S_252_ddeutsche_Zeitung_-_11_09_2019

(vip2019) #1
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Ende der Siebzigerjahre lief im Ersten die
US-Serie „Detektiv Rockford – Anruf ge-
nügt“. James Garner spielte darin den Pri-
vatdetektiv Jim Rockford. Der fuhr einen
Pontiac Firebird, ein Auto von jener Sorte,
das die Amerikaner alsMuscle Carbe-
zeichnen, was man grob mit „Männerkar-
re“ übersetzen könnte. Flach, schnell, V 8,
viele PS, kein Platz für Kindersitze. Rock-
ford machte mit diesem Auto zuweilen
ein Fahrmanöver, das eigentlich J-Turn
heißt, als Huldigung an die Fernsehserie
aber auch „Rockford Spin“ genannt wird.
Der Fahrer fährt dabei schnell im Rück-
wärtsgang und lässt das Auto während
der Fahrt um 180 Grad herumschleudern,
sodass er vorwärts in die gleiche Richtung
weiterrasen kann. Das sieht spektakulär
aus und wurde in zig Kriminal-, Action-
und Spionagefilmen nachgemacht.
Womit man bei Valerie Plame wäre und
dem Werbespot, mit dem sie ihre Kandida-
tur für einen Sitz im US-Abgeordneten-
haus für die Demokraten angekündigt
hat. Plame brettert darin in einem schwar-
zen Chevy Camaro – nicht so schnittig wie
ein Firebird, aber definitiv ein Muscle Car


  • durch die Wüste des Bundesstaats New
    Mexico, in dem sie antritt. Das Besondere:
    Sie fährt mit Vollgas rückwärts. Am Ende
    legt sie einen perfekten Rockford Spin
    hin, entsteigt in einer Staubwolke dem Au-
    to und schlendert auf die Kamera zu. „Ja“,
    sagt Plame, „die CIA bringt uns wirklich
    bei, so zu fahren.“ Dann fügt sie hinzu:
    „Mr President, ich habe da noch ein paar
    offene Rechnungen.“
    Das mag für Wähler, die Valerie Plame
    nicht mehr kennen, kryptisch klingen.
    Aber zumindest den Amerikanern, die
    halbwegs an Politik interessiert sind, dürf-
    te der Name der 56-Jährigen immer noch


vertraut sein. Schließlich stand Valerie Eli-
se Plame Wilson vor 16 Jahren im Mittel-
punkt eines veritablen Politskandals, der
monatelang die Regierung von Präsident
George W. Bush beschäftigte.
Das kam so: Anfang 2003 wollte Bush
in den Krieg gegen den Irak ziehen. Er und
seine Berater bauschten daher die angebli-
che Bedrohung durch Saddam Husseins
Massenvernichtungswaffen auf. Dabei
kam ihnen der Ex-Diplomat Joseph Wil-
son in die Quere, der Bushs Behauptung
widersprach, Hussein habe in Niger Uran
zum Bau von Atomwaffen gekauft. Im Juli
2003 wurde Wilsons damalige Frau, Vale-

