Freitag, 20. September 2019 FEUILLETON 45
Beleidige alle schnell Beleidigten
Der schwar ze Komiker Dave Chappelle schwimmt gegen den po litisch korrekten Strom. Das macht Spass
MARC NEUMANN,WASHINGTON
«Sticks andstones will break my bones,
but words will never harm me», lautet
ein altes,aber aktuelles Kinderlied in
denUSA. Stöcke und Steine brechen die
Gebeine, (Schimpf-)Worte sind harm-
los, so die Moral derPopulärversion des
First Amendment, des US-Verfassungs-
zusatzes zurRedefreiheit. Unter eben-
diesenTitel «Sticks & Stones» stelltder
US-KomikerDaveChappelle sein neues
Netflix-Special. Das ist eine faireWar-
nung: In der gut einstündigen Nummer
fliegen die verbalenFetzen, er beleidigt
tatsächlich, so viel er kann.
Dave Chappelle stellt diePädophilie-
vorwürfe gegen MichaelJackson infrage
und mokiert sich zehnJahre nach dem
Tod des King ofPop über dessen Op-
fer. Er zieht den schwarzen Schauspie-
lerJussie Smollett für seine Geschichte
eines vorgetäuschten «hate crimes» in
Chicago durch den Kakao, dann ver-
giesst er Spott über die LGBTQ-Men-
schen, die beinah die Hälfte des Alpha-
betskolonialisiert hätten.
Derweil bricht Chappelle eineLanze
für dieKomiker LouisC.K. undKevin
Hart. Hart war wegen eines bereits zehn
Jahre alten, angeblich homophoben
Tweets von Online-Aktivisten zumVer-
zicht auf die Moderation der Oscarver-
leihung gezwungen worden. LouisC.K.
ist wegen seiner Masturbationsübungen
vor weniger privilegiertenKomikerkol-
leginnen vor zweiJahren öffentlich ver-
senkt worden.
«Jagdsaison für Prominente»: So be-
schreibt Chappelle die gegenwärtige Si-
tuation. Nie sei seinJob alsKomiker
schwieriger gewesen.Unschwer erkennt
man, gegen wen sich Chappelles satiri-
sche Salverichtet: «Sticks & Stones»
nimmt die beleidigten Leberwürste der
«cancel culture», der jüngsten Inkarna-
tion derKorrektheit, frontal aufsKorn.
Gegen die neueUnkultur
Seit rund einemJahr immer geläufiger,
ist dasWort «cancelled» – gestrichen,
abgemeldet, vernichtet – in den USA
bereits zum geflügeltenWort geworden.
Unter dem Begriff «cancel culture» fasst
man den allgegenwärtigenVersuch, auf
(a-)sozialen Netzwerken eine unlieb-
samePerson des öffentlichen Lebens
zu ächten, von Mundtotmachung über
Boykott bis zurVernichtung.
Die erste Stufe der «cancel culture»
heisst «call-out»: derAufschrei über eine
Verfehlung. Folgen demAufruf zurVor-
verurteilung die Horden aufTwitter und
dergleichen,kommt eskollektiv zur ver-
suchten De-Existenzialisierung. «Cancel
culture» ist eine Spielart des Liebesent-
zugs: Dem Ziel soll die Grundwährung
der Aufmerksamkeitsökonomie ent-
zogen werden – jeglicheForm digitaler
Aufmerksamkeit halt. Und weil «cancel
culture» selbstAufmerksamkeit für die
tugendhaften Diffamierenden gene-
riert, vergeht kaum einTag, an dem nicht
irgendeine Prominente irgendeinesVer-
gehens bezichtigt wird.
Naturgemäss lenken versuchter
Aufmerksamkeitsentzug und Aufruf
zu Boykott erstrechtAufmerksamkeit
auf die verpöntePerson.Für manchen
Vertreter der Prominenz gehört es da-
her bereits zum gutenTon, Opfer eines
«cancel»-Versuchs geworden zu sein.
