami-
lie dem Staat nicht passte. Sie wollte Jour-
nalistin werden, aber das werde ihr nie
erlaubt, teilte man ihr mit, sie solle doch
was mit Landwirtschaft machen. „Ich fand
das wahnsinnig ungerecht und sehr dis-
kriminierend“, sagt sie. „Du bist Klassen-
beste, aber alle anderen werden in Pionier-
lager geschickt, nur du nicht. Die ganzen
Auszeichnungen gingen immer an andere
und nicht an mich.“
Das war die eine Seite der DDR für sie.
Die andere Seite: Ihre Mutter war immer
voll berufstätig. „Frauen waren in der DDR
ja aus der Not heraus gleichberechtigt und
gleichgestellt“, sagt Roewer. Als sie zum
Studium in den Westen zog und Freunde
fand, deren Mütter nicht arbeiteten, konn-
te sie sich das kaum vorstellen – ihre
Normalität war eine ganz andere. „Das hat
mich erschüttert, als ich in den Westen

gekommen bin.“ Als die Mauer fiel, war sie
14 Jahre alt. „Mein Wertesystem hat sich in
meiner Kindheit ausgeprägt“, sagt sie. Als
Managerin will sie ihren Werten treu blei-
ben. „Ich mache keine Klassenunterschie-
de. Ob ein Azubi, ein Callcenter-Mitarbei-
ter oder Michael Otto, für mich ist jeder
Mensch gleich viel wert, und ich nehme
mir vor, es ihn auch spüren zu lassen.“
Die Sache mit der Gleichberechtigung
von Frauen und Männern in der DDR half
ihr, sich eine Karriere für sich vorzustellen,
die sich andere Frauen vielleicht nicht zu-

trauen. Sie fing bei Otto an, als sie 26 Jahre
alt war, im Controlling damals, und arbei-
tete sich langsam hoch. Sie brachte sich
selbst für eine Führungsrolle ins Ge-
spräch, wurde dann recht schnell beför-
dert. Als sie Mutter wurde, kam sie schnell
zurück zur Arbeit, erst einen Tag pro Wo-
che, dann auf einer 80-Prozent-Stelle, als
das Baby sechs Monate alt war. Als das
Angebot kam, Bereichsvorstand zu wer-
den, musste sie aber drei Tage nachden-
ken. Mutter und gleichzeitig für knapp
4500 Menschen zuständig sein mitten in

der großen Transformationsphase, in der
Otto steckte – würde das gehen? Sie sagte
ihrem Chef dann zu. „Ich kann mir das vor-
stellen, ich traue mir das zu“, sagte sie zu
ihm. „Aber du musst mich so nehmen, wie
ich bin. Mit meinen 80 Prozent.“ Er akzep-
tierte das sofort, Roewer wurde die erste
Führungskraft in Teilzeit im Konzern.
Montags arbeitet sie nicht, da ist sie zu
Hause mit ihrem Sohn und spielt mit Hot
Wheels, oder worauf auch immer sie Lust
haben. Sie liest weiter Arbeits-E-Mails und
wenn es sich nicht ändern lässt, nimmt sie

an einer Telefonkonferenz teil. Inzwischen
haben aber die meisten Kollegen und Mit-
arbeiter verstanden, dass sie am Montag
nicht da ist und respektieren das, sagt sie.
„Niemand legt mehr die wichtigen Termi-
ne auf Montag.“ Natürlich ist es nicht im-
mer einfach, natürlich macht sie Überstun-
den. Freitags ist sie meist die Letzte, die
geht. „So einen Job machst du nicht Nine-
to-Five“, sagt sie. Aber es funktioniert. „Es
geht nicht um Präsenz vor Ort, auch nicht
für Führungskräfte“, sagt sie. „Die Rolle ei-
ner Führungskraft verändert sich, von:
,Ich bin fachlich ganz tief drin‘, hin zu: ‚Ich
begleite einen Mitarbeiter in seiner Ent-
wicklung und lasse los‘.“
Roewer setzt sich dafür ein, es Müttern
leichter zu machen, nach der Babypause
in die Arbeitswelt zurückzukehren. Teil-
zeitstellen gehören dazu, wobei sie davor
warnt, die Stunden zu sehr zu reduzieren.
80 Prozent findet sie ideal, weil man dann
fast immer dabei ist, wenn etwas passiert
im Büro. Auch aus Arbeitgebersicht gefällt
ihr das. „80-Prozent-Leute müssen viel
effizienter sein“, sagt sie. „Deshalb arbei-
ten Mütter oft viel konzentrierter. Viele
Frauen wollen sich und anderen bewei-
sen, dass sie noch so gut sind wie vorher.“
Um Mütter möglichst gut einzugliedern,
nehmen sie und ihr Team schon früh wie-
der Kontakt mit ihnen auf und bereiten sie
auf den Wiedereinstieg vor und weisen sie
auf Möglichkeiten hin, den Job zum Bei-
spiel mit einem Kollegen oder einer Kolle-
gin zu teilen.

