Neue Zürcher Zeitung - 20.09.2019

(Ron) #1

Freitag, 20. September 2019 WIRTSCHAFT 29


Negativzinsen bleiben eine Belastung für die Banken


Nullen tscheid der Schweizerischen Nationalbank bringt nur eine vorübergehende Erleichterung


Zwar hat die SNB die Zinsen


nicht noch stärker gesenkt


und dieFreibeträge erhöht.


Tr otzdem müssen Institute,


die vor allem im Kreditgeschäft


engagiert sind, ihre


Geschäftsmodelle überdenken.


ERMESGALLAROTTI


Nachdem Entscheid der Schweizeri-
schen Nationalbank (SNB), den Nega-
tivzins auf seinem bisherigen Stand von
–0,75% zu belassen, überwiegt in der
SchweizerBankenwelt die Erleichte-
rung.Zwar bleiben die vonden Ban-
kenan die SNB abzuliefernden Nega-
ti vzinsen eine grosse Belastung.Aber
die Ankündigung derWährungshüter,
ihreBerechnungsgrundlage anzupas-


sen und zu flexibilisieren, stösst gerade
bei den schwergewichtig im Hypothe-
kargeschäft engagierten und damit am
härtesten betroffenenBanken auf Zu-
stimmung.
Künftig soll der von Strafzinsen aus-
genommeneFreibetrag, der Geschäfts-
banken auf ihren Girokonten bei der
SNB zugestanden wird, das 25-Fache
der Mindestreserven betragen,statt wie
bisher das 20-Fache. Zudem soll dieser
individuell für jedeBank errechnete
Freibetrag anders als bisher monatlich
aktualisiert werden und so der bilanziel-
len EntwicklungRechnung tragen.
Es liegt auf der Hand, dass eine
Mehrzahl der Institute in Sachen Nega-
tivzinsen entlastet werden wird. Bei ei-
nigenBanken wirdsichnichts ändern,


und nur einzelne Häuser müssen sich
auf höhereZahlungen einstellen. Schät-
zungen gehen davonaus, dasssich die
auf2Mrd.Fr. geschätzte Gesamtbelas-
tung der Branche durch Negativzinsen
halbieren dürfte.

Ein Rückschlag


Die höheren,der Bilanzentwicklung
angepasstenFreibeträge werden weit-
herum als Zeichen dafür interpretiert,
dass sich die SNB der schädlichenAus-
wirkungeneines Negativzinsumfelds für
diese volkswirtschaftlich so bedeutende

Branche bewusst ist. Zuletzt hatte vor
Wochenfrist die SchweizerischeBan-
kiervereinigung harte Kritik an den
Negativzinsen geübt.
Betrachtete man Negativzinsen lange
Zeit als ein vorübergehendes Phäno-
men, das früher oder später einer Nor-
malisierung des Zinsniveaus Platz ma-
chen würde, gelangen immer mehr Be-
obachter zu dem Schluss, dass die der-
zeitigeKonstellation noch aufJahre
hinaus Bestand habenkönnte. Vor allem
die geldpolitischeWende der amerika-
nischen NotenbankFed, die dieserTage
ohnekonjunkturelle Not ihre Leitzinsen

gesenkt hat, spricht gegen die erhoffte
Normalisierung in Europa und der
Schweiz.
Das sind beunruhigendeAussichten.
Denn je längerdas Negativzinsumfeld
Bestand hat, umso dringlicher müssen
sich dieBanken überlegen, ob ihre Ge-
schäftsmodelle noch zukunftsfähig sind.
Das gilt in erster Linie für die inland-
orientiertenRegional- und Kantonalban-
ken, aber auch für dieRaiffeisenbanken.
Obwohl sie ihr Kreditvolumen auswei-
ten, nehmen ihre Zinserträge, die weit-
aus gewichtigste Ertragsquelle,tenden-
ziell ab. So haben die 24 Kantonalbanken

im ersten Halbjahr zwar ihr aggregier-
tes Hypothekarvolumen um 2% gestei-
gert. Aber der Zinserfolg, der über60%
der gesamten Erträge ausmacht, ging um
0,4% zurück.