rie Plame, die bei der CIA als Analystin
arbeitete, öffentlich enttarnt – ein Rache-
akt, wie vermutet wurde. Und eine Straf-
tat. Es gab Ermittlungen, 2007 wurde der
Stabschef von Vizepräsident Dick Cheney,
Lewis „Scooter“ Libby, in der Affäre zu
30 Monaten Gefängnis verurteilt. Bush er-
ließ ihm später einen Teil der Strafe, vori-
ges Jahr wurde Libby dann von Präsident
Donald Trump begnadigt.
Das erklärt, warum Plame in dem Wahl-
werbespot von ihrem Fahrtraining bei der
CIA und „offenen Rechnungen“ mit dem
Präsidenten redet. Allerdings ist der von
ihr erhobene Vorwurf, Libby habe sie ent-
tarnt, falsch. Der Cheney-Vertraute wur-
de verurteilt, weil er die Ermittler unter
Eid belogen hatte. Dass Plames Name da-
mals an die Öffentlichkeit kam und die
CIA-Agentin „verbrannt“ wurde, lag an
dem netten, völlig integeren, aber leider
als Tratschtante bekannten Vize-Außen-
minister Richard Armitage. Er hatte ei-
nem Journalisten Plames Namen und Ar-
beitgeber verraten. Aber wen kümmern
im Wahlkampf solche Details.
Joseph Wilson und Valerie Plame hat
der Skandal wenig Glück gebracht. Für
kurze Zeit waren sie in linken Kreisen
Stars, sie bekamen Buchverträge und ei-
ne Titelstory inVanity Fair. Ihre Geschich-
te wurde mit Naomi Watts und Sean Penn
verfilmt. Aber sie mussten Washington
verlassen, weil sie Drohungen erhielten
und Wilsons Name politisch so toxisch ge-
worden war, dass seine Beratungsfirma
keine Klienten bekam. 2006 zog das Paar
nach Santa Fe. Aus der Wüste von New Me-
xico will Plame, die inzwischen von Wil-
son geschieden ist, nun als Abgeordnete
in die Hauptstadt zurückkehren. Auch ei-
ne Art Rockford Spin. hubert wetzel

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von alexander mühlauer

K

ann man Boris Johnson über-
haupt noch beim Wort nehmen?
Nun, leicht fällt das wahrlich
nicht, schließlich schreckt der britische
Premierminister vor nichts zurück, auch
nicht vor der Lüge. Es geht ihm einzig
und allein darum, an der Macht zu blei-
ben. Diesem Ziel ordnet er alles unter.
Dass er seit seinem Amtsantritt die politi-
sche Kultur des Vereinigten Königreichs
mit Füßen tritt, schert ihn kaum. Doch so
sehr Johnson die demokratischen Institu-
tionen auch beschädigt, es bleibt der EU
nichts weiter übrig, als ihn beim Wort zu
nehmen. Das mag schwerfallen, aber er
ist nun einmal qua Amtes derjenige, mit
dem Brüssel über das Schicksal Großbri-
tanniens verhandeln muss.
Die EU hat es mit einem Regierungs-
chef zu tun, dessen politischer Spielraum
immer enger wird. In einer denkwürdi-
gen Nachtsitzung hat das Unterhaus dem
Premierminister einmal mehr die Gren-
zen seiner Handlungsmöglichkeiten auf-
gezeigt. Die Parlamentarier verhinderten
Johnsons Plan, Neuwahlen vor dem bis-
lang geltenden Brexit-Termin am 31. Ok-
tober auszurufen. In der Downing Street
sitzt also ein Regierungschef, der keine
Mehrheit im Unterhaus hinter sich hat,
und der gesetzlich dazu verpflichtet ist, ei-
nen No-Deal-Brexit zu verhindern.
Ob er sich daran hält, ist wiederum völ-
lig offen. Immerhin: Nachdem Downing
Street am Anfang dieser Woche mit dem
Gesetzesbruch liebäugelte, stellte John-
son nun klar, dass er sich an Recht und Ge-
setz halten werde. Tut er das und nimmt
er das wirklich ernst, was er bei seinem
jüngsten Besuch in Dublin gesagt hat,
könnte Johnson doch noch ein Deal mit
der EU gelingen. Dafür müsste der Premi-
er sich aber an das halten, was er selbst ge-
sagt hat. Der erste Kernsatz lautet: Er lie-
ge „lieber tot im Graben“, als Brüssel um

