S_252_ddeutsche_Zeitung_-_11_09_2019

(vip2019) #1
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Am Dienstag waren es 16 Millionen Klicks
allein bei Youtube. Der Erfolg ist so groß,
dass er einigen der Protagonisten fast un-
heimlich wird. 14 Minuten und 54 Sekun-
den lang ist das derzeit meist diskutierte
türkische Musikvideo, der Titel: „Susa-
mam“(Ichkannnichtschweigen).18türki-
sche Rapper haben sich zusammengetan,
um ihrem Land mit Rap Lyrics die Leviten
zulesen,undwasdieKünstlerzusagenha-
ben, lässt vielen Türken den Atem stocken:
„Ich habe geschwiegen, wurde zum Kom-
plizen. Nun denke ich zweimal nach, bevor
ich twittere. Ich fürchte mich vor der Poli-
zei meines eigenen Landes. Es tut mir leid,
eurer Vermächtnis ist diese hoffnungslose
Jugend.“ So geht es los, wie ein Knall.
„Susamam“ ist Selbstanklage und Kla-
ge über die Verhältnisse in der Türkei, an
die sich zu viele längst widerstandslos ge-
wöhnt hätten: „Wenn sie Dich eines Nachts
ins Gefängnis werfen, ohne Grund, dann
wirst Du keinen Journalisten finden, der
das berichtet, sie sind alle eingesperrt.“
Sarp Palaur, 32 Jahre alt, Bühnenname
Şanışer,giltalsderKopfhinterderRapper-
rebellion, er stellte das Werk Freitagnacht
ins Netz. Ein geradezu unheimliches Ti-
ming. Wenige Stunden später wurde die
IstanbulerChefindergrößtenOppositions-
partei, Canan Kaftancıoğlu, wegen ein
paarTweetszufastzehnJahrenHaftverur-
teilt. Das empörend harte Urteil wirkte wie
eine Bestätigung all dessen, was „Susa-
mam“ ausdrückt. Die Politikerin twitterte
danach: „Heute und immer #Ich kann
auch nicht schweigen.“ Şanışer verbreitete
später ein weiteres Video, mit der Bot-
schaft: Die Rapper seien keiner politischen
Richtung zuzuordnen, sie wollten nur ge-
sellschaftliche Probleme anprangern.

Da war der Geist aber schon aus der Fla-
sche, und das Imperium zum Gegenschlag
aufgestellt. Die konservative PostilleYeni
Safakverortetet die Musiker im Terroris-
tenspektrum. Anhänger der Regierungs-
partei AKP taten sich unter dem Stichwort
„Sustunuz“(Ihrhabtgeschwiegen)zusam-
men und warfen den Rappern vor, sie hät-
ten den Putschversuch vom Juli 2016 und
dieOpferderTerrororganisationPKKinih-
rerLitaneinichterwähnt.Anderedebattier-
ten einen Satz des Präsidenten. Recep
Tayyip Erdoğan hatte jüngst beklagt, die
Türkei sei bei Bildung, Kunst und Kultur
hinter die eigenen Ziele zurückgefallen.
„Das ist Schuld der Islamisten und ihrer
Ideologie“,kommentiertdaskritischeWeb-
portalT24. Bei Şanışer und Kollegen klingt
es so: Werauch immer die Machthat, seine
Ideologie ist in jeder Klasse.
Der musikalische Wutausbruch dürfte
zum Toleranztest für die türkische Justiz
werden.Hürriyet Daily News, eher regie-
rungsnah, druckte am Dienstag große Tei-
le des Texts, zitierte aber vorsorglich auch
denJustizminister, derjüngst eineRechts-
reform versprach, mit dem Ziel: „Kritik
soll nicht bestraft werden.“ Ernsthaft.
„Ich kann nicht leben, wenn ich immer
Angst habe, sollen sie doch kommen“, sagt
der Rapper Fuat. Für seinen Kollegen Aga
B.wardasVideonur„einAnfang“.Festnah-
men, Polizeieinsätze und Ähnliches wer-
den im türkischen Fernsehen häufig neu-
tral „Ereignis“ genannt, wörtlich „olay“.
Man kann das auch mit „Zwischenfall“
übersetzen. „Olay“ ist auch der Titel eines
zweiten Rap-Videos, das fast gleichzeitig
mit „Susamam“ veröffentlicht und bisher
fast fünf Millionen mal abgerufen wurde.
Sprache und Stil sind noch härter. „Olay“
komponiert aus einem Non-Stop-Nach-
richtenstromvonPolizeigewalt,Terroratta-
cken, Syrienkrieg, Umweltzerstörung und
Gewaltgegen Frauen einAbbildtürkischer
Traumata der letzten Jahre. „Jeden Tag
passiert dasselbe, wieder eine Vergewalti-
gung, eine Belästigung“, rappt dazu Ezhel,
der 2018 in der Türkei angeklagt war, weil
seine Musik angeblich zum Drogenkon-
sumanimiert.Ezhel,29,wurdefreigespro-
chen, nach einer großen Solidaritätswelle.
„Es ist einfacher Blut zu vergießen, als sich
gegenseitig zu verstehen“, rappt er.
Der Istanbuler Musiker und Literatur-
wissenschaftler Bülent Somay, Jahrgang
1956, traf einen weit verbreiteten Ton, als
er twitterte: „Ich mag eigentlich keinen
Rap, und das wird so bleiben, aber bei die-
senzweiVideosistdasegal.Ichbinstill,vol-
ler Respekt.“ christiane schlötzer

