S_252_ddeutsche_Zeitung_-_11_09_2019

(vip2019) #1
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von björn finke und
matthias kolb

Brüssel – Pünktlich auf die Minute betritt
Ursula von der Leyen den Pressesaal der
Europäischen Kommission. Dass sich die
designierte Präsidentin der EU-Kommissi-
on bei der Vorstellung ihrer Mannschaft
gut gelaunt und bestens vorbereitet prä-
sentiert, überrascht nicht. Sie kündigt an,
dass ihre Kommission „flexibel, modern
und agil“ auftreten solle, und will Bürokra-
tie abbauen. Eine erste Überraschung ist
die hohe Zahl der Vizepräsidenten: Wäh-
rend Vorgänger Jean-Claude Juncker mit
sechs Stellvertretern auskommt, gibt sie
acht Kommissaren den begehrten Titel.

Dass die CDU-Politikerin dem Nieder-
länder Frans Timmermans und der Dänin
Margrethe Vestager herausgehobene Pos-
ten als Exekutiv-Vizepräsidenten geben
würde, hatten die Staats- und Regierungs-
chefs vorgegeben. Der Sozialdemokrat ist
künftig zuständig für den „europäischen
Grünen Deal“ und das Riesenthema Klima-
wandel. Der Niederländer soll in den ers-
ten hundert Tagen einen Plan vorlegen,
wie die EU bis 2050 klimaneutral werden
kann – und ihm arbeiten etwa die neuen
Kommissare für Gesundheit, Energie,
Transport und Landwirtschaft zu. Zudem
untersteht ihm eine Generaldirektion.
Dieser Schwerpunkt war ebenso erwar-
tet worden wie das weitreichende Portfolio
für die Dänin Vestager: Sie soll dafür sor-
gen, dass „Europa für das digitale Zeitalter
gerüstet“ ist. Von der Leyen schwärmt von
der 51-Jährigen, die als Wettbewerbskom-
missarin Tech-Konzerne wie Google, Face-
book oder Amazon zu hohen Strafen verur-
teilt hat. Dann enthüllt sie den Kracher:
Vestager kümmert sich weiter um Wettbe-
werbspolitik. Üblicherweise geben Kom-
missare ihr Portfolio nach fünf Jahren ab,
doch Vestagers zweite Amtszeit sendet ein
starkes Signal, dass die EU-Kommission
unter Ursula von der Leyen selbstbewusst
nach außen auftreten will – gegenüber ei-
nem „immer selbstbewussteren China“
und den Freunden in den USA, wie sie sagt.
Während Juncker mit dem Versprechen ei-
ner „politischen Kommission“ antrat, so
spricht die Deutsche bewusst von einer
„geopolitischen Kommission“.
Dritter Exekutiv-Vize ist der Lette Val-
dis Dombrovskis. Der Christdemokrat be-
hält wie unter Juncker seinen Aufgabenbe-
reich Finanzmärkte, Euro und Soziales. Er
soll die Arbeit des neuen Wirtschafts- und
Währungskommissars Paolo Gentiloni ko-
ordinieren. Der frühere italienische Premi-
er soll für den Stabilitäts- und Wachstums-
pakt zuständig sein, also für die Regeln,
die verhindern sollen, dass Euro-Staaten
zu viele Schulden aufnehmen. Dass sich
darum demnächst ein Italiener kümmert,
ist pikant; schließlich stritten Brüssel und
Rom lange über das Staatsdefizit. Für den
Europaabgeordneten Markus Ferber, Wirt-
schaftssprecher der Europäischen Volks-
partei, ist es „alles andere als eine ideale
Konstellation, dass nun ein Italiener den
Problemstaat Italien überwachen soll“.
Einen wichtigen Posten erhielt auch die
frühere französische Verteidigungsminis-
terin Sylvie Goulard: Sie soll als Binnen-

