Die Welt Kompakt - 18.09.2019

(vip2019) #1

DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MITTWOCH,18.SEPTEMBER2019 FORUM 15


W


infried Kretsch-
manns Entschluss,
zum dritten Mal
Ministerpräsident in
Baden-Württemberg
werden zu wollen, wäre aussichtslos,
ginge es nach Markus Söder oder Chris-
tian Lindner. Sie und einige andere
Politiker (die AfD sogar als Partei) sind
für eine Amtszeitbegrenzung in Spit-
zenposten. Besonders im Bundeskanz-
leramt. Die Regierungschefin soll ihr
Büro beizeiten wieder räumen – so wie
in den USA. Die AfD will die Kanz-
lerschaft auf acht Jahre begrenzen, die
Politiker anderer Parteien auf längstens
zehn Jahre. Damit das klappt, möchten
sie entweder einen Kanzlerwechsel zur
Mitte der dritten Amtsperiode einfüh-
ren oder den Bundestag alle fünf Jahre
wählen lassen. Regelmäßig ein frisches
Gesicht im Kanzleramt – das, finden die
Befürworter, wäre ein Fortschritt.
Motiviert sind manche dabei durch
politische Entscheidungen, die ihnen als
Fehler gelten. Ohne Helmut Kohls vier-
te Amtszeit hätten wir den Euro nicht,
ohne Angela Merkels dritte Amtszeit
keine Flüchtlingskrise. Die Vorstellung,
in Einzelfragen wäre bei befristeter
Kanzlerschaft alles anders gelaufen,
weckt große Gefühle. Es wäre in der Tat
manches anders gelaufen. Zum Beispiel
im Herbst 1989, als Kohls zweite Amts-
zeit sich dem Ende zuneigte. Ohne
Aussicht auf Wiederwahl wäre er auf
dem CDU-Parteitag im September 1989
mit Sicherheit gestürzt worden. Ver-
sucht haben Lothar Späth und Heiner
Geißler es ja. Mit Kohls Zwangsrente
vor Augen hätten sie es entschlossen
durchgezogen, um die Bundestagswahl
1990 für den neuen Kandidaten Späth zu
retten. Späth aber hatte nicht Kohls
außenpolitische Statur. Mehr noch: Er
und seine Verbündeten wollten die DDR
anerkennen. Weg mit den Sonntags-
reden aus der Adenauerzeit, sonst ver-
lieren wir gegen Oskar Lafontaines SPD
die Wahl! Paris und London hätten das
weidlich genutzt, um die Wiederver-
einigung zu hintertreiben, und die Uni-
on hätte es zerrissen.
Mit einer politischen Galgenfrist für
alle Bundeskanzler wäre auch Gerhard
Schröders Arbeitsmarktreform im An-
satz gescheitert. Eingeleitet in dessen
zweiter Amtszeit, hätten etliche Sozial-
demokraten das Projekt untrennbar mit
der Nachfolgefrage verknüpft. Am Ende
des Streits hätte eher der Kollaps der
SPD gestanden als ein fertiges Gesetz.
Dasselbe gilt für die Euro-Rettung in


Angela Merkels zweiter Amtsperiode.
Berlin wäre als Faktor in Brüssel aus-
gefallen – weil der Streit über den EU-
Kurs als Streit über die Merkel-Nach-
folge die Kanzlerpartei gelähmt hätte.
Das alles wäre so gekommen, weil Bun-
deskanzler nicht die Machtfülle be-
sitzen, die sie brauchen, um bei be-
grenzter Amtsdauer erfolgreich zu sein.
In den USA oder Frankreich funktio-
niert das Amtszeitlimit nur, weil deren
Präsidenten ganz anders schalten und
walten können als die Bundeskanzlerin.
Ein US-Präsident kann mit Verord-
nungen regieren, wo in Deutschland oft
eine zeitraubende Gesetzgebung nötig
ist. Abraham Lincolns Dekret zur Auf-
hebung der Sklaverei ist das berühmteste
Beispiel. Der Regent im Weißen Haus
kann gegen ein Gesetz des Parlaments
sein Veto einlegen. Er braucht weder
einen Koalitionsvertrag, noch ist er von
Mitgliederentscheiden abhängig. Emma-
nuel Macron, der längstens zehn Jahre
regieren darf, hat ebenfalls ein (einge-
schränktes) Vetorecht gegenüber dem
Parlament. Er allein ernennt den Pre-
mierminister, und er darf das Parlament
auflösen. Angela Merkel kann von alle-
dem nur träumen. Verglichen mit Ma-
cron oder Trump, ist sie eine Gefangene
im Kanzleramt. Bundeskanzler müssen
einen Koalitionsvertrag mit Partnern
schließen, die eigene Interessen haben.
Den Vertrag können Kanzler im Allein-
gang nicht korrigieren. Ein Einspruchs-