NeueKonkurrenten


Und nicht nur das:WeilKonkurren-
ten wiePensionskassen sich nicht wie
dieBanken über «teure», zu0%ver-
zinsteKundengelderrefinanzieren, son-
dern beispielsweise über billigere,ne-
gativ verzinste Bundesanleihen, sind
sie in derLage, Kunden Hypothekar-
kredite zu günstigerenKonditionen an-
zubieten – und trotzdem eine höhere
Marge zu verdienen. Sollte die Phase
negativer Zinsen noch einigeJahre an-
dauern, müssen dieBanken befürch-
ten, ihre Rolle als Intermediäre im
Kreditgeschäft zu verlieren. Dies umso
mehr, als mit der Digitalisierung ohne-
hin neue, bankfremde Anbieter in den
Markt drängen.
Was tun? Die im Kreditgeschäft
engagiertenBanken werden nicht um-
hinkönnen, ihr Geschäftsmodell den
neuen Gegebenheiten anzupassen.Weil
etwa mit einem Betriebs- oder Hypo-
thekarkredit kaum mehr etwas zu ver-
dienen ist, wird man tendenziell eine
Verlagerung zu beratungsintensiveren
Dienstleistungen anstreben – und bei-
spielsweise dasKernprodukt Kredit mit
einerReihe von Zusatzleistungen zu
einemPaket schnüren, das sich vonKon-
kurrenzangeboten abhebt undKunden
einen Mehrwert bietet.
ImFalle einesFirmenkreditskönnen
dasZins-Swaps, Währungsabsicherungen
oder Handels- und Exportfinanzierun-
gen sein. Ein andererWeg zueiner brei-
teren Ertragsbasis bestünde darin,Kun-
den davon zu überzeugen, ihre brach-
liegenden liquiden Mittel in Dienstleis-
tungen derBank zu investieren.
Nur eins ist nicht erfolgversprechend:
am Status quo festzuhalten.

Was Sebastian Kurz anpacken sollte


Die Erneueru ng des Standorts Österreich ist kaum vorangekommen – Ökonom en er heben Forderungen


MATTHIAS BENZ,WIEN


«Damit weitergeht, was gut begonnen
hat»–mit diesem SloganaufdenWahl-
plakaten wirbt SebastianKurz derzeit
dafür, dass die Österreicherinnen und
Österreicher ihm erneut dasVertrauen
schenken. Nur eineinhalbJahre hat die
Koalition vonKurz’bürgerlicherÖVP
mit derrechtsnationalen FPÖ gehalten,
bevor sie spektakulär am Ibiza-Video
zerbrach.Damit blieben auch viele Pro-
jekte unerledigt. Sokonnte dieRegie-
rungKurz etwa eine Steuerreform nicht
mehr umsetzen, mit der sie Bürger und
Unternehmen entlasten und denStand-
ort Österreichrevitalisieren wollte.Auch
sonst blieb derReformelan zu gering.
Laut den Umfragen zurWahl von
Ende September hat SebastianKurz
beste Chancen, auch der nächste Bun-
deskanzler Österreichs zu werden –
offen ist hingegen, mit wem er eine
Regierung wird bildenkönnen.Was
sollte die nächsteRegierungKurz an-
packen?Führende Ökonomen imLand
haben dazu klare, wenn auch unter-
schiedlicheVorstellungen.


«Geliehener»Wohlstand


Zunächst muss sich nichtallesändern.
«Die grösste Stärke des Standorts Öster-
reich sind die unglaublich vielen innova-
tiven Unternehmen mit leistungsberei-
ten Mitarbeitern», sagtFranz Schellhorn,
der Direktor der liberalen Denkfabrik
AgendaAustria, im Gespräch. «Sie sind
das eigentlicheWirtschaftswunder Öster-
reichs.» Denn das politische Umfeld ma-
che ihnen das Leben schwer. «Der hohe
Wohlstand in Österreich ist zu einem
gutenTeil nur geliehen.Beiden staat-
lichenAusgaben lebt Österreich über


dieVerhältnisse.» Schellhorn bemän-
gelt etwa, dass der Staat im internationa-
lenVergleich zwar viel Geld für Bildung
ausgebe, aber zu viele Kinder schlecht
ausgebildet zurücklasse. Man leiste sich
einen überteuertenFöderalismus ohne
wirksameKontrolle. ImPensionssystem
lebe man schamlos aufKosten der jungen
Generation.«Das ist die grösste Speku-
lationin Österreich:zuglauben,dass das
Rentensystem in denkommendenJahr-
zehnten finanzierbar bleibt.» Die Öster-
reicher gehen bei hoher Lebenserwar-
tung sehr früh inRente – im Schnitt mit 61
Jahren (Männer) und 59Jahren (Frauen),
wie noch Anfang der1970erJahre.
Die Agenda Austria hat deshalb
einenForderungskatalog an die nächste
Regierung erarbeitet.Wenn Schellhorn
dreiWünsche frei hätte, würde er, ers-
tens, die Steuerlast für die arbeitenden

Menschen deutlich senken. Österreich
ist ein Hochsteuerland, derStaat zweigt
über 42 ProzentderWirtschaftsleistung
an Steuern und Abgaben ab und belas-
tet dabei besonders denFaktor Arbeit
stark. «Damit wir auf den EU-Durch-
schnittkommen, müsste dieRegierung
die Steuern auf Arbeitseinkommen um
9Mrd.€senken.»Das ist mehr, als die
ÖVP-FPÖ-Regierung geplant hatte,
aber Schellhorn hält es für erreichbar.