marktkommissarin die neue Industriepoli-
tik mitentwickeln, die von der Leyen ver-
sprochen hat und die Deutschland und
Frankreich vehement fordern. Die Libera-
le ist zudem für eine neue Abteilung der EU-
Kommission zuständig, die sich der Rüs-
tungsindustrie und Raumfahrt widmet.
Die Gründung dieser Generaldirektion gilt
als Hinweis, dass von der Leyen mehr Zu-
sammenarbeit bei der Verteidigung ermög-
lichen will – ein Wunsch der Franzosen.
Der Österreicher Johannes Hahn wird
Haushaltskommissar. Die EU-Staaten
müssen sich bald auf einen neuen Finanz-
rahmen für die Jahre von 2021 bis 2027 eini-
gen, und wegen des Austritts der Briten
fällt ein wichtiger Beitragszahler weg. Der
bisherige Agrarkommissar Phil Hogan er-
hält das Handelsportfolio. Auf diesem Pos-
ten muss sich der Ire bemühen, den Streit
mit den USA nicht eskalieren zu lassen. Zu-
dem will die britische Regierung nach dem
Austritt einen ehrgeizigen Handelsvertrag
mit der EU abschließen, um dauerhaft zu

verhindern, dass Zölle und andere Handels-
hemmnisse Geschäfte über den Ärmelka-
nal erschweren. Dass Hogan diese Gesprä-
che führen wird, dürfte vielen in London
nicht gefallen, denn dieser kritisiert die
Brexit-Politik der Briten gerne und harsch.
Von der Leyen lobte bei ihrer souveränen
Vorstellung der Kommissare, Hogan sei
„als harter und fairer Verhandler bekannt“.
Bei ihrem Personaltableau hatte sie vor
allem auf die regionale Balance zu achten,
denn im Juli waren die Top-Jobs an
Deutschland, Frankreich, Belgien und Spa-
nien (Josep Borrell ist als EU-Außenbeauf-
tragter vorgesehen) gegangen. Also erhal-
ten mit der Kroatin Dubravka Šuica (zu-
ständig für „Demokratie und Demogra-
fie“), dem Slowaken Maroš Šefčovič und
Věra Jourová drei Politiker aus Ost- und
Mitteleuropa den Titel „Vizepräsident“.
Die Tschechin wird mit dem Belgier Di-
dier Reynders, dem designierten Justiz-
kommissar, das brisante Thema Wahrung
der Rechtsstaatlichkeit betreuen. Durch

die Berufung Jourovás, der die Unabhän-
gigkeit der Gerichte extrem wichtig ist,
möchte von der Leyen offenbar versuchen,
die Debatte zu entemotionalisieren. Ein
einheitlicher Rechtsstaats-TÜV, dem sich
künftig alle EU-Mitgliedstaaten jedes Jahr
unterziehen müssen, soll der Kritik aus Po-
len und Ungarn entgegentreten, die einge-
leiteten Verfahren seien diskriminierend.
Alle Bewerber müssen sich im Oktober
Anhörungen im Europaparlament stellen.
Bedenken gibt es gegen Laszlo Trócsányi,
den früheren Justizminister von Ungarns
Premier Viktor Orbán: Er soll sich um Nach-
barschaftspolitik und Erweiterung küm-
mern, also um die Beziehungen zu Nordma-
zedonien, Serbien oder der Ukraine. Exper-
ten und Sozialdemokraten teilen die Kritik
des grünen EU-Abgeordneten Sven Gie-
gold: „Als Verantwortlicher für eine demo-
kratiefeindliche Justizreform kann Trócsá-
nyi schlecht auf Rechtsstaatlichkeit bei
den Beitrittskandidaten pochen.“ Vizeprä-
sident wird auch der Grieche Margaritis

Schinas, dessen Job mit „Schützen, was Eu-
ropa ausmacht“ umschrieben ist.
Dass sich dahinter das seit Jahren unge-
löste Streitthema Migration verbirgt, sorg-
te mancherorts für Kritik: Es könne so in-
terpretiert werden, als stellten Migranten
und Flüchtlinge eine Bedrohung dar. Schi-
nas könnte seiner neuen Chefin auch Rat-
schläge geben für eine weitere Personalie,
die noch in dieser Woche verkündet wer-
den soll: Ursula von der Leyen muss noch
einen Chefsprecher oder Chefsprecherin
benennen – und damit die Nachfolge von
Schinas klären, der viereinhalb das Kom-
munikationsteam von Juncker leitete.

