Freitag, 20. September 2019 OUTDOOR69
Wenn Kletterer sich nach oben hungern
Magersucht ist ein Tabuthema im Alpinismus. Dabei sparen viele Bergsportler auch am eigenen Körper an Gewicht.
Besond ers gefährdet si nd Freizeit- und ältere Kletterer.VON STEPHANIE GEIGER
Angela Eiter war elfJahre alt, als sie
mit dem Klettern begann. Sie sei ein
Talent, wurde ihr schon ganz am An-
fang ihrer Kletterkarriere gesagt,aus
ihr könne eine sehr erfolgreiche Klet-
terin werden.Tatsächlichwurde Eiter
viermalWeltmeisterin, ist dreifache Ge-
samtweltcup-Siegerin, siegte sechsmal
beimRockmaster in Arco, demWim-
bledon der Szene.
Zu verdanken hat Angela Eiter das
nicht nur ihremTalent, sondern auch
ihrem Ehrgeiz.Sie orientierte sich an
ihrem Trainingsumfeld in der Kletter-
halle in Imst inTirol. In der heimischen
Kletterszene und imTraining wurde
vermittelt, dass leichte Kletterer bes-
sere Chancen imWettkampf hätten.
Angela Eiter war elfJahre alt, als sie
eine Magersucht entwickelte. «Ich hatte
als Kind eigentlich einen guten Appe-
tit und ass gern, was mein Magen ver-
trug, allerdings stolperte ich unbewusst
in die Magersucht hinein», erzählt sie im
Gespräch. Bisher hat Angela Eiter nicht
darüber geredet. In ihrerAutobiografie,
die Mitte September erschienen ist, geht
sie aber auch auf dieses ernste Kapitel
ihrer Kletterkarriere ein.
«Den Körper total im Griff»
Auch der Ausnahmekletterer und
-bergsteiger HansjörgAuer, der in die-
sem April amkanadischen HowsePeak
bei einem Lawinenunglück ums Leben
kam, bekannte sich zu seiner Mager-
sucht, nachzulesen inAuers 2017 er-
schienenerAutobiografie. Darin schil-
dert er, wie er Kletterkollegen beim
Essen zusah, obwohl er selbst «extrem
hungrig» war.«Es ist zu einer Her-
ausforderung für mich geworden, den
Körper total im Griff zu haben. Men-
tal stärker zu sein als ich selbst. Ich bin
total krank in meinemKopf», schreibt
Auer. Bei einerKörpergrösse von 182
Zentimetern wogAuer zeitweise nur
noch 56 Kilogramm.
Zwar steht der Bergsport imRuf, ge-
sund zu sein.Wie die beiden Beispiele
zeigen, kanner aber auch krankmachen,
zum Beispiel dann, wenn Bergsportler
nicht nur bei derAusrüstung an Ge-
wicht sparen. Malte Claussen, der Lei-
ter der Sportpsychiatrie und -psycho-
therapie der Psychiatrischen Universi-
tätsklinik in Zürich und der Privatklinik
Wyss AG, sagt: «Sport ist positivkonno-
tiert. Es heisst, Sport und ein psychi-
sches Problem schlössen sich aus. Des-
halb wurde lange Zeit nicht genauhin-
geschaut, und auch ein problematisches
Essverhalten wurde nicht thematisiert.»
Und weiter: «Gewisse Sportarten ber-
gen aber das Risiko eines gestörten Ess-
verhaltens.Auch der Bergsport.»
Ob beim Marathonlaufen oder im
Kunstturnen, beim Mountainbiken,
beim Klettern, beimTrail-Running oder
bei Skitouren, die Rechnung ist ganzein-
fach:Je weniger derSportler wiegt, desto
weniger muss er bewegen. Ist er leich-
ter, ist er meist auch schneller. «Athle-
ten stecken oft in einem Dilemma. Liegt
ihr Gewicht in einem gesunden Bereich,
zeigensie nicht die Leistung, die erwar-
tet wird. Es ist nur ganz schwer möglich,
einen gesundenWegzugehen»,erklärt
Claussen. DieVereine undVerbände
seien gefordert, ihre Athleten entspre-
chend zu unterstützen.
Bernhard Hug, seit neunJahren Be-
reichsleiterSwiss Ski Mountaineering
beim Schweizer Alpenclub (SAC), weiss
um die Problematik.«Ichkenne Skiberg-
steiger, die sich nach ihrer Karriere ge-
outet und erklärt haben, dass sie zeit-
weise mit Magersucht zu kämpfen hat-
ten», sagt er.Als Trainer ist Hug auf
einem schmalen Grat unterwegs.Das
Gewicht spielt im Skibergsteigen eine
entscheidendeRolle. Er spreche es des-
halb alsTrainer auch an, wenn ein Sport-
ler zu schwer sei, sagt Hug. Bei durch-
schnittlich zwanzigWettkämpfen im
Winter und zehnRadrennen oder Berg-
läu fen im Sommer, die manche Athle-
ten noch zusätzlich absolvierten,könne
es sich aber niemandwirklich erlauben,
über längere Zeit zu hungern. Und den-
noch sagt Hug in dem Gespräch auch:
«DieTrainer müssen wachsam sein. Die
Athleten sind nicht das ganzeJahr über
bei uns.Wir sehen sie 25Tage imTraining
und 20 bis 30Tage beiWettkämpfen.Das
gibt nur einen begrenzten Einblick.»