Roewer hält flexible Arbeit für „die Zu-
kunft“. Bei Otto kann jeder von zu Hause
aus arbeiten, wenn es keine Meetings gibt.
Es ist egal, wann man arbeitet, solange
man die Arbeit erledigt. Die neuen Regeln
haben zuerst dazu geführt, dass die Frauen-
quote in Führungspositionen stieg. Doch
dann ebbte das Wachstum wieder ab. Die
Personalarbeitsinstrumente seien alle da,
sagt die Personalvorständin, aber es gebe
gesellschaftliche Hindernisse. Einer der
Faktoren, die Frauen von der Karriere ab-
halten, sei mangelnde Unterstützung des
Partners. Roewer hat das Thema mit ihrem
Mann früh geklärt. „Du weißt, worauf du
dich einlässt“, sagte sie zu ihm, als es ums
Heiraten ging. „Ich habe einen Anspruch
an das Leben, ich möchte mich beruflich
verwirklichen. Ich möchte ein Familienle-
ben, aber nicht nur auf meinem Rücken.“
Es klappt, sagt sie, auch wenn sie manch-
mal vorwurfsvolle Blicke von anderen Müt-
tern bekommt, wenn sie nicht zum Bastel-
nachmittag kommt. Manchmal hadert sie
mit einem schlechten Gewissen, obwohl
sie generell davon überzeugt ist, dass ihre
Lösung gut ist für ihre Familie. „Ich bin im-
mer zerrissen“, sagt sie. „Der Arbeitgeber
kann nur einen Teil davon lösen.“
Als ihr Sohn nicht mehr ganz klein war,
hat sie überlegt, ob sie wieder auf 100 Pro-
zent aufstocken sollte. Als sie die Idee in
Ottos internem Frauennetzwerk „Plan F“
erwähnte, war der Protest groß. „Das
kannst du doch nicht machen“, sagten die
anderen Frauen zu ihr. „Wir brauchen
dich.“ Roewer war sich nicht bewusst, wie
sehr sie zum Vorbild geworden war. Und
wie wichtig es für die anderen war, bei ih-
ren Vorgesetzten auf Roewer verweisen zu
können, wenn es darum geht, mit Kind ver-
antwortungsvolle Jobs zu übernehmen.
„Die Reaktion war sehr heftig, das hat
mich zum Nachdenken gebracht.“ Vorher
hat sie nicht viel über Vereinbarkeit und
ihr Modell gesprochen, auch weil sie nicht
auf Frauenthemen reduziert werden woll-
te. „Ich gehe seitdem offener damit um.“
Sei es flexible Arbeit, Teilzeit oder Büro-
design – Roewer will die neue Arbeitswelt
vorleben, damit es nicht bei Lippen-
bekenntnissen und Schlagworten bleibt,
sondern der Alltag sich wirklich ändert.
Und damit Otto schneller und fitter wird
für den Wettbewerb – wenn auch nicht um
jeden Preis. „Auch wenn die Welt um uns
herum schnell ist, müssen wir nicht hek-
tisch werden“, sagt sie. „Aufgeben ist keine
Alternative.“ Einen Platz für das Foto ihres
Sohnes wird sie schon finden.

Den guten alten Katalog hat das Unterneh-
men Ende vergangenen Jahres beerdigt. An
ihm konnte man seit dem Anfang des Ver-
sandhändlers Otto 1949 Geschmack und
Geschichte von Nachkriegsdeutschland ab-
lesen. Der erste Katalog hatte 14 Seiten und
war mit Kordeln gebunden; in die 300 Exem-
plare hatte Firmengründer Werner Otto
Fotos von 28 Paar Schuhen eingeklebt. Von
Hand. Verkaufshit war der Damenschuh „Cali-
fornia“ für 30 Mark. Über Jahrzehnte hinweg