von alex rühle

E

sgibtdadiesesFotoausSanFrancis-
co, gegen Ende des Bildbands „The
Americans“,aufgenommenimFrüh-
jahr 1956: Ein schwarzes Paar liegt im
Park, der Mann schaut wütend über seine
Schulter auf den Fotografen. Robert Frank
bezeichnete es mal als sein eigenes Lieb-
lingsbild: „Weil der Mann mich so aggres-
siv ansieht: Was willst Du, Fremder?“
Mit einem ähnlich aggressiven, frem-
den Blick war Robert Frank damals zwei
Jahre lang durch die Vereinigten Staaten
gereist, ein dreifacher Außenseiter, als Ju-
de, als Schweizer, der erst seit neun Jahren
in den USA lebte, und als New Yorker, der
mit seiner kleinen Leica dieses riesige
Land beschreiben wollte.
Mehrals27000FotoshatFrankaufsei-
ner Reise gemacht, 83 davon wählte er am
Ende für „The Americans“ aus, das eine
große Ode an seine neue, weite Heimat
war,aberzugleichscharfeKritik anRassen-
trennung, Konsumismus und Konformi-
tätsdruck beinhaltete. Vor allem aber war
das Buch ein Generalangriff auf die Sehge-
wohnheiten seiner Zeit. Ein Kritiker
schäumte damals, diese angeschnittenen,
unterbelichteten Aufnahmen, die verkan-
tetenBildhorizonteundbanalenMotivesä-
hen aus wie ein Haufen Kinderfotos, die an
der Straßenecke entwickelt wurden. Das
Zeug gehöre einfach in den Müll. Der
Mann irrte, die zuweilen aus der Hüfte
oder dem fahrenden Auto geschossenen
Fotos von Jukeboxes und feisten Politi-
kern, Freiluftgottesdiensten in den Sümp-
fen des Mississippi, versteinerten Ehepaa-
ren, Cowboys in New York und Schwarzen
beieinerBeerdigunginSouthCarolinasoll-
ten so stilbildend werden wie das ganze
Buch. Es dürfte tatsächlich schwer sein, ei-
nenanderenBildbandzufinden,derähnli-
cheAuswirkungenhatteaufdieFotografie-
geschichte wie „The Americans“.

Robert Frank wollte es 1958 ohne allen
Text publizieren, keine Bildlegenden, ja
nicht mal Seitenzahlen, die Fotos sollten
für sich sprechen. Wie Walt Whitman oder
seine New Yorker Dichterfreunde Allen
Ginsberg und Jack Kerouac wollte er mit
seinen eigenen Mitteln ein ein optisches
Langgedicht schaffen. Ganz so radikal lie-
ßen die Verleger ihm das damals nicht
durchgehen. Ein Vorwort musste her. Also
schrieb Jack Kerouac, der mit ihm für eine
Fotoreportage quer durch Florida gefah-
ren war: „Der Humor, die Schwermut, das
Allumfassende und Amerikanische dieser
Bilder! (...) Diese Gesichter kritisieren
nichts; sie äußern oder sagen nichts ande-
res als ,So sind wir im richtigen Leben, und
wenn’s euch nicht gefällt, kümmert’s mich
nicht,ichlebmeinLeben,wie’smirpasst.’“