Der alsTr ump-Versteher und -Unter-
stützer gebrandmarkteRapper Kanye
West zum Beispiel hat es darin zu einer
gewissen Meisterschaft gebracht. Plap-
pert er etwa ins Blaue, dass er 400
Jahre Sklaverei als freieWahl der Afro-
amerikaner der USA erachtet, ist ihm
ein #Cancel-Hashtag mit Skandal ge-
wiss, ebenso wie Platz 1 seines neusten
Albums in den Charts.
«Cancel culture» ausschliesslich als
eitle Marketingvariante zu verdächtigen,
wäre allerdings zu kurz gegriffen. In aus-
gewähltenFällen funktioniert die Sache
ganz passabel. Nicht nur von LouisC.K.,
auch vonKevin Spacey hört man ausser
Updates aus der Gerichtsberichterstat-
tung zur Anklage wegen aggressiver
Grabscherei an Minderjährigen nichts.
Dasselbe gilt für HarveyWeinstein.
Schwerwiegender als justiziableVer-
fehlungen Prominenter lastet die «cancel
culture» auf Otto Normalverbrauchern,
dieauf blossenVerdacht ins Faden-
kreuz von «cancel»-Mobs geraten.Vom
Schicksal der PR-FachfrauJustine Sacco,
die nach einem dümmlichenJux- Tweet
2015 auf demWeg nach Südafrika öffent-
lich abgestraft wurde, bis zu den #Me-
Too-Kopfschmerzen des Journalisten
Jonathan Kaiman – Beispiele für durch
«cancel culture» aus derBahn geworfene
Karrieren oder Leben gibt es zuhauf.
Interessant an der «cancel culture»
ist dieWortwahl. Etymologisch geht
der Begriff auf die Kanzel in der Kir-
che zurück. Die «cancelli» waren die
Gitter und Schranken, die den Chor-
raum vom Kirchenschiff trennten (da-
her wohl noch heute die englische Be-
deutung von durchkreuzen bzw. durch-
streichen).Von diesem Ort wetterte der
Prediger gegen Sünden und Sünder in
seiner Gemeinde. Der erhöhte Ort der
Kanzel eignete sich dazu besser – ebenso
wie das Lesepult des Gelehrten, wenn
dieser Abtrünnige der akademischen
Orthodoxie abkanzelte.
Fundamental: Unabhängigkeit
Genau dieseLynchjustiz der «cancel
culture», die verdächtigte Sünder ohne
geregeltesVerfahren verschwindenlas-
senwill, prangertDavid Chappelle gna-
denlos an – selbst aufdas Risiko hin,
dass er selbst Zielscheibe der «cancel
culture» werdenkönnte.
Gross ist diese Gefahr nicht. Zwar
fiel sein Programmauf demPortalRot-
tenTomatoes durch – allerdings nur
beiKulturjournalisten aus dem linken,
Korrektheit-freundlichen Medienspek-
trum.Das normale Publikum dagegen
gibt «Sticks & Stones» eine zu 99 Pro-
zent positiveWertung – genau wiekon-
servativeFeuilletons von«Wall Street
Journal» bis «Breitbart», die Chappelle
regelrecht abfeiern.
Ein Komiker afroamerikanischer
Herkunft mit asiatischstämmiger Ehe-
frau passt auch nicht so gut in «cancel»-
anfällige Kategorien wie weiss, männ-
lich, alt, patriarchalisch und heterosexu-
ell. Und sowieso,bei seinem Netflix-
Deal von 60 Millionen Dollar für fünf
Comedy-Stücke («Sticks & Stones» ist
bereits deren drittes), istDavid Chap-
pelle finanziell unabhängig – die ange-
drohte «cancellation» hatkeine Zähne.
Eine vernünftigeBasis hat dieKri-
tikan Chappelle sowieso nicht. Denn
in «Punchline»,dem Überraschungs-
Bonusprogramm, das am Ende von
«Sticks & Stones» auf Netflix an-
schliesst, sagt Chappelle, worum es
ihm eigentlich geht:«Wenn du zueiner
Gruppe gehörst, über die ich mich lus-
tig mache», so erklärt Chappelle dort,
«dann ist das vielleicht, weil ich mich
selber in dir sehe.»