einen weiteren Brexit-Aufschub zu bit-
ten. Genau dazu wird Johnson aber ge-
setzlich verpflichtet sein, sollte es bis
zum 19. Oktober keine Einigung mit der
EU geben und er dann noch im Amt sein.
Will Johnson also keine weitere Verlän-
gerung des Austrittsprozesses, braucht
er ein Abkommen. Und dabei kommt
Johnsons zweiter Kernsatz ins Spiel: Ein
Brexit ohne Vertrag wäre „ein Scheitern
von Staatskunst, für das wir alle verant-
wortlich wären“, hatte er in Dublin er-
klärt. Einerseits ist das natürlich eine Dro-
hung in Richtung Brüssel; andererseits
ist es ein kleiner Hoffnungsschimmer,
dass Johnson es noch nicht aufgegeben
hat, einen No-Deal-Brexit zu verhindern.
So denkt man in Downing Street etwa dar-
über nach, allein Nordirland in einer Zoll-
union mit Irland zu lassen. Ein Plan, den
Theresa May einst verwerfen musste.

Zu viel sollte man auf die Worte des
Premiers allerdings nicht geben. Es wäre
naiv zu glauben, dass Johnson nun voll
und ganz auf einen Deal hinarbeiten
wird. Dafür gibt es zu viele Unwägbarkei-
ten. Johnson könnte auch versucht sein,
bei passender Gelegenheit zurückzutre-
ten – nach dem Motto: „Ich stehe hier
und kann nicht anders.“ Ein anderer
müsste dann in Brüssel um Verlängerung
bitten. Johnson selbst könnte im nächs-
ten Wahlkampf als eine Art Märtyrer auf-
treten, der den Referendumswillen des
Volkes um jeden Preis vollstrecken will.
Fest steht jedenfalls: Boris Johnson ist
absolut prinzipienlos – und zwar im gu-
ten wie im schlechten Sinne. Mit ihm ist
alles möglich: ein Last-Minute-Abkom-
men oder ein Brexit-Chaos, das man sich
gar nicht ausmalen mag.

von henrike roßbach

D

er Satz „Wir haben die Handwer-
ker im Haus“ wurde früher gerne
augenrollend vorgetragen – und
mit der Bemerkung „Ihr Armen!“ quit-
tiert. Wer heute von Handwerkern erzählt,
die gerade neue Badezimmerfliesen verle-
gen oder die alten Dielen abschleifen, ern-
tet dagegen nicht Mitgefühl, sondern eher
neidvolle Rückfragen: „Handwerker? Wie
seid ihr an die rangekommen?“
Das Handwerk hat in der Wahrneh-
mung vieler einen erstaunlichen Image-
wandel hinbekommen. Das Bild von den
Jungs im Blaumann, die gerne Pause und
nicht so gerne sauber machen, wirkt wie
eine Erzählung aus einem Land vor unse-
rer Zeit. Handwerker gelten heute als ver-
sierte Experten, sie sind begehrt und rar,
eine Folge des Baubooms in den Städten.
Zudem wirbt die Branche vorbildlich um
Auszubildende, vom Schulabbrecher bis
zum Abiturienten. Sie lockt mit Aufstiegs-
und Weiterbildungsmöglichkeiten und
mit Berufsbildern, bei denen Digitalisie-
rung und Hightech längst dazu gehören.
In der Politik zählte das Handwerk
schon immer zu „den Guten“: Der lokale
Handwerksbetrieb, seit Generationen in
Familienhand, dient als bierzelt- und bun-
destagstaugliches Kontrastbild zum bör-
sennotierten Konzern. Für das Handwerk
zahlt sich das aus: Im Bundestag werden
flammende Reden zur Verteidigung des
Meisterbriefs gehalten, Handwerkerleis-
tungen können steuerlich geltend ge-
macht werden, der Handwerker haftet
nicht mehr, wenn er fehlerhaftes Material
verbaut, und im Koalitionsvertrag wartet
die Erstattung der Meistergebühren.
Einen Glückstag erlebte das Handwerk
diese Woche: Union und SPD wollen in ei-
nem Dutzend Gewerken die 2004 gelo-
ckerte Meisterpflicht wieder einführen.
Damals hatte die rot-grüne Regierung
den Meisterzwang in 53 von 94 Hand-

