Neue Zürcher Zeitung - 20.09.2019

(Ron) #1

64 FORSCHUNG UND TECHNIK Freitag, 20. September 2019


HAUPTSACHE, GESUND


Zahn


um Zahn


Von Ronald D. Gerste


Es war der letzte Grillabend diesesSom-
mers. Das Steak warköstlich,doch der
Genuss wurde getrübt, als ich auf etwas
Hartes biss. DerVerdacht auf ein Stück
Knochen bestätigte sich nicht, stattdes-
sen hielt ich die abgebrochene Krone
einesBackenzahns in den Händen.
Das rapide Absinken meinerLaune
hatte weniger mit dem harmlosen Zwi-
schenfall zu tun als vielmehr mit meiner
tiefsitzenden Angst vor einem Berufs-
stand, der sich als ein grosser Segen er-
weisen kann – wenn man es denn mit
einemKönnerdesFachszutun bekommt:
dem Zahnarzt.Wahrscheinlich ist meine
Furcht das Ergebnis einer bösen Kind-
heitserinnerung.Mein erster Zahnarzt
arbeitete mit einem Bohrer, der ein ent-
setzliches kreischendes Geräusch von
sich gab, noch bevor seine Spitze in den
kindlichen Zahnschmelzeinfuhr.
Glücklicherweise hat sich in der
Zahnheilkunde seit diesen finsterenTa -
gen viel getan. Eines ist aber geblieben:
Für dasWohlbefinden entscheidend
sind das manuelle Geschick des Den-
tisten und sein Einfühlungsvermögen.
Ich hatte Glück:Meine Zahnärztin war
exzellent und erstickte meine Beklom-
menheit im Keim.Während ich be-
ruhigt auf dem Stuhl lag und den Blick
über die Schautafeln des Behandlungs-
zimmers gleiten liess, wurde mir wieder
einmal bewusst, welch kleineWunder-
werke wir im Mund haben – und wie
wichtig ihreGesundheit ist.
Dies gilt nicht nur für den täglichen
Akt der Nahrungsaufnahme. Die meis-
ten Organe bemerken wir erst, wenn
ihnen etwas fehlt.Auch unsere 32 Zähne
sind ein Garant für Gesundheit – oder
können diese, anders betrachtet, nach-
haltig gefährden. DieWissenschaft hat
inzwischen so viele Zusammenhänge
zwischen kranken, oft auch einfach un-
gepflegten Zähnen und Erkrankungen
belegt, dass sie leicht ein ganzes Lehr-
buch zur menschlichenPathologie fül-
lenkönnten.
Vor allem die sich im Gebiss ansam-
melndenBakterien – die krank machen-
den, nicht die «guten»Keime der nor-
malen Mundflora –können als Herd
einer Infektion wirken, die unterschied-
liche Organe befallen kann. Die wohl
gefährlichsteFolge ist die Entzündung
der Herzklappen. EinedurchBakterien
hervorgerufene Zahnfleischentzündung
kann auch das ungeborene Leben be-
drohen – dieParodontitis ist jedenfalls
als Risikofaktor für eineFrühgeburt
identifiziert worden. Manchmal wan-
dern die Erreger aus dem Mund aber
nicht bis ins Herz oder in die Gebärmut-
ter,sondern schaden gleich in der unmit-
telbaren Umgebung.Sosind zahlreiche
Infektionen des Gehörs und derAugen
mit dem assoziiert,was man früher
etwas drastisch «faules Gebiss» nannte.
Natürlich kann man verhindern, dass
es so weitkommt.Das seit Generationen
empfohlene zweimalige Zähneputzen
täglich ist ein erster Schritt, der durch
eineregelmässige professionelle Zahn-
reinigung beim Zahnarzt ergänzt wer-
den sollte. Und in derTat vermeinte ich
einen mahnenden Unterton bei meiner
Retterin amTag nach dem missglückten
Grillieren zu vernehmen – eine solche
Reinigung wäre bei mir schon längst fäl-
li g gewesen.Dass sich unter der abge-
brochenen Kronekeine Karies finden
li ess, hörte ich mit Erleichterung. Die
Zahnärztinzementierte die Krone neu.
Glücklich und mit dem festenVorsatz,
mehr für meine Zähne zu tun, verliess
ich die Praxis.