Kurzporträts der 27 designierten EU-Kommissare
finden Sie unter sz.de/eu-kommission

Balanceakt zwischen Europas Regionen


Ursula von der Leyen stellt ihre EU-Kommissare vor, viele neue Gesichter sind dabei. In die Hände von
„Exekutiv-Vizepräsidenten“ legt sie ihre zentralen Projekte wie Klimapolitik und die digitale Zukunft

Rom – Für eine Premiere war Matteo Salvi-
ni ausnehmend gelassen, geradezu de-
monstrativ ruhig. Als die Fernsehjour-
nalisten den neuen italienischen Oppo-
sitionschef vor dem Betreten des Senats
umlagerten, wo die neue Regierung aus
Cinque Stelle und Sozialdemokraten ihre
letzte Hürde nehmen sollten, gelobte Salvi-
ni Mäßigung. Er werde Giuseppe Conte,
den alten und neuen Premier, nicht per-
sönlich angreifen, wie man das vielleicht
vermuten würde, nachdem ihn der vor
zweieinhalb Wochen so vehement kriti-
siert hatte. „Ich denke nur an das Wohl der
Italiener“, sagte Salvini.
Er erhielt zwanzig Minuten Redezeit,
und die schloss er mit den Worten: „Habt
Spaß!“ Er sei bald zurück, seine Partei
arbeite bereits an einem Regierungspro-
gramm. „Denn ihr könnt ein paar Wochen
vor den Wahlen fliehen, vielleicht einige
Monate. Doch irgendwann wird es Neuwah-
len geben.“

Den neuen Premier nannte Salvini nicht
Conte, sondern immer nur „Conte-Monti“.
Ziel ist es, den Italienern weiszumachen,
dass Giuseppe Conte eine neue Version
von Mario Monti sei. Der parteilose Wirt-
schaftsprofessor und ehemaligen EU-Kom-
missar hatte das Land vor sieben Jahren
regiert, in einer absoluten Notsituation. Ita-
lien riskierte die Staatspleite, und Monti
sollte es davor retten. Seither gilt er in euro-
pakritischen Kreisen als Inkarnation der
Brüsseler Macht, der Finanz- und Banken-
welt, die dem italienischen Volk angeblich
die Souveränität wegnehmen will. Monti
ist Senator auf Lebenszeit, er hatte kurz
vor Salvini gesprochen.
In seiner Rede räumte der Chef der Lega
ein, dass das neue Regierungsbündnis legi-
tim sei, wie es jenes war, an dem er bis
Anfang August teilgenommen hatte: Es
habe eine Mehrheit im Parlament. „Doch
im Volk seid ihr in der Minderheit“, fügte er
an. Diese Behauptung widerspricht den
jüngsten Umfragen. Addiert man die Wer-
te der neuen Koalitionspartner mit jenen
aus dem linken und grünen Spektrum,

bringt es die neue Regierung auf eine
Gunst von knapp 50 Prozent. Die Lega und
ihre mehr oder weniger verbündeten Part-
ner im rechten Lager stehen neu bei etwa
48 Prozent. Allerdings ist da Silvio Berlu-
sconis bürgerliche Forza Italia mitgezählt,
und die distanziert sich regelmäßig von
Salvini.
Er habe zwar einen Posten verloren,
sagte Salvini, den des Innenministers.
„Aber ich gebe mich gerne zufrieden mit
der Zuneigung von Millionen Italienern.“ Er
sei immer sehr gerührt, wenn er auf der
Straße von Polizeibeamten und Feuerwehr-
leuten angehalten werde, die ihm sagten:
„Sie werden immer unser Minister sein.“
Der neuen Innenministerin, der parteilosen
Luciana Lamorgese, stehe er gern mit sei-
nem Rat zur Seite, wenn sie den wünsche.
Doch fordere er sie auf, der Linken nicht
klein beizugeben und seine Sicherheits-
und Immigrationsdekrete zu entkräften. Er
werde die Straße mobilisieren gegen alle
Versuche, Italiens Häfen wieder zu öffnen.
In seiner Replik erinnerte Conte daran,
dass Salvini nicht nur „alle Vollmachten“
für sich gewünscht habe und Neuwahlen
erzwingen wollte, obschon das Land vor
einer Reihe schwieriger Entscheide stand.
„Er wollte auch als Innenminister die
Wahlen übersehen“, sagte Conte. Aus den
Rängen der Lega erhob sich der Chor: „Wür-
de, Würde.“ Die zwei früheren Regierungs-
partner schenken sich nichts. Conte gegen
Salvini – dieses Duell dürfte die unmittel-
bare politische Zukunft Italiens prägen.
Die Vertrauensabstimmung im Senat
war für den frühen Abend angesetzt.
Erwartet wurde, dass die neue Koalition
dank der Hilfe Dritter zwischen 167 bis 170
Stimmen gewinnen würde. Bei voller Beset-
zung des Senats sind mindestens 161 Stim-
men nötig für eine Mehrheit. Die kleinere
Kammer des italienischen Parlaments ist
traditionell Schauplatz von Machtkämp-
fen, sie war auch oft schon Ort von Regie-
rungsstürzen. Da die neue Koalition aus
Cinque Stelle, Partito Democratico und der
linken Kleinpartei „Liberi e Uguali“ es nur
mit Mühe auf die Mindestzahl bringt, ist
sie in Zukunft auf die Stimmen schwer
steuerbarer Fraktionsloser oder auf die
großherzige Stimmenthaltung Zugeneig-
ter angewiesen. Da droht immer der Sturz.
oliver meiler  Seite 4