werksberufen abgeschafft, um die Selb-
ständigkeit zu fördern. Kunden sollten zu-
dem von sinkenden Preisen profitieren.
Das Handwerk hat diese Niederlage nie
verwunden. Nach vielen Jahren des Kla-
gens wird es nun teilweise erhört. Als Flie-
senleger etwa soll man von 2020 an wie-
der einen Meisterbrief brauchen, um sich
selbständig zu machen; für bestehende
meisterlose Betriebe gilt Bestandsschutz.
Die Initiatoren des Vorhabens führen die
gesunkene Ausbildungsleistung in den li-
beralisierten Branchen an; zudem seien
Verbraucher besser vor Qualitätsmängeln
zu schützen. „Gefahrgeneigte Handwer-
ke“ habe man ausgewählt.

Mal ganz ehrlich: Fliesen verlegen als
Hochrisikoberuf? In Wahrheit tut die Poli-
tik dem Handwerk schlicht einen Riesen-
gefallen. Ja, der Meistertitel ist Nachweis
handwerklichen Könnens und gründli-
cher Ausbildung. Vor allem aber ist er eine
Marktzugangsbeschränkung. Bei allen un-
strittigen Verdiensten des Handwerks:
Die Re-Regulierung leuchtet nicht ein. Es
steht ja jedem Kunden frei, auf Nummer
sicher zu gehen und einen Meisterbetrieb
zu beauftragen. Handwerker sind knapp,
der Markt ist riesig, der Kuchen groß ge-
nug für alle. Und wer heute nicht ausbil-
det, wird morgen sehen, was er davon hat,
wenn die Konkurrenz an ihm vorbeizieht.
Die Politik könnte manches tun, um
dem Mittelstand und dem Handwerk zu
helfen. Von der Komplettabschaffung des
Soli über Bürokratieabbau bis zur Zulas-
sung beruflicher Abschlüsse für den höhe-
ren Dienst. Die Wiedereinführung der
Meisterpflicht dagegen mag ein Herzens-
anliegen des Handwerks sein. Wirtschafts-
politisch dringend geboten ist sie nicht.

O

laf Scholz hat nur wenige Sekun-
den gebraucht, um das Ziel der gro-
ßen Koalition im Bundeshaushalt
erneut zu bestätigen. Er plant ohne neue
Schulden, selbstverständlich. Der Koaliti-
onspartner, die Union, hat es ihm ge-
dankt. Man konnte am Dienstag im Parla-
ment drei Regierungsparteien sehen, die
noch weiter miteinander regieren wollen.
Wie lange die schöne neue Einigkeit an-
dauern wird, ist eine ganz andere Frage.
CDU, CSU und SPD müssen sich zusam-
menraufen beim Klima, das wird nicht so
einfach, wie es derzeit aussieht. Bisher hat
man die Differenzen übertünchen können
mit der griffigen Forderung, man brauche
beim Klimaschutz einen parteienübergrei-

fenden nationalen Konsens. Das klingt
nicht nur gut, sondern das ist es theore-
tisch auch. Wenn alle künftig nachhalti-
ger leben sollen, sind alle einzubeziehen.
Höchst schwierig ist es, einen solchen
Konsens praktisch zu erzielen. Schon in
der Koalition gehen die Meinungen dar-
über auseinander, wie viel gesetzlich vor-
geschrieben werden muss und was freiwil-
lig bleibt. Dieser Zwist wird sich verschär-
fen, wenn es wirtschaftlich richtig bergab
ginge, wonach es derzeit aussieht. Dann
muss die Koalition entscheiden, wie viel
Geld sie in den Klimaschutz stecken will –
und wie viel in den Arbeitsmarkt. Die
schwarze Null wird sich damit wie von al-
leine erledigen. cerstin gammelin