Raum fürReformen


Der Staat habe genug Spielraum:Dank
den Niedrigzinsen spare er sich viel für
den Schuldendienst, und mit etwasAus-
gabendisziplin würdeeine Steuerreform
kein Loch in die Staatskassereissen.Wich-
tig wäre aber auch, dass dieParteien vor
denWahlen nicht noch nach alter Unsitte

milliardenschwereWahlgeschenke vertei-
len würden. So haben die Grossparteien
ÖVP, FPÖ und SPÖ etwa am Donners-
tag imParlament eine ausserplanmässige
Rentenerhöhung beschlossen.
Zweitens wünscht sich die Agenda
AustriaeinePensionsreform:Wenn das
gesetzlichePensionsantrittsalter auto-
matisch an die steigende Lebenserwar-
tung angepasst würde, liessen sich die
Rentenausgaben stabilisieren. Drittens
wäre Schellhorn eine Bildungsreform
wichtig: «Fürviele Kinder mit aus-
ländischen Eltern ist die Erwerbskar-
riere schon im Alter von sechsJahren
zu Ende.» Er plädiert für einen Sozial-
index, mit dem Problemschulen mehr
Geld erhalten würden, sowie für mehr
Schulautonomie.Bildung sei für den
Wirtschaftsstandort Österreich länger-
fristig entscheidend, meint er.

Land «klimafit» machen


In Österreich gibt es freilich auch andere
Sichtweisen. «Grundsätzlich präsentiert
sich der Standort Österreich in hervor-
ragenderVerfassung», sagt Markus Mar-
terbauer, der Chefökonom der Arbei-
terkammer, die traditionell zur «linken
Reichshälfte» gezählt wird. Die Export-
industrie, die in internationalemWettbe-
werb stehe, schlage sich bestens. Es seien
in den letztenJahren viele neue Stellen
geschaffen worden. Und der hoheWohl-
stand Österreichs seikeineswegs gelie-
hen: «Der gut ausgebaute Sozialstaat ist
ein positiver Faktor für den Standort, denn
er sorgt für Sicherheit, Stabilität undVer-
trauen.»Das Pensionssystem hält Mar-
terbauer für stabil, das zeigten etwa die
«AgeingReports» der EU-Kommission.
Marterbauer würde andere Prioritä-
ten setzen. Eine generelleVerringerung

der Steuer- und Abgabenquote hat für
ihnkeine Dringlichkeit: «Ein gut ausge-
bauterSozialstaat willeben auch finan-
ziert sein.» Erplädiert aber für eine Ent-
lastung desFaktors Arbeit und für mehr
Steuern aufVermögen. Hauptsächlich
wünscht er sich von der nächstenRegie-
rung, dass sie, erstens, den Standort «kli-
mafit» macht. Eine vorbildliche Klima-
und Energiepolitik werde auch für die
Unternehmen künftig ein wichtiger
Standortfaktor sein. Der Staat solle des-
halb in erneuerbare Energien, Strom-
netze und den öffentlichen Nahverkehr
investieren. Zweitens plädiert der Öko-
nom für einenAusbau des Sozialstaates
vor allem bei der Pflege. Drittens sieht
auch Marterbauer einen Schwachpunkt
bei Bildung und Qualifizierung. Dasei
Österreich in den letztenJahrzehnten
zurückgefallen:«Wir investieren zu we-
nig in dieFachkräfte von morgen.» Die
nächsteRegierung in Österreich wird
einiges zu tun haben.

Die Nationalbank ist sichder schädlichen Auswirkungen eines Negativzinsumfelds für die Branche bewusst. GORAN BASIC / NZZ

QUELLE: AGENDA AUSTRIA NZZ Visuals/joe.

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Lebenserwartung und Pensionsantrittsalter,Durchschnitte

Österreicher geniessen einenlangenRuhestand


Pensionsantrittsalter: Männer Frauen Lebenserwartung: Männer Frauen

Global Risk

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und wirtschaftliche Herausforderungen.

DasThema dieserWoche:
Österreich wählt.
Undwen wählt Kurz?

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