war es in vielen Familien Ritual, gemeinsam
im Otto-Katalog zu blättern und zu überle-
gen, wie man leben könnte mit all diesen neu-
en Geräten oder Werkzeugen, dem Schmuck
und der Mode.
Die Kataloge waren in Spitzenzeiten mehr
als 1000 Seiten dick und wurden in zweistelli-
gen Millionenauflagen gedruckt. Die Konkur-
renten hießen Quelle und Neckermann. Auf
dem letzten Otto-Katalog war ein Smart-
phone abgebildet. „Ich bin dann mal App!“,

stand da. 97 Prozent der Bestellungen kom-
men aus dem Internet, teilte der Konzern mit.
Heute heißt der Konkurrent vor allem Ama-
zon. Das Geschäft ist schneller geworden
durch den Rivalen aus den USA – und viel-
fältiger. Rund drei Millionen Produkte kann
man bei Otto.de kaufen, so viele hätten nie-
mals in den Katalog gepasst. Otto, die Ver-
sandhandelstochter des Otto-Konzerns, hat
4900 Mitarbeiter und schreibt einen Umsatz
von 3,2 Milliarden Euro. KWE

Internet statt Katalog


Katy Roewer ist seit 2015 Personalvorständin bei Otto. FOTO: OH

N

atürlich erlebt jeder Mensch irgend-
wann diesen Moment, in dem er be-
merkt, dass er vom Aussterben be-
droht ist – wenn einem der 15 Jahre alte
Neffe zum Beispiel mitteilt, dass er keine
Ahnung habe, wer oder wasGuns N’ Roses
seien. Es ist kein schöner Moment, und er
steigert sich zu einem grotesken, weil ei-
nen dieser 15 Jahre alte Neffe gleich da-
nach bittet, ihn in ein Einkaufszentrum zu
fahren – also in eines dieser riesigen Gebil-
de, von denen es seit ein paar Jahren heißt,
dass sie wegen der Digitalisierung vom
Aussterben bedroht seien.
Die sogenannte Mall ist eine amerikani-
sche Institution, seit den Fünfzigerjahren
das Symbol für Suburbia. In die Vororte zo-
gen damals all jene, die in der Großstadt so
viel Geld verdienten, dass sie sich da drau-
ßen ein Häuschen leisten konnten und ein
Auto, in dem sie dann zu diesen monströ-
sen Gebäuden mit den vielen Geschäften
fuhren. Sie kauften ein, vor allem Klamot-
ten, Bücher und Schmuck, sie aßen Schnell-
futter – ein Restaurant würde sie zu lange
vom Shopping abhalten, deshalb gab es
fast ausschließlich Fast-Food-Filialen –
und trafen Freunde. Ist schon mal jeman-
dem aufgefallen, dass sich in US-Teenie-
Filmen fast alle Verliebten irgendwann
mal im Einkaufszentrum begegnen?
Die Digitalisierung und damit die Mög-
lichkeit, nicht nur Klamotten, Bücher und
Schmuck auf Online-Portalen zu bestel-
len, sondern alles andere auch, ließ den sta-
tionären Einzelhandel erst in die Krise und
dann auf die Liste der bedrohten Arten rut-
schen. Ende 2018 gab es in US-Malls so viel

freie Fläche wie seit der Finanzkrise im
Jahr 2009 nicht mehr. Einer Prognose von
Credit Suisse zufolge sollen in den kom-
menden fünf Jahren 20 bis 25 Prozent al-
ler Einkaufszentren in den USA schließen.
Warum also in aller Welt will dieser Teen-
ager, der keine Ahnung von Guns N’ Roses
hat, unbedingt dorthin?
Nun, es könnte daran liegen, dass diese
vom Aussterben bedrohten Orte eine dar-
winistische Evolution erleben, sie entwi-
ckeln sich von Einkaufszentren zu Erleb-
niszentren. Der junge Mann will nämlich
keine Klamotten, Bücher oder Schmuck
kaufen, er möchte das Virtual-Reality-
Spiel „Terminator Salvation: Fight for the
Future“ ausprobieren, das es nun dort
gibt, wo früher eine Filiale einer Fast-Food-
Kette gewesen ist. Statt des Bekleidungsge-
schäfts: ein Fitnessstudio. Statt des Juwe-
liers: ein Laden, in dem man sich in Kühl-
kammern das Fett wegfrieren lassen oder
intravenös den Kater bekämpfen kann.
Die Renaissance der Mall lässt sich mit
drei Trends erklären, die, miteinander
kombiniert, diese Chance zum Überleben
bieten. Erstens: Leute zwischen 14 und
35 Jahren, gemeinhin mit den Begriffen
„Millennials“ und „Generation Z“ um-
schrieben, legen weniger Wert auf Besitz
denn auf Erlebnisse. Yoga-Kurs, Kälte-
therapie oder Floating Tanks kann man
dann doch nicht bei Amazon bestellen. Der
Umsatz des stationären Einzelhandels für
Bekleidung hat in den vergangenen zehn
Jahren in den USA stagniert, der mit
Fitness- und Gesundheitsprodukten ist
gleichzeitig um 34 Prozent gestiegen.