Lacht man über andere,lacht man
zuallererst über sich selbst, entdeckt
Gleichheiten und schlägt Brücken von
Mensch zu Mensch. Entwaffnender und
treffender kann man dasWesen von
Satire nicht beschreiben.
Braucht es nach Harald Szeemann noch Kuratoren?
Der Ausstellungsmacher führte vor, dass neue Kunst eine andere Art des Zeigens verlangt
GABRIELE DETTERER
War Harald Szeemann entgegen seiner
AbsichteinWegbereiter der Eventkultur?
Enthielt dasKunstverständnis des leiden-
schaftlichenAusstellungsmachers (1933–
2005) garKeime derAuflösung kuratori-
scher Praxis? Zu dieser überraschenden
Sicht auf dasWirken des international er-
folgreichen SchweizerKurators animiert
die vonRomanKurzmeyer verfasste
Analyse «Zeit des Zeigens: Harald Szee-
mann,Ausstellungsmacher».Doch der
Reihe nach. Zunächst liest sich die Ab-
handlung desAutors alskompaktes Er-
innerungswerk der LeistungeneinesVor-
bilds undWegbereiters für eine neue Art
des Zeigens.
Ausführlich vergegenwärtigt werden
Quellen, die den legendärenKurator
dazu inspirierten, Gegenmodelle zu her-
kömmlichen, auf Einzelwerke bezogenen
Ausstellungen zukonzipieren. Zu diesen
Quellen zählenetwaAbyWarburgs Mne-
mosyne-Bilderatlas,AlfredJarrys Imagi-
nationen, Marcel Broodthaers’Künstler-
museum.Kenntnisreich erinnertKurz-
meyer an Szeemanns Grundidee, Kunst-
präsentationen so zu gestalten, dass
die Intensität künstlerischer Intentio-
nen erlebbar wird.Paradebeispiel da-
für war«When Attitudes BecomeForm»
1969 in Bern: Aktiv waren dieKünst-
ler an der Installation dieser Schau be-
teiligt, eng waren die Beziehungen zum
Ausstellungsmacher,der seineAutori-
tät und seine Leitfunktion flexibel dem
Kontext anzupassen wusste. So begann
im Einklang mit den progressiven künst-
lerischenPositionen eine neue Zeit des
Kunstzeigens, die den tradierten Begriff
des Museumsraums kritisch gegenlas und
erneuerte.
Zeit des Zeigens imWandel
Während der Lektüre vonRomanKurz-
meyers detailreicherVergegenwärtigung
des Lebenswerks Szeemanns drängt sich
der Gedanke auf, dass imKern dieses
Neuansatzes vonKunstpräsentation be-
reits dieAufhebung der Arbeit desKura-
tors angelegt seinkönnte. Denn Szee-
mannsAusstellungspraxis führte exem-
plarisch vor, dassim Zuge der sich verän-
dernden Ästhetik visuellerKunstformen
auch eine andere Zeit des Zeigens her-
aufdämmern muss. Zudem verlangt das
Credo «Intensität» zwangsläufig nach
steigerungsfähigen Stimuli künstleri-
scher Präsentation und nach mehr Nähe
zu den Akteuren.Damit tretenKünstler
alsAusstellungsmacher in denVorder-
grund und die Allpräsenz desKurators
in den Hintergrund.
Kurzmeyer formuliert das in seiner auf
seinenRückblick folgenden Gegenwarts-
analyse so: Es gelte dieFixierung auf den
Kurator zu lösen und wieder vermehrt auf
neuartige künstlerische Prozesse zu ach-
ten,in denen dieAusstellung als Medium
neukonfiguriert werdenkönnte. Folglich
wendeten sich seineAusführungen an die
Künstler selbst, erklärt er, und nicht an
Kuratoren.