M

atteo Salvini hat jetzt eine neue
Rolle, sie ist ihm gar nicht so un-
bekannt, vielleicht ist sie ohne-
hin seine genialste: Oppositionsführer. Ge-
sucht hat er sie allerdings nicht, sie ist die
Folge eines politischen Fehlers von schier
komischem Ausmaß. Salvini wollte mit ei-
nem Sommercoup, dem überraschenden
Bruch mit seinen Regierungskollegen der
Cinque Stelle mitten im August, sofortige
Neuwahlen erzwingen, und dachte, nicht
ohne Recht, diese wohl hoch zu gewinnen.
Es kam alles anders.
Premier Giuseppe Conte, den Salvini
ein Jahr lang vor sich hergetrieben hatte
wie ein Hündchen, rächte sich und führt
nun eine neue Koalition aus Fünf Sternen

und Sozialdemokraten an. Selbst die rech-
te Presse wirft dem „Capitano“ Salvini
vor, er habe alles leichtfertig verspielt: die
Aussicht auf die ganze Macht.
Doch Salvini hat schon umgeschaltet.
Er gibt jetzt den alleinigen Kämpfer gegen
die „Eliten“ und gegen Brüssel-Berlin-Pa-
ris – das geografische und politische Drei-
gestirn dessen, was er als „dunkle Macht“
beschreibt. Er sieht sich als Opfer eines
Komplotts. Natürlich ist das eine sonder-
bare Deutung der Ereignisse. Aber viel-
leicht funktioniert die Geschichte als neu-
es Narrativ. Er wird sie laut vortragen, im-
mer wieder, sie in die Köpfe der Italiener
hämmern. Viele sind empfänglich dafür,
immer noch. oliver meiler

B

undestagspräsident Wolfgang
Schäuble und Außenminister Hei-
ko Maas haben am Dienstag sehr zu
Recht an den Beitrag Ungarns zum Fall
der Berliner Mauer erinnert. Die Öffnung
der ungarischen Grenze vor 30 Jahren war
nicht nur ein humanitärer Akt, der DDR-
Bürgern den Weg in den Westen ebnete.
Sondern sie trug auch entscheidend bei zu
jener atemberaubenden Entwicklung, die
zur Wiedervereinigung Deutschlands und
Europas führte. Das ist die helle Seite.
Die dunkle Seite ist nicht Geschichte,
sondern Gegenwart. Ungarns Ministerprä-
sident Viktor Orbán hat in den vergange-
nen Jahren seine große Mehrheit genutzt,
um Ungarn in einen Staat nach seinen Vor-

stellungen zu verwandeln. Es ist ein Staat,
in dem Demokratie, Rechtsstaatlichkeit
und Medienfreiheit nicht einmal mehr an-
nähernd in dem Maße gewährleistet sind,
wie es von einem Mitgliedstaat der Euro-
päischen Union erwartet werden muss.
Hinzu kommen die völkische Ideologie,
mit der Orbán seine restriktive Flücht-
lingspolitik begründet sowie die antisemi-
tische Kampagne gegen den Finanzinves-
tor und Philanthropen George Soros.
So richtig also Dankbarkeit ist, so wich-
tig ist es auch, Ungarn unverdrossen auf je-
ne gemeinsame Werte zu verpflichten, de-
nen es durch die Grenzöffnung vor 30 Jah-
ren den Weg auch im Osten Europas geeb-
net hatte. daniel brössler

E


s fällt schwer, den künftigen
Kommissarinnen und Kommis-
saren der Europäischen Union
zu gratulieren. Denn ihre Missi-
on, die EU in den kommenden
fünf Jahren zu verwalten, zu erhalten und
voranzubringen, könnte zum Himmel-
fahrtskommando ausarten.
Übertreibung? Alarmismus? Nun, es
müssen auf die neue Kommission nur eini-
ge der folgenden Ereignisse zukommen,
die alle nicht unwahrscheinlich sind: Groß-
britannien vollzieht einen harten Brexit.
Donald Trump wird als US-Präsident wie-
dergewählt und entfesselt einen massi-
ven Handelskrieg gegen Europa. Zugleich
schwächt er das Nato-Engagement der
USA ab, was den russischen Präsidenten
Wladimir Putin zu neuen Provokationen
in der Ukraine, aber auch gegen die balti-
schen Staaten ermuntert. Kriege und
Elend treiben, wie 2015, Hunderttausende
aus Afrika und Nahost gen Europa.