„Experience Economy“ nennen die
Amerikaner das alles, B. Joseph Pine II and
James H. Gilmore prognostizierten in ei-
nem Artikel in derHarvard Business Re-
viewvor mehr als 20 Jahren, dass die Erleb-
nisindustrie eine dominierende Rolle spie-
len werde. Erlebnisse lassen sich nur
schwer zu Hause nachbilden, auch wenn es
im Fitnessbereich etwa die Unternehmen
Peloton oder Mirror gibt. Stationäres Fahr-
rad oder Fitness-Spiegel – beide kosten
einen vierstelligen Betrag plus eine monat-
liche Abogebühr – schränkt einen schon
wieder ein.

„Kleine Fitness-Boutiquen gehören
zum Lebensgefühl der Millennials“, sagt
John Klein, der für die Fitnesskette Equi-
nox nach möglichen Gebäuden sucht und
Berater der Nur-für-Frauen-Lifestyle-Mar-
ke The Wing ist: „Die Leute wollen Ab-
wechslung, sie wollen aber womöglich
auch jemanden treffen, mit dem sie danach
einen Smoothie trinken und sich unterhal-
ten können.“ Der Anteil der Ladenfläche in
US-Einkaufszentren, der von Fitnessstu-
dios belegt wird, ist in den vergangenen
sechs Jahren um 70 Prozent gestiegen.
Zweitens: Der Drang zur Selbstoptimie-
rung führt dazu, dass die Besucher in die-
sen Gebäuden erst ins Fitnessstudio ge-
hen, danach in die Sauna, ins Solarium
oder zur Massage, dazwischen vielleicht ei-

nen Bio-Smoothie und danach ein Ausflug
ins vegane Restaurant. „Große Läden, Ki-
no oder Bowlingbahn sind nicht mehr die
Herzstücke eines Einkaufszentrums“, sagt
Drew Myers von der Immobilienanalyse-
firma CoStar: „Die Leute wollen gesund
und bewusst leben, das führt zu einer Ver-
änderung der Struktur, kreiert aber Fuß-
verkehr für andere Läden.“
Das führt zum dritten Trend: Die Pop-
up-Economy sorgt dafür, dass ein Ge-
schäft nicht mehr unbedingt das ganze
Jahr über geöffnet haben muss. Es gibt
nun also in den Malls sogenannte Pop-up-
Stores: Die Leute sollen von Januar bis Juli
ihre Neujahrsvorsätze im Crossfit-Studio
umsetzen, länger halten die meisten ohne-
hin nicht durch. Danach wird daraus ein
Halloween-Kostümladen, schließlich ein
Spielzeuggeschäft für die Weihnachtszeit.
„Adapt or Die“ heißt es an der US-West-
küste – frei übersetzt: Wer sich nicht an-
passt, der möge bitte schön aussterben.
Die Verantwortlichen der Einkaufszentren
haben das vorerst geschafft, indem sie ihre
Gebäude zu Erlebniszentren umgebaut ha-
ben. Das verführt einen, dem eigenen Aus-
sterben vorzubeugen und den 15 Jahre al-
ten Neffen in die Mall zu begleiten und ein
paar der Fitnessangebote auszuprobieren.
Nur: Im Auto läuft dann nicht „Bad Guy“
von Billie Eilish, sondern „Patience“ von
Guns N’ Roses. jürgen schmieder

Die Vorleberin


Katy Roewer ist Personalvorstand beim Versandhändler Otto. Sie setzt sich
für andere Mütter ein und ist Führungskraft in Teilzeit. Sie will zeigen,
dass so etwas möglich ist. Das soll Otto wendiger und moderner machen