Diese Absicht erscheint im vorliegen-
den Buch schon alsVolte: Einerseits wird
ein aussergewöhnlicherKünstlerkurator
gefeiert,anderseits wird an der gängigen
Ausstellungspraxis entscheidungsmächti-
gerKuratoren gesägt. Oder ist das eine
Notoperation, um eine angezählte Pro-
fession zuretten?Tatsächlichkonzipie-
ren heutzutageKünstler vonWeltrang
ihre Schauen selber. SoJulian Schnabel
oderWolfgangTillmans, und auchJeff
Koons neulich im Ashmolean Museum
in Oxford, wo er lediglich assistiert wurde
von einem Gastkurator.
Doch nicht diese Stars hatKurzmeyer
im Blick, sondern er demonstriert am
Beispiel desWerkansatzesvon Pierre
Huyghe und Liam Gillick, wieKünst-
ler dasAusstellungsformat als authenti-
scheAussage überKunst autonom ausge-
stalten. Zweifellos hat das vonKünstlern
durchgesetzte Prinzip, eine Schau selber
zu inszenieren, nicht nur für dieKurato-
renschaft,sondernauch für Museen, den
Ausstellungsbetrieb und Narrative der
Kunst insgesamtKonsequenzen.
Obsession
ZentraleTr eiber dieser Entwicklung – das
lässt sich der Analyse desAutors hinzu-
fügen – sind bei weitem nicht nur neue
Werkformen und Interessenlagen der
Künstler, sondern auch eineReihe all-
gemeiner gesellschaftlicher Entwicklun-
gen. Nehmen wir den Begriff der Obses-
sion. Diese Eigenschaft lebte Szeemann
auf lustvoll verschwenderische, koope-
rative, gesprächsoffene, diskursfreudige,
ergo zeitintensiveWeise. Haben solche
Verschwender im weit gesteckten Pro-
gramm der Museen noch eine Chance?
Wennkostensparende Effizienz auf allen
Ebenen musealer Organisation Priorität
hat, werdenKuratoren bald überflüssig.
Zudem geht dieKunstbetrachtung on-
line, ohne kuratorisches Zutun. Ein Klick
auf Links imWeb zeigt, dass der Bild-
schirm digitalerKommunikationsmittel
zumMedium des Zeigens von Gegen-
wartskunstavanciert.Verflachte Minu-
ten-Kunst aber wird vonWebdesignern
kreiert und programmiert.Hinsichtlich
dieser Zäsuren im digitalen Zeitalter
überrascht es schon, dassRomanKurz-
meyer darüber nachsinnt,ob die Be-
deutung vonAusstellungen für die ge-
sellschaftliche Erneuerung immer noch
unterschätzt werde.
Zutreffend ist vielmehr, dass Museen,
Biennalen, die Documenta Kassel den
komplexer werdenden Zwängen globa-
lerKulturproduktion undKonkurrenz
unterworfen sind. ZumRenommee der
Events als Marken tragen in ersterLinie
die Namen gefeierterKünstlerstars bei.
Wenn diese zusätzlich noch die Insze-
nierung der Schau selber choreografie-
ren und signieren, umso besser für den
Ticketverkauf.
Unwiderruflich im Gestern versinkt
derKosmos des Harald Szeemann. Er
setzte alles daran,mehr zu zeigen und
offenzulegen,alsKunstobjekte und deren
oft selbstverliebte Urheber gewillt und
fähig sind, uns sichtbar zu machen. Ein
Vorbereiter der Eventkultur war Szee-
mann gewiss nicht. Denn ein tragender
Eckstein seinerWelt gründete auf einem
universellenKunst- undKulturbegriff.
Dieser Eckstein findet sich in der heu-
tigen Zeit just durch kurzsichtigekom-
merzielle Eventkultur undKulturrelati-
vismus zerbröselt.
Roman Kurzmeyer: Zeit des Zeigens:Harald
Szeemann, Ausstellungsmacher. Edition Vol-
demeer, VerlagDeGruyter, Zürich 20 19.
27 2S., Fr. 42.50.
Harald Szeemann 1972 mit einemAssistenten in einemBüroder Documenta5inKassel. DPA / KEYSTONE
Szeemann zeigte mehr,
als Objekte und
selbstverliebte Urheber
gewillt und fähig sind,
sichtbar zu machen.