Zugleich verwandeln sich Ungarn und
Polen endgültig in autoritäre, illiberale,
nationalistische Systeme. Weitere EU-
Staaten eifern ihnen nach. In Italien schei-
tert die neue Regierung an ihren inneren
Widersprüchen, der Rechtsradikale Mat-
teo Salvini wird Premier und regiert das
Euro-Land in den Bankrott. Die künftige
Weltmacht China mit ihrem Parteidikta-
turkapitalismus spaltet die EU, indem sie
Staaten wie Griechenland bestechende
Angebote macht. Und dann wären da noch
die Umweltzerstörung und Erderhitzung.
Bei solchen Aussichten dürfte jeder,
dem das Wohl der europäischen Nationen
und ihrer Bürger am Herzen liegt, akzep-
tieren: Die Herausforderungen lassen
sich, wenn überhaupt, nur gemeinsam be-
stehen. Doch ausgerechnet jetzt erodiert
der Gemeinschaftsgeist der Europäer. Vie-
le pochen darauf, dass die Interessen ihrer
Nation Vorrang bekommen. Etliche, nicht
nur in Großbritannien, wollen aus Euro
und EU aussteigen. Demonstranten for-
dern nicht mehr, Grenzen einzureißen,
sondern neu hochzuziehen. Und Brüssel
gilt zahlreichen Bürgern als Schimpfwort.
Ist die neue Kommission also tatsäch-
lich ein Himmelfahrtskommando? Im-
merhin haben die EU-Staaten und die
Kommissionspräsidentin Ursula von der
Leyen, von wenigen Fällen abgesehen, ein
gutes Team zusammengestellt – mit her-
ausragenden Persönlichkeiten wie der Dä-
nin Margrethe Vestager, der Französin Syl-
vie Goulard oder dem Niederländer Frans
Timmermans. Die Mischung aus Frauen

und Männern, Jüngeren und Erfahrene-
ren, Nord-, Ost- und Südeuropäern
stimmt. Von dieser Kommission könnte
ein neuer Gemeinschaftsgeist ausgehen,
der, im Idealfall, auch die Mitgliedstaaten
und die Bürger inspiriert.
Der enorme Problem- und Zeitdruck –
längst vorbei sind die Jahrzehnte, in de-
nen Europa unter dem Schutz der USA ge-
mächlich gedeihen konnte – müssen da-
bei kein Nachteil sein. Die zerstörerische
Politik Boris Johnsons oder Trumps, das
Auftrumpfen Chinas, die Dreistigkeit der
Regierungen in Warschau und Budapest
und das Heraufdämmern neuer Konjunk-
tur- und Schuldenkrisen offenbaren, wie
dringend die Menschen in Europa auf die
EU angewiesen sind. Jedenfalls dann,
wenn sie weiter in einem freien, sozialen,
demokratischen, rechtsstaatlichen und
unabhängigen Europa leben möchten.
Die neue Kommission kann diese Be-
wusstwerdung fördern, indem sie Projek-
te anpackt, die Europa offensichtlich stär-
ken und vielen Menschen eingängig sind.
Hierzu gehört eine wirklich gemeinsame
Außen-, Sicherheits- und Verteidigungs-
politik, die nationale Alleingänge, etwa ge-
genüber China, ausschließt. Hierzu ge-
hört – und da kann Brüssel von Peking ler-
nen – ein europäischer Kraftakt für eine
ausgezeichnete Infrastruktur, eine noch
bessere Forschung und eine beherzte In-
dustriepolitik, die, nach dem Vorbild Air-
bus, global konkurrenzfähige Konzerne er-
möglicht, etwa auf dem Feld der künstli-
chen Intelligenz. Und hierzu gehört es vor
allem, die wohl schwierigste Aufgabe an-
zugehen: Finnen und Portugiesen, Deut-
sche und Franzosen, Griechen und Polen
darauf hinzuführen, dass sie sich auch als
Europäer fühlen, denen das europäische
Allgemeinwohl genauso am Herzen liegt
wie das nationale.
Dies aber kann nur gelingen, wenn Soli-
darität und Souveränität in der Europäi-
schen Union neu definiert werden. Wohl-
habende Länder wie Deutschland werden
dann mehr für Europa abgeben, um
schlechter gestellte Länder zu unterstüt-
zen. Denn ein europäisches Wir-Gefühl
wird nur wachsen, wenn die Lebensver-
hältnisse nicht zu unterschiedlich sind.
Im Gegenzug würden die begünstigten
Länder mehr Kontrolle durch die EU ak-
zeptieren. Denn wer gibt, darf erwarten,
dass sein Geld nicht verschwendet wird.
Doch wenn ein Land, ein Volk zu diesem
Mehr an Wir nicht bereit ist? Dann ist es
besser, sich zu trennen, als die ganze Ge-
meinschaft aufzuhalten.
Ja, das ist eine äußerst ambitionierte
Agenda für eine Kommission und für fünf
Jahre. Doch sie ist notwendig, damit die
EU nicht unter innerer Spannung und äu-
ßerem Druck zerspringt.