Betrunken nach einem alkoholfreien Süssgetränk


Eini ge Darmbakterien produziere n so viel Alkohol, dass ihre Träger ständig alkoholisiert sind.


LENASTALLMACH


Es begann mit einemPatienten in einem
Spital inPeking. Der Mann war oft ange-
trunken, obwohl erkeinen Alkoholkon-
sumierte,wie er beteuerte.Die Ärzte
stellten fest, dass seine Leber verfettet
und entzündet war wie bei einem Alko-
holiker. Erwies zudem Blutalkoholwerte
von bis zu 0,4 Promille auf– einWert, den
ein Mann nach drei GläsernWein in zwei
Stundenerreicht. Doch weitere Unter-
suchungen zeigten, dass nicht Alkohol-
konsum dieWerte ansteigen liess, son-
dern zuckerhaltige Getränke.^1
Das Phänomen ist als Eigenbrauer-
Syndrom bekannt.Schon früher wur-
den einzelneFälle beschrieben, aber
hier waren es Hefen, die imDarm der
Betroffenen Zucker zu Alkoholver-
goren. Die chinesischen Ärzte fanden
zwarkeine Hefen im Stuhl desPatien-
ten. Aber sie stellten fest, dassDarm-


bakterien der Art Klebsiella pneumo-
niae im Stuhl des Mannes stark vertre-
ten waren. Ihre Zahl war 900-mal höher
als bei gesundenKontrollpersonen.
Auch Bakterien vergären Zucker
in Alkohol, allerdings nur in geringen
Mengen, die sich im Blut kaum bemerk-
bar machen. Doch zwei derBakterien-
stämme desPatienten produzierten vier
bis sechs Mal so vielAlkohol wie nor-
mal. Offenbar waren sie die Quelle für
den hohen Alkoholgehalt im Blut des
Mannes. Tatsächlich befreite ihn eine
Antibiotika-Therapie von den Alkohol
produzierendenBakterien, und nach
einer speziellen Diät erholte sich auch
die Leber. So abstrus die Geschichte
klingt, weitere Untersuchungen der
Forscher deuten darauf hin, dass eskein
Einzelfall ist.
In industrialisiertenLändern ist die
nichtalkoholische Lebererkrankung
häufig. Mehr als einViertel der Men-

schen haben eine solcheFettleber, die
teilweise Entzündungen aufweist – eine
Vorstufe der Leberzirrhose. Meist geht
eine Fettlebererkrankung mit Überge-
wicht oder DiabetesTyp 2 einher.Aber
womöglich steckten in manchenFällen
auch Alkohol produzierendeBakterien
dahinter, dachten dieForscher.
Sie suchten daher im Stuhl von 43
Patienten mit einerFettleber oder einer
Leberentzündung und von 48 gesunden
Menschen gezielt nach diesenBakte-
rien. Bei 60 Prozent derPatienten fan-
den sie Klebsiella-pneumoniae-Stämme,
die mittlere bis hohe Mengen Alkohol
produzierten.Beiden gesundenProban-
den waren es nur 6 Prozent.
Um genauer zu untersuchen, ob die
Bakterienstämme alsVerursacher der
Lebererkrankung infragekommen, füt-
terten dieForscher Mäuse drei Monate
lang mit den Alkohol produzierenden
Bakterienstämmen des erstenPatien-

ten.Das hatte den gleichen Effekt auf
die Leber derTiere, wie wenn sie täglich
Alkoholkonsumierten.
Damit ist zwar nicht abschliessend
geklärt, ob dieBakterien auch bei Men-
schen als alleinigeVerursacher einer
Lebererkrankung infrage kommen.
Aber dieForscher halten es für möglich,
dass sie zumindest bei einer Gruppe von
Patienten einewichtigeRolle bei der Er-
krankung spielen, wie sie in derFachzeit-
schrift «Cell Metabolism» schreiben. Sie
empfehlen daher, bei einer nichtalkoho-
lischen Lebererkrankung den Blutalko-
holgehalt der Betroffenenregelmässig
zu messen und nach denBakterien zu
suchen. Allerdings müssten weitere Stu-
dien klären, ob dieseBakterienstämme
auch in anderenRegionen derWelt so
häufig vorkommen wie bei den Studien-
teilnehmern inPeking.