Bundeskanzler


brauchen Zeit


Die Amtsperioden von Spitzenpolitikern zu


begrenzen gilt vielen als Allheilmittel der Politik.


Doch es wäre falsch. Führungskraft beruht auch


auf Erfahrung. Und Entscheider dürfen nicht


immer unter Zeitdruck stehen


TORSTEN KRAUEL

LEITARTIKEL


Hätte Helmut


Kohl nur zwei


Amtszeiten


regiert, gäbe es


wohl keine


Deutsche Einheit


recht gegen Bundestagsgesetze steht
nicht Merkel zu, sondern dem Bundesrat.
Dort hat oft die Opposition die Mehrheit.
Im Idealfall sind sich in einer Ko-
alition zu Beginn alle einig. Sobald aber
der Anfangsschwung verbraucht ist, ist
deutsches Regierungshandeln unend-
lich kompliziert. Gerhard Schröders
Büroleiterin wird der Satz zugeschrie-
ben, man habe sich aus Hannoveraner
Sicht falsche Vorstellungen über die
Verantwortungsbürde im Kanzleramt
gemacht. Bundeskanzler mit ihren be-
schränkten Machtmitteln brauchen
Zeit, um wirklich entscheidungssicher
und krisenfest zu werden. Sie brauchen
auch Zeit, um in der EU Einfluss zu
gewinnen. Kanzler stehen nicht alle
acht Jahre fertig gebacken bereit.
Wenn die Koalitionspartner sich
streiten, kann Merkel weder mit einem
Dekret noch mit einem Veto drohen.
Kanzler können nur moderieren, ihre
eigene Partei auf sich einschwören und
Koalitionspartner mit Kompromissen
überzeugen. Ähnliches gilt für die deut-
sche Rolle in den EU-Gremien und in
der Welt. Kanzler brauchen inzwischen
Sachkenntnis weit über deutsche The-
men hinaus, oft bis ins Detail. Sie müs-
sen spüren, was einem Koalitionspart-
ner, einem Bundesland, einem EU-
Partner, einem G-20-Partner zumutbar
ist. Sie brauchen deutsche, europäische,
weltweite Netzwerke. Sie auszubilden
und besonders sie mit Vertrauen zu
füllen braucht Zeit. Ohne Amtszeitlimit
funktioniert das, aber auch nur dann.
Kanzler ohne Trumps oder Macrons
Machtfülle, die in Rente gehen müssen,
kaum dass sie politisch trittsicher sind,
können solche Autorität vergessen.
Wenn alle acht Jahre eine neue Lage
programmiert ist, hören Abgeordnete
lieber gleich auf die möglichen Nach-
folger als auf eine Kanzlerin, die ohne-
hin bald wieder weg ist. Dasselbe tun
EU-Partner oder G-20-Chefs.
Parteien brauchen stabile Regie-
rungserfahrung, um verlässlich hand-
lungsfähig zu werden. Hier kommt
Kretschmann ins Spiel. Er kann durch
die pure Wirkung eines dritten grünen
Wahlsieges die Gewichte bei den Grü-
nen verschieben — aber eben nur dann.
Erst die dritte gewonnene Wahl lässt
die bisherige Reduktion seiner Welt-
sicht auf eine rein personengebundene
grüne Anomalität verschwinden. Erst
mit Kretschmanns stabiler Verankerung
im grünen Flügelspektrum hätten die
Grünen die Chance zur Volkspartei.
Umgekehrt zeigt die FDP, was ge-
schieht, wenn in einer Partei solche
lange Regierungserfahrung fehlt und
Führungspersonal zu rasch wechselt.
Auch deswegen wurde Merkels zweite
Amtszeit fast zum Desaster. Glück-
licherweise war es nicht die letzte. Mit
bitterem Streit in der Union über Mer-
kels Nachfolge hätte die Bundestags-
wahl 2013 als Scherbengericht geendet.
Die Stärke deutscher Politik sind
belastbare Kompromisse. Dafür braucht
man Bundeskanzler, die nicht unter
Zeitdruck stehen. Führte man eine
Amtszeitbegrenzung ein, ohne den
Kanzlern mehr Machtbefugnis zu geben,
würde die ständige Unruhe der GroKo,
vielleicht sogar die Instabilität Groß-
britanniens, zum deutschen Normal-
zustand. Es sei denn, wir bekämen eine
Präsidialdemokratie. Will das jemand?
[email protected]