Swiss Ski Mountaineering setzt auf
Prävention. Schon im Nachwuchs-
kader, in das Skisportler ab16 Jahren
auf genommen werden, spielt die Auf-
klärung über gesunde Ernährung eine
wichtigeRolle. «Wir sensibilisieren die
Sportler dafür, dass man nur mit einer
gutenKonstitutionWeltmeister wird
und nicht, wenn dasKörpergewicht am
Limit ist», sagt Hug. Und spätestens bei
der sportmedizinischen Untersuchung,
zu der auch das Ski-Mountaineering-
Team desSAC alsTeil vonSwiss Olym-
pic einmal jährlich verpflichtet ist, falle
auf, wenn ein Athlet zu wenig wiege,
fügt Hug an.
Auf Diät vor der Klettertour
Zu meinen, nur professionelle Skiberg-
steiger, Kletterer, Mountainbiker oder
Trail-Runner verfielen dem Streben
nachGewichtsreduktion, ist ein Trug-
schluss. Profisportler werden überwacht,
Freizeit-Bergsportler haben dieseKon-
trolle nicht.«Doping ist im Breitensport
wei ter verbreitet als bei den Profis. Und
genauso ist es auch bei den Essstörun-
gen», sagt Isabelle Schöffl, Ärztin und
Sportwissenschafterin, die gemeinsam
mit ihrem MannVolker Kletter-,Expe-
ditions-und Skikader des Deutschen
Alpenvereins betreut und darüber hin-
aus auchFreizeitsportler behandelt.
Ihre Erfahrung: «Am meisten Gedan-
ken über ihre Ernährung machen sich
Kletterer. Und es gibt vor allem immer
mehrFreizeitkletterer, die beim Essen
aufpassen.» Schöfflkennt Kletterer,
die sich bewusstkeine Butter aufs Brot
schmieren, um Kalorien zu sparen. Sie
weiss von Kletterern, die vor denFerien
erst noch eine Diät einlegen, um für
schwierigeRoutenein paar Kilos ab-
zun ehmen. Und viele wüssten genau,
wie lange sie zwischen den Nahrungs-
au fnahmenPause machen müssten, um
keine Insulinspitzen zu erzeugen, oder
wie sieKohlehydrate mit Eiweisskom-
binieren dürften.
Besonders gefährdet seien laut
Schöffl Kletterer,die ihren Leistungshö-
hepunkt überschritten hätten. «Ältere
Athleten, die durchTraining nicht mehr
besser werden und ihren eigenen Erfol-
gen hinterherrennen, drehen an ande-
ren Stellschrauben underkundigen sich
nach Diäten», erzählt Isabelle Schöffl.
Besonders tragisch: Sie weiss voneinem
Kle tterer , der längst schon in den Sech-
zigern ist und der wegen seines Sports
fast schon sein ganzes Leben lang an
einer Anorexie leidet. «Es kann einen
Menschen für immer zerstören, wenn
ihm im Alter von15 Jahren gesagt wird,
dass er leicht sein müsse, um klettern zu
können», sagt Isabelle Schöffl.
«Les grimpeurs se cachent pourvo-
mir» (Die Kletterer verstecken sich,
um zukotzen), heisst aus gutem Grund
eine Route im französischen Ver-
don.Es sind nur wenige Kletterer, die
sich aus der Deckung wagen und Ess-
störungen offen zugeben. Angela Eiter
jedenfalls hat ihre Magersucht über-
wunden. Um wieder in derTrainings-
gruppe mitmachen zu dürfen, musste
sie essen.Das wardie Bedingung des
Trainers. Und sie hatte ein verständnis-
volles Umfeld, das ihr dabei half. Aller-
dings ist diese Episode ihrer Kletter-
karriere nicht ohne Spuren an ihr vor-
übergegangen.Sie leidet heute unter
chronischen Magen-Darm-Beschwer-
den,die siezwar nicht ausschliesslich,
aber doch auch auf die Magersucht in
Kindertagen zurückführt.
Angela Eiter: Alles Klettern ist Problemlösen.
Wie ich meinen Weg nachoben fand. Tyrolia-
Verlag, Innsbruck/Wien 2019. Fr. 26.90.
Hansjörg Auer: Südwand: Vom Free-Solo-Klet-
terer zum Profiber gsteiger. Malik-Piper-Verlag,
München 2017. Fr. 27.90.
Die Rechnungist einfach: Je weniger der Sportler wiegt, destoweniger muss er bewegen. Ist er leichter,ist er meist auchschneller. ALAMY
«Les grimpeurs
se cachent pour vomir»,
heisst eine Route im
französischen Verdon.
«Doping ist im
Breitensport weiter
verbreitet als bei den
Profis. Und genauso
ist es auch bei
den Essstörung en.»
Isabelle Schöffl
Ärztin undSportwissenschafterin