Berlin – Der Anfang vom Ende begann mit
Gulasch und Musik. Ungarische Bürger-
rechtler luden für den 19. August 1989 zu ei-
nem „paneuropäischen Picknick“ an die
Grenze zu Österreich. Unter den damals in
Ungarn zu Tausenden auf eine Gelegen-
heit zur Flucht wartenden DDR-Bürgern
verbreitete sich die Kunde – und tatsäch-
lich öffnete sich 661 von ihnen damals bei
Sopron der Weg nach Westen. „Die ungari-
sche Grenzpolizei beschloss, nicht zu schie-
ßen und das von manchen befürchtete
Blutbad fand Gott sei Dank nicht statt“, er-
innert sich der damals an der Vorbereitung
beteiligte spätere CSU-Europaabgeordne-
te Bernd Posselt. Zwar schloss sich der Ei-
serne Vorhang noch einmal; nach Geheim-
verhandlungen zwischen Bundeskanzler
Helmut Kohl und dem damaligen ungari-
schen Ministerpräsidenten Miklós Né-
meth öffnete die Budapester Regierung in
der Nacht zum 11. September die Grenze
aber endgültig.

„Die Grenzöffnung in Ungarn löste eine
neue Dynamik aus. Zwei Monate später
fiel die Berliner Mauer, das Symbol des Kal-
ten Krieges“, würdigt Bundestagspräsi-
dent Wolfgang Schäuble (CDU) am Diens-
tag dieses Ereignis. Den „mutigen Beitrag
Ungarns zur Wiedervereinigung unseres
Landes“, verspricht er zu Beginn der Sit-
zung im Bundestag, würden die Deutschen
nicht vergessen.
Dass Erinnerung an Flucht und offene
Grenzen längst eine weitere Facette hat,
wenn es um Ungarn und Deutschland
geht, lässt Schäuble nur vorsichtig anklin-
gen. 80 Jahre nach Beginn des Zweiten
Weltkrieges und 30 Jahre nach dem Mauer-
fall seien Begegnungen wichtig, sagt er.
„Dabei müssen wir nicht immer einer Mei-
nung sein, aber neugierig aufeinander blei-
ben und uns respektvoll begegnen“, bittet
Schäuble. Man kann das als zaghafte An-
deutung der Tatsache verstehen, dass
Deutsche und Ungarn durch die Entwick-
lungen vor drei Jahrzehnten verbunden
sein mögen, über die Ereignisse im Jahr
2015 aber immer noch im Streit liegen.

Nicht vergessen sind die Bilder verzweifel-
ter Flüchtlinge, die sich auf der Autobahn
zu Fuß auf den Weg nach Österreich ge-
macht hatten, woraufhin Bundeskanzlerin
Angela Merkel (CDU) entschied, die Gren-
zen nicht zu schließen. Als Verfechter einer
Abschottungspolitik wurde Ungarns Minis-
terpräsident Viktor Orbán zum Gegenspie-
ler Merkels in der EU – und ließ die Kanzle-
rin, unterstützt von seinen Verbündeten
aus den Visegrád-Staaten, auflaufen beim
Versuch, die Lasten der Flüchtlingsaufnah-
me in der EU zu verteilen.
Zum Gegenspieler Merkels wurde Or-
bán auch innerhalb der Europäischen
Volkspartei (EVP), der christdemokrati-
schen Parteienfamilie, in der er nicht nur
seine restriktive Migrationspolitik vertei-
digte, sondern auch sein Konzept der „illi-