(^1) Cell Metabolism30, 1–142019.
Annäherung an die Denisova-Menschen
Von manchen archaischen Menschen gibt es kaum Überreste, und somit wissen wir wenig
über ihr Aussehen. Hier könnte n Erbgutana lysen mindestens eine Idee vermitteln.
STEPHANIE KUSMA
Vielkennt man nicht von ihnen: Ein
Knochen eines kleinenFingers,drei
Zähne und ein Unterkieferknochen mit
zweiBackenzähnen – das ist alles, was
man bisher alsFossilien der Denisova-
Menschen identifiziert hat. Diese archai-
schen Menschen waren Zeitgenossen
der Neandertaler und des frühen moder-
nen Menschen: Bis auf einen stammen
alleFunde aus einer Höhle in Sibirien
und sind zwischen 20 000 und 10 0000
Jahre alt. Den über 160000 Jahre alten
Unterkiefer, das einzige Stück, das aus-
serhalb Sibiriens entdecktwurde, fanden
Forscher in einer Höhle auf dem tibeti-
schen Hochland.
Weitere Spuren hinterliessen die
Denisova-Menschen zum Beispiel im
Erbgut heutigerTibeter. Diese besitzen
ein «Denisova-Gen», das denAufenthalt
in grosser Höhe erleichtert. Über das
Aussehen der Denisova-Menschen sa-
gen all dieseFunde jedochnichts.Aller-
dings ist ihr Erbgut bekannt. Und nun
habenForscher versucht, die Anatomie
der Denisova-Menschen aus der DNA-
Sequenz annäherungsweise zurekon-
struieren. Ihre Ergebnisse beschreiben
sie in derFachzeitschrift «Cell».
Dabei schauten sie allerdings nicht
auf die Gene.Von diesen auf dasAus-
sehen zu schliessen, ist nur bei wenigen
Eigenschaften überhaupt möglich und
oft wenig verlässlich. Stattdessen vergli-
chen sie die Aktivitätsmuster im Erbgut
und suchten nach Stellen, die bei Nean-
dertalern, Denisova- und modernen
Menschen unterschiedlichaktiv waren.
SolcheMuster lassen sich auchaus fossi-
ler DNA gewinnen, da die sogenannten
epigenetischenVeränderungen am Erb-
gut, die an derRegulation von Genen
beteiligt sind, beiihrer Zersetzung cha-
rakteristische Spuren hinterlassen.
Dann untersuchten dieForscher, ob
und welcheVeränderungen die unter-
schiedlich aktiven Sequenzen verursa-
chenkönnten. Sie benutzten dazu eine
Datenbank, in derkörperlicheVerände-
rungen bei Erbkrankheiten aufgeschlüs-
selt sind. So erhielten sie Hinweise dar-
auf, ob eine verminderte Aktivität eines
ErbgutabschnittsFolgen nach sich zieht,
und fanden teilweiseauch heraus, wel-
che.Sie beschränkten ihre Suche auf
Merkmale an Skelett und Zähnen, da
die Erbinformationen, die ihnen vor-
lagen, aus diesen Geweben stammten.
Insgesamt identifizierten dieWis-
senschafter um Liran Carmel von der
Hebrew University of Jerusalem 56
Eigenschaften, in denen Denisova-Men-
schen von Neandertalern oder moder-
nen Menschen abwichen. So besassen
sie demnach unter anderem einen ver-
längerten Zahnbogen und einen breite-
ren Kopf als die beiden anderen, hatten
aber wie die Neandertalerkein Kinn,
einenrobusten Kiefer, eine fliehende
Stirn und ein breiteres Becken als mo-
derne Menschen.
Bereits vorher hattenTestläufe unter
anderem mit Schimpansen-Erbgut erge-
ben,dass dieTr efferquote der Methode
gut war. Doch noch während sie an ihrer
Studie arbeiteten,erhielten dieFor-
scher eine viel bessere Bestätigung: Der
Unterkiefer, dessen Beschreibung im
Mai publiziert wurde, passte in sieben
von acht Punkten zu ihrenVorhersagen.
Cell 179, S. 1–13(2019).
Auseiner Analyse des Erbgutes habenForscher einPortrait einesDenisova-Mädchenserstellt. MAAYAN HAREL
Denisova-Menschen
besassen ei nen breiteren
Kopf als Neandertaler,
hatten aber wie diese
kein Kinn, einen robusten
Kiefer undeine
fliehende Stirn.

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