Den letzten Satz könnte man auch als
Franksches Lebensmotto interpretieren.
Geboren wurde Robert Frank 1924, als
SohneinesjüdischenFrankfurterInnenar-
chitekten, der nach dem Ende des Ersten
Weltkriegs in die Schweiz ausgewandert
war, wo er die Tochter eines Fabrikanten
heiratete. Trotz seiner Schweizer Mutter
war Frank eigentlich deutscher Staatsbür-
ger. Da Hitlers Reichsbürgergesetz vom
25.November1941 aberallendeutschenJu-
den die Staatsbürgerschaft absprach, war
die Familie Frank staatenlos. Das Einbür-
gerungsverfahren zog sich bis Ende März
1945 hin. Nach Ende des Zweiten Welt-
kriegs beschloss Frank sehr schnell, die
Schweizzuverlassen.„IchwolltemeineZu-
kunft dort nicht aufbauen“, schrieb er spä-
ter, „das Land war zu verschlossen, zu
klein für mich.“
Gerade als er dann nach schwerem An-
fang in New York und vielen Absagen der
großen Magazine dank „The Americans“
berühmtwurde,stellteer1959seinegelieb-
te Leica in den Schrank, sagte, das mit der
Fotografie sei für ihn ausgereizt, und fing
an,Filme zumachen.IngewisserWeisewa-
ren die Fotobände Vorarbeiten gewesen,
Frank dachte nie in Einzelbildern, sondern
immer in Sequenzen, Kontrasten, Schnit-

ten. Jetzt wollte er dem Leben bei der
Arbeit zusehen, Inszenierung und Sponta-
neität aufeinander loslassen. Und im
Freundeskreis arbeiten statt immer allein
als Fotograf umherzustreunen.
Über die Dreharbeiten zu seinem ersten
Film „Pull my Daisy“ (1959) schrieb der
Komponist David Amram später: „Es war
ein Irrenhaus. Sobald die Spannung auch
nur für einen Moment nachließ, unterbra-
chenAllenGinsbergundGregoryCorso,zo-
gen sich nackt aus und drohten damit, aus
demFensterzuspringenoderallemitWas-
ser zu übergießen, die uninteressiert
schauten. Die meisten tranken Wein und
dachten sich groteske Witze aus, um Ro-
bert so stark zum Lachen zu bringen, dass
er uns nicht weiterfilmen konnte.“
IrgendwiekonnteFrankdanndochwei-
terfilmen – „Pull my Daisy“ wurde zu
einem der lustigsten, wildesten Filme aller
Zeiten, 30 Stunden improvisiertes Materi-
al, runtergekürzt auf 30 Minuten, zu de-
nenKerouacausdemOffeinenTextimpro-
visierte: „Early morning in the universe...“
Im Nachhinein wurde der Film dann
aber außerdem noch zu einem traurigen
Familiendokument: Franks Sohn Pablo,
der hier als kleiner Junge durch die Bilder
unddieHandlungspringt,brachtesichspä-

ter, nach jahrelanger psychischer Krank-
heit, um. Die Tochter Andrea war da schon
bei einem Flugzeugabsturz ums Leben ge-
kommen und Frank machte in der Folge
harsche, düstere autobiografische Filme,
Selbstbefragungen, Bild-Meditationen.
Späterfingerauchwiederanzufotografie-
ren,jetztoftmitPolaroidkameras.Momen-
te, Alltag, Freunde.
Der Göttinger Verleger Gerhard Steidl
hat dann ab 2004 begonnen, gemeinsam
mit Robert Frank noch mal all seine Foto-
bücher neu herauszugeben. Wobei – was
heißt „noch mal“, vieles, wie die Bilder ei-
ner frühen Peru-Reise, oder das Buch
„Black and White“, das in seiner experi-
mentellen Radikalität bereits 1952 „The
Americans“ vorwegnahm , war nie zuvor
verlegt worden und lag seit Jahrzehnten
einfach in Manhattan unterm Sofa.
Die beiden haben auch noch mal alle 30
Filme, die Frank stets unabhängig und oh-
neBudgetproduzierte,aufDVDsherausge-
bracht. Alle außer „Cocksucker Blues“,
jenen radikalen Dokumentarfilm über ei-
ne Tournee derRolling Stones, den Mick
Jagger verbieten ließ, weil er Angst hatte,
dass die Aufnahmen von Band-Exzessen
und Saufgelagen dem Image der Band
schaden könnten.

Seit 1971 lebte Robert Frank die Hälfte
desJahresanderkanadischenAtlantikküs-
te in einer schiefen Fischerhütte, mitten
auf einer Wiese, das weite Meer, der Wind
wehte durch alle Fenster. Er brauchte New
York, die chaotische Rauheit der Stadt, die
Künstlerfreunde, aber er floh immer öfter
undlängervordemRuhmunddemKunst-
betrieb in diese Atlantikklause. „Alle wol-
lenihnaufirgendeinenSockelstellen“,sag-
teseineFrau,dieMalerinJuneLeafs,beiei-
nem Besuch im Sommer 2014 mal, „aber
schauDir Denkmäler an, die sind starr und
aus Eisen.“ Frank saß in seiner ausgebeul-
ten Hose daneben, lachte sein knarrendes
neunzigjähriges Lachen und sagte, mit
Blick in den silbrigen Ozeanhimmel: „Und
die Tauben scheißen drauf.“