beralen Demokratie“. Das EU-Parlament
attestierte Ungarn im September 2018 eine
„systemische Bedrohung der Demokratie,
der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrech-
te“. Wie Polen sieht es sich daher einem
Rechtsstaatsverfahren ausgesetzt. Im Eu-
ropawahlkampf eskalierte der Streit auch
innerhalb der EVP; die Mitgliedschaft von
Orbáns Fidesz-Partei wurde suspendiert.
Auch CDU und CSU distanzierten sich.
Ungarns Außenminister Péter Szijjártó,
am Dienstag Gast beim Deutsch-Ungari-
schen Jungen Forum in Berlin, wünscht
sich nun so etwas wie einen Neustart in
den Beziehungen. Man möge sich, bittet
er, trotz Meinungsunterschieden mit ge-
genseitigem Respekt begegnen. Es ist ein
Ansatz, den auch die künftige EU-Kommis-
sionspräsidentin Ursula von der Leyen ver-

tritt. „In den mittel- und osteuropäischen
Ländern herrscht bei vielen das Gefühl,
nicht voll akzeptiert zu sein. Wenn wir die
Debatten so scharf führen, wie wir sie füh-
ren, trägt das auch dazu bei, dass Länder
und Völker glauben, sie seien im Ganzen ge-
meint, wenn einzelne Defizite kritisiert
werden“, hatte sie nach ihrer Wahl im Juli
derSüddeutschen Zeitunggesagt. Volle
Rechtsstaatlichkeit sei „immer unser Ziel“,
aber keiner sei perfekt. Die Debatten müss-
ten sachlicher werden. Helfen soll dabei
ein neues Instrument zum Schutz der
Rechtsstaatlichkeit. Künftig sollen sich al-
le EU-Staaten einem „Monitoring“ unter-
ziehen, damit nicht Einzelne sich an den
Pranger gestellt fühlen.

Beim gemeinsamen Auftritt vor jungen
Deutschen und Ungarn im Weltsaal des
Auswärtigen Amtes bemühen sich Bundes-
außenminister Heiko Maas (SPD) und sein
Gast Szijjártó auch erst einmal um Gemein-
samkeit. „Es waren die Ungarn, die den ers-
ten Stein aus der Mauer brachen. Und wir
Deutsche werden das nie vergessen“, sagt
Maas. „Wir sind stolz darauf, einen Teil da-
zu beigetragen zu haben, Deutschland und
Europa wiederzuvereinigen“, entgegnet
Szijjártó.
Kritik erspart Maas dem Ungarn aller-
dings nicht. Auch dank der Ungarn sei „Eu-
ropa zu einem Garanten für Demokratie
und Freiheit, für Toleranz und Menschen-
rechte geworden“, lobt er sie erst. Diese Er-
rungenschaften seien zu verteidigen. Das
gelte für „Fragen der Rechtsstaatlichkeit,
der Freiheit der Presse, der Freiheit der For-
schung und der Lehre“. Man teile, sagt Szij-
jártó, das gemeinsame Ziel eines starken
Europas. In Ungarn glaube man aber, dass
die EU stark sei, „wenn die einzelnen Natio-
nen stark“ seien. In Ungarn sei man „stolz
darauf, dass wir unser Ungarntum be-
wahrt haben“, und man glaube an ein „Eu-
ropa der christlichen Werte“. Schwach sei
es dann, wenn es sich von diesen Werten
entferne. Danach verabschieden sich die
Minister höflich, angenähert haben sie
sich nicht. daniel brössler  Seite 4

Brüssel – Wenn alles glatt läuft, der zustän-
dige Fachausschuss im Europaparlament
keine Einwände erhebt und Ende Oktober
alle 751 EU-Abgeordneten der neuen EU-
Kommission zustimmen, dann feiert Virgi-
nijus Sinkevičius seinen Geburtstag in Brüs-
sel. Am 4. November – vier Tage nach dem
regulären Ende der Juncker-Kommission