Jack Ma , 55, der Gründer des chinesi-
schen Online-Konzerns Alibaba, hält
sich an seinen Plan und ist als Vorsitzen-
der seiner Firma abgetreten, wie vor
einem Jahr angekündigt. Nachfolger
wird Daniel Zhang, den Ma(FOTO: BLOOM-
BERG)ausgewählt hatte. Ma, dessen Ver-
mögen auf mehr als 38 Milliarden Dollar
geschätzt wird, brauchte auch mehrere
Anläufe für die Uni-Aufnahmeprüfun-
gen, bis es mit dem Englisch-Studium in
seiner Heimatstadt Hangzhou klappte.
1995, als ihn ein Job als Übersetzer in die
USA führte, lernte er das Internet ken-
nen. Ein halbes Jahr später war seine
erste Website in China online. Das Ver-
zeichnis, in dem sich chinesische Unter-
nehmen suchen lassen konnten, wurde
allerdings ein Flop. Erst seine zweite
Idee zündete: Ausge-
stattet mit 60 000
Dollar von Freunden
gründete Ma 1999
Alibaba in seinem
Wohnzimmer. Inzwi-
schen hat die Platt-
form Alibaba mehr
als 650 Millionen
aktive Nutzer. dpa

Georg Kapsch , 60, Chef des österreichi-
schen Maut-Unternehmens Kapsch,
kämpft um das Geld aus dem deutschen
Maut-Vertrag. Die Kündigung der Verträ-
ge will er nicht einfach hinnehmen.
„Dankbarkeit bekommen Sie in der Poli-
tik sowieso nicht. Wir schauen, dass wir
das bekommen, von dem wir glauben,
dass es uns zusteht“, sagte Firmenchef
Kapsch(FOTO: OH)auf der Aktionärsver-
sammlung des Unternehmens. Details
wollte der Manager mit Verweis auf den
Rechtsstreit nicht nennen. Er wolle die
Chancen in einem künftigen Verfahren
nicht gefährden, sagte Kapsch, dessen
Familie über Stiftungen die Mehrheit an
der Firma hält. Deutschland hatte nach
dem Nein des Europäischen Gerichts-
hofs zur Pkw-Maut die Verträge mit
Kapsch sowie dem Ticketvermarkter
Eventim gekündigt.
Welche Kosten die
Kündigung der Ver-
träge mit sich brin-
ge, wollte der Mana-
ger nicht sagen. Er
räumte Rückstellun-
gen in Höhe von
zwei Millionen Euro
ein. reuters

Olly Robbins , 44, Brexit-Chefunterhänd-
ler der früheren britischen Premiermi-
nisterin Theresa May, wechselt zu Gold-
man Sachs. Der Londoner Spitzenbeam-
te war die treibende Kraft in den Ver-
handlungen mit Brüssel – ohne ihn wäre
es wohl nicht zu jenem Austrittsvertrag
gekommen, mit dem May mehrfach im
britischen Unterhaus scheiterte. Rob-
bins galt als einer der wenigen in Lon-
don, die mit der EU-Seite auf Augenhö-
he verhandeln konnten. In Brüssel wur-
de er sehr respektiert, jedenfalls weitaus
mehr als die damaligen Brexit-Minister
David Davis und Dominic Raab. Ex-Pre-
mierministerin May bedankte sich am
Dienstag auf ihre Art: Sie ließ ihren ehe-
maligen Mitarbeiter in den Ritterstand
erheben, was die Brexiteers wiederum
erboste. Olly Robbins(FOTO: DPA)reiht sich
mit seinem Wechsel
zur US-Bank Gold-
man Sachs in eine
lange Reihe von
Topbeamten ein, die
dort landeten. Man-
che von ihnen kehr-
ten wieder auf die
politische Bühne
zurück. am

Bei Otto kann jeder von
zu Hause aus arbeiten,
wenn es keine Meetings gibt

(^16) WIRTSCHAFT Mittwoch, 11. September 2019, Nr. 210 DEFGH
Im Erlebniszentrum
Lange Zeit war das Einkaufszentrum
eine amerikanische Institution, dann galt es
wegen der Digitalisierung als
vom Aussterben bedroht.
Jetzt erlebt es eine Renaissance,
weil es sich anpasst
SILICON BEACH
„Kleine Fitness-Boutiquen
gehören zum Lebensgefühl
der Millennials.“

An dieser Stelle schreiben jeden Mittwoch Marc
Beise, Karoline Meta Beisel (Brüssel), Christoph
Giesen (Peking), Helmut Martin-Jung (München)
und Jürgen Schmieder (Los Angeles) im Wechsel.
MITTWOCHSPORTRÄT
Raus mit mir
Maut-Forderung
Goldman statt Brexit

PERSONALIEN
Roewers ausgeprägter
Gerechtigkeitssinn resultiert
noch aus DDR-Zeiten

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