ǑǑ


KOMMENTAR

MICHAEL STÜRMER

Ernstfall


am Golf


D


ie Schalen des Zorns sind bis
zum Rande gefüllt. Krisen
und Kriege im Nahen Osten
treiben einander immer weiter in
Richtung unbekannt. Die Ölmärkte
weltweit zittern, und die industriel-
len Demokratien fürchten das Ge-
spenst der Rezession. Ein stabilisie-
rendes Eingreifen der Weltmächte,
von Europa nicht zu reden, erscheint
kaum vorstellbar.
Der Drohnenangriff auf das wich-
tigste Ölterminal Saudi-Arabiens ist
noch keineswegs geklärt. Verschiede-
ne Urheber kommen in Betracht. Am
meisten die Iraner, die in den ver-
gangenen Jahrzehnten nicht nur an
Atomwaffen gearbeitet haben, son-
dern auch Hybridkrieg geübt und
immer mehr in Szene gesetzt haben.
Sie vom nuklearen Feuer fernzuhal-
ten war Ziel des „Fünf-plus-eins-
Prozesses“, den der US-Präsident
unter lauten Verwünschungen gegen
seinen Vorgänger gekündigt hat. Was
innenpolitisch kontrolliertes Manö-
ver sein sollte, ist längst weltpoliti-
sches Würfelspiel geworden.
Wie es weitergeht, wird von zu
vielen Dimensionen bestimmt, als
dass logisch begründete Voraussagen
zu machen wären. Die Weltmächte
haben genug mit sich und ihren Riva-
litäten zu tun. Die Hauptkonflikte der
Region werden deshalb weiter be-
stehen und eher zunehmen als einge-
dämmt werden. Zwischen Saudi-Ara-
bien und dem Iran stehen nicht nur
Ölinteressen, bittere Erinnerungen an
den langen Krieg der 80er-Jahre, nu-
kleare Waffenprojekte und ein Ringen
um Hegemonie. Es geht auch um das
Feuer der Religion, Schiiten gegen
Sunniten, und Bevölkerungsdruck.
Im Iran ringen schwache Reform-
kräfte, auf die der Westen gesetzt
hat, mit den religiös-radikalen Kräf-
ten, die ihre eigene Armee, Luft-
macht und Seemacht entwickelt
haben. Dass sie einer Politik der
Deeskalation zustimmen, ist unwahr-
scheinlich. Ihr Interesse ist Kon-
frontation und Mobilisierung der
Gesellschaft. Der Iran tut alles, um
den Saudis ein strategisches Rück-
spiel aufzuzwingen und Syrien und
den Libanon zum Aufmarschgebiet
gegen Israel zu machen. Israel tut
alles, um ebendies zu verhindern.
In Teheran sind nicht die Schlaf-
wandler von 1914 unterwegs, sondern
scharf kalkulierende Strategen – die
sich allerdings auch irren können.
Der Drohnenangriff zeigt lehrbuch-
artig, wie Hebelwirkung im unerklär-
ten kleinen Krieg wirkt: bei gerin-
gem Aufwand und hohem Risiko ein
Maximum an Erfolg. Zum strategi-
schen Kalkül gehört, dass die Ver-
suchung siegt, die Krise zu eskalie-
ren, statt sie einzudämmen. Es muss
wohl erst noch schlimmer kommen,
bevor so etwas wie Frieden eine
Chance bekommt.
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