Betrachtet man das Kern-
kraftwerk Fukushima Daii-
chi auf einer Satellitenkarte,
sieht man sie sofort: Hunder-
te runde weiße und blaue
Tanks. Sie sind randvoll mit radioakti-
vem Wasser und zeugen von den Folgen
der Nuklearkatastrophe vor acht Jahren,
mit Kernschmelzen in drei Reaktorblö-
cken. Weiterhin dringt Grundwasser in
die Atomruine ein und wird dort mit ra-
dioaktiven Isotopen von Elementen wie
Cäsium oder Strontium kontaminiert.
Hinzu kommt Wasser, das zur Kühlung
der Brennstoffkerne benötigt wird. Bis zu
150 Tonnen belastetes Wasser am Tag
muss die Betreiberfirma Tepco abpum-
pen, damit es nicht in die Natur gelangt.
Doch langsam wird der Platz knapp. Ab
2022 könne man keine weiteren Tanks
mehr aufstellen. Daher erwägt die japani-
sche Regierung nun, das angestaute Was-
ser in den Pazifik zu leiten – ein Plan, der
auf Widerstand von Nachbarstaaten wie
Südkorea stößt. Zwar filtert Tepco das
Wasser zunächst, um es von radioaktiven
Isotopen zu befreien. Doch werden so nur
Cäsium und Strontium entfernt, nicht
aber Tritium. Diese schwere Variante des
Wasserstoffs lagert sich direkt an Sauer-
stoff an und ist daher weitaus schwerer
loszuwerden. Ein Expertenteam soll nun
klären, ob die verbleibenden Mengen an
Radioaktivität gering genug sind, um das
Wasser im Meer zu entsorgen. cvei

(^4) MEINUNG Mittwoch, 11. September 2019, Nr. 210 DEFGH
FOTO: DANIEL ZUCHNIK/GETTY
BREXIT
Ein Hoffnungsschimmer
HANDWERK
Goldener Boden
HAUSHALT
Schwarze Null, ade
ITALIEN
Der Mythos vom Opfer
UNGARN
Kritische Dankbarkeit
Alte Tüte sz-zeichnung: pepsch gottscheber
EUROPA


Vor dem Endspiel

von stefan ulrich


AKTUELLES LEXIKON


Radioaktives Wasser


PROFIL


Valerie


Plame


Demokratische
Kandidatin mit
besonderem Spin

Gerade weil Johnson völlig
prinzipienlos ist, könnte es doch
noch ein Abkommen geben

Die Wiedereinführung der
Meisterpflicht überzeugt
wirtschaftspolitisch nicht

Die neue Kommission erbt eine
EU in der Zerreißprobe – doch
es gibt Wege, diese zu bestehen

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