In seinen Filmen und späten Fotogra-
fien kreiste Robert Frank immer wieder
umdieFrage,wiemanderKommerzialisie-
rung und der Versteinerung im eigenen
Ruhm entkommen kann. In dem Film
„Home Improvement“ ließ Frank 1985 ei-
nenFreundeinigeseinerberühmtestenFo-
tografien durchbohren undfeuerteihn aus
dem Off noch an: „Ah, verstehe, jetzt legst
du wieder los?“ Und in dem avantgardisti-
schen Spielfilm „Candy Mountain“ (1986)
zerstört ein meisterhafter Gitarrenbauer,
der in der kanadischen Welteinsamkeit
lebt, all seine Instrumente, nur damit sie
nicht einem Investor in die Hände fallen.
Als Gerhard Steidl Frank im Sommer
2014 den Vorschlag machte, eine Ausstel-
lung seiner Aufnahmen einmal nicht mit
millionenschwerversichertenGelatineSil-
ver Prints zu machen, gerahmt wie für die
Ewigkeit, sondern auf einfachen, riesigen
Zeitungspapierbahnen, gefiel das Frank
auf Anhieb: „Cheap, quick and dirty“, rief
er,„that’showIlikeit!“SeineeinzigeBedin-
gung war: Nach der Ausstellung, die er mit
derSZverwirklichte, musste alles wegge-
worfenwerden.UndsotourteseinGesamt-
werk noch mal um die Welt.
AmselbenTag,andemerüberdenelen-
den Ruhm und die Tauben gelacht hatte,
ging es mittags, in einem Steakrestaurant
umeinenSchriftsteller,derlangeschonge-
storben war. Frank kam nicht auf den Na-
mendesAutors.Alsseine Fraufragte, ober
vielleicht Jack Kerouac meine, sagte Frank
in seiner Mischung aus knatterndem
Schwyzerdeutsch und amerikanischem
Englisch: „Aber nein, Jack never died, bei
dem war das nur ein Trick. He’s still some-
where around.“ Er machte mit den Händen
leichte Dirigierbewegungen über dem
Tisch, so als würde Jack Kerouac unsicht-
bar und elegant über den Steaks schwe-
ben. Robert Frank hat jetzt denselben
Trick angewandt. Er starb am vergange-
nen Montag im Alter von 94 Jahren. But
he’ll stay somewhere around.

DEFGH Nr. 210, Mittwoch, 11. September 2019 9


Youtube-Hits


gegen Erdoğan


Türkische Rapper klagen ihr Land
als Polizeistaat an – mit Erfolg

Der Amerikaner


Der Schweizer Fotograf Robert Frank ist gestorben. Mit seinem Blick auf Amerika entwickelte er eine Poesie


für die Fotografie, welche die Film- und Kunstgeschichte bis heute prägt


Mick Jagger ließ Robert Franks
Film über die „Stones“ verbieten,
weil er Angst ums Image hatte

Später kreiste er um die Frage,
wie man der Versteinerung
im eigenen Ruhm entkommt

Feuilleton
Ihre Währung ist Hingabe:
Taylor Swift präsentiert in Paris
ihr neues Album „Lover“ 11

Literatur
Diese Idylle hat ein Loch:
Raphaela Edelbauers Debüt
„Das flüssige Land“ 12

Wissen
Warum es gesund ist, einen
Mittagsschlaf zu machen –
zumindest gelegentlich 14

 http://www.sz.de/kultur

Der musikalische Wutausbruch
dürfte zum Toleranztest
für die türkische Justiz werden

Nur 83 von mehr
als 27 000 Bildern
fanden in Franks
Buch „The Ameri-
cans“. Der Rest
wird nun aufgear-
beitet und ist nach
Winterthur ab
Samstag im C/O
Berlin zu sehen.
FOTOS OBEN (3): ROBERT
FRANK/FOTOSTIFTUNG
SCHWEIZ, WINTERTHUR/COUR-
TESY PACE/MACGILL
GALLERY, NEW YORK

Robert Frank prägte den
Blick auf Amerika, der auf
der Straße das wahre Leben
des Landes fand.

FEUILLETON


Robert Frank – Fotograf, Reporter, Beatnik, Filmemacher, Künstler, später Chronist seiner eigenen Gefühlswelt, die von schwe-
ren Schicksalsschlägen geprägt war. FOTO: NIKLAUS STAUSS/PICTURE-ALLIANCE/DPA

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