  • wird der Litauer 29 Jahre alt und wäre da-
    mit der jüngste EU-Kommissar aller Zei-
    ten. Bislang gehört dieser Titel der Bulga-
    rin Mariya Gabriel, die 2017 mit 38 Jahren
    Digitalkommissarin wurde und sich künf-
    tig um Jugend und Innovation kümmert.
    Für Sinkevičius hat die designierte Kom-
    missionschefin Ursula von der Leyen die
    Zuständigkeit für Umwelt und Ozeane vor-
    gesehen. Sie lobte ihn als „exzellenten, jun-
    gen und zielstrebigen Politiker“, der die
    künftigen Kollegen daran erinnern solle,
    wie wichtig der Kampf gegen den Klima-
    wandel gerade für Europas Jugend sei:
    „Wir müssen liefern, liefern, liefern.“


Oft der Jüngste zu sein, das ist normal
für Sinkevičius. 2016 wurde er mit 26 für
den „Bund der Bauern und Grünen“ ins li-
tauische Parlament gewählt und über-
nahm sofort den Vorsitz des Wirtschafts-
ausschusses. Ein Jahr später wechselte er
als Wirtschaftsminister in die Regierung,
seit 2019 kümmert er sich auch um Innova-
tion. Sinkevičius setzte sich dafür ein, dass
sich in Litauen viele Start-ups ansiedeln.
Die Bereiche Blockchain und Fintech – al-
so Tech-Unternehmen, die auf Finanz-
dienstleistungen spezialisiert sind – ha-
ben es ihm besonders angetan; hier gilt er
als eloquenter Vertreter seines Landes.
Sinkevičius studierte in Großbritannien
Wirtschaft, bevor er in Maastricht einen
Abschluss in Europastudien machte. Er
spricht neben Englisch auch Russisch und
Polnisch. Neben seinem Alter kommt ihm
eine weitere Sonderstellung zu: Er steht als
Einziger aus von der Leyens Truppe den
Grünen nahe. So einfach ist die Sache je-
doch nicht: Zwar gehören die beiden EU-
Abgeordneten seiner Partei im Europapar-
lament der Grünen-Fraktion an, doch in ge-
sellschaftspolitischen Fragen ist die Partei
konservativ.
Folglich sagt Philippe Lamberts, Co-
Fraktionschef der Grünen, der SZ über
Sinkevičius: „Es freut uns, dass er eng mit
uns zusammenarbeiten will, aber seine
Partei gehört nicht zu den Europäischen
Grünen. Die Länder, in denen die Europäi-
schen Grünen an der Regierung beteiligt
sind, haben keine grünen Kandidaten ge-
schickt.“ Seine Partei sei kein Teil der neu-
en EU-Kommission, so Lamberts: „Es gibt
keine Pflicht, sich jemandem gegenüber
loyal zu verhalten, der uns nicht beteiligt.“
In Interviews sagte Sinkevičius, dass er
im Europaparlament mit Fragen zu seiner
Jugend rechne. Er will sich mit „viel Ener-
gie“ auf die Befragung vorbereiten, auch
wenn er dadurch noch weniger Zeit hat für
Litauens zweite Religion: Er ist glühender
Basketball-Fan. mati, kmb

Premiere in der neuen Rolle


Italien: Matteo Salvini tritt als Oppositionsführer im Senat an


An die Grenzen kommen


Vor dreißig Jahren öffnete Ungarn seine Grenze für DDR-Flüchtlinge. Doch heute setzt das Land auf Abschottung


Die Dänin Margrethe Verstager
bleibt im Ressort Wettbewerb –
das hatte wirklich keiner erwartet

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 sz.de/nachrichtenpodcast

In Umweltfragen ist seine Partei
grün, ansonsten eher konservativ

(^6) POLITIK Mittwoch, 11. September 2019, Nr. 210 DEFGH
Im August 1989 öffnete sich für kurze Zeit der österreichisch-ungarische Grenzzaun.
Hunderte DDR-Bürger nutzten das „Paneuropäische Picknick“. FOTO: EISERMANN / LAIF
Zum Gegenspieler Merkels wurde
Orbán auch innerhalb der
Europäischen Volkspartei
„Ich gebe mich gerne
zufrieden mit der Zuneigung
von Millionen Italienern.“

Die künftige Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, stellt in Brüssel ihr Team vor. FOTO: YVES HERMAN/REUTERS
Wie immer
der Jüngste

Litauens Kommissionskandidat
ist erst 28, aber schon erfahren
In Ungarn sei man „stolz darauf,
dass wir unser Ungarntum
bewahrt haben“, sagt Szijjártó

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