Die Welt Kompakt - 18.09.2019

(vip2019) #1

KULTUR DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MITTWOCH,18.SEPTEMBER2019 SEITE 20


W

o versteckt man
Botschaften, die
niemand zu Ge-
sicht bekom-
men darf? Entweder dort, wo
sich niemand hintraut, oder
dort, wo sie niemandem auffal-
len. Egidius Arimond wählt bei-
de Möglichkeiten. Seine Tage-
buchaufzeichnungen, begin-
nend im Januar 1944, legt er in
einen doppelten Boden in ei-
nem seiner Bienenstöcke. Wel-
cher Gestapo-Mann oder wel-
cher Feldjäger würde darin zu
wühlen beginnen? Und die Kas-
siber, mit denen er von Wider-
standskämpfern aufgefordert
wird, einem Flüchtling über die
Grenze zu helfen, die stecken in
einem dicken, rindsledergebun-
denen Buch in der Bibliothek,
das Statistiken über den Blei-
erzabbau dieser Eifelregion im


  1. Jahrhundert enthält. Wer
    würde darin zufällig blättern?


VON RICHARD KÄMMERLINGS

Egidius Arimond, der Erzäh-
ler von Norbert Scheuers Ro-
man „Winterbienen“ (erschie-
nen bei C.H. Beck), ist ein ein-
facher Mann in komplizierten
Zeiten und zugleich ein Uni-
kum. Während sein Bruder als
Jägerpilot dient, wurde er we-
gen seiner angeborenen Epi-
lepsie ausgemustert. Einst war
er Gymnasiallehrer, wurde
aber aus dem Schuldienst ent-
lassen. Er widmet sich seinen
Leidenschaften, der Bienen-
zucht, genealogischen Studien
in der Bibliothek – und den
Frauen, die dafür sehr emp-
fänglich sind, denn die meisten
anderen Männer sind an der
Front, und wann sie wieder-
kommen, oder ob überhaupt,

ist ungewisser denn je. Als Epi-
leptiker hat er allerdings unter
den Nazis wenig zu lachen; er
muss froh sein, dass der Hel-
denstatus seines Bruders ihn
vor Schlimmerem schützt. An
Medikamente kommt er nur
gegen viel Geld, das ihm seine
Bienenwachskerzen und Honig
nicht einbringen. Das Geld der
Juden, die er rettet, braucht er
selbst zum Überleben. Ein
Held? Ja, trotzdem.
Dass Norbert Scheuer es in
diesem Jahr auf die Shortlist
des Deutschen Buchpreises ge-
schafft hat, ist eine kleine Sen-
sation (er war bereits einmal
vor zehn Jahren mit „Überm

sation (er war bereits einmal
vor zehn Jahren mit „Überm

sation (er war bereits einmal

Rauschen“ nominiert) und
doch mehr als verdient. Denn
Scheuer, der 1951 geboren wur-
de und in Kall in der Eifel lebt,
hat mit seinen Romanen, Ge-
dicht- und Geschichtenbänden
ein Werk aus vielen Teilen ge-
schaffen, das im Kleinen das
Große und Ganze, in der Fami-
lien- und Lokalhistorie Weltge-
schichte erzählt. „Kall, Eifel“
hieß lakonisch (und auf Sher-
wood Andersons legendären
Kurzgeschichtenzyklus „Wi-
nesburg, Ohio“ anspielend) ein
Band von 2005, der im Kleinen
vorführte, was das ganze
Schreibprojekt ausmacht: Wie
in einem Mosaik setzt Scheuer
aus Splittern und Fragmenten
ein Panorama zusammen.
Auch die Familie Arimond ist
schon aus anderen Büchern be-
kannt. In „Die Sprache der Vö-
gel“ dient Paul Arimond als
Bundeswehrsanitäter in Afgha-
nistan; die Vogelwelt ist für ihn
das, was die Bienen während
eines anderen Kriegs für sei-
nen Verwandten waren: Ge-
genbild zur Gesellschaft,

Flucht aus der menschenge-
machten Sphäre von Krieg,
Tod und Zerstörung.
Der zweite Weltkrieg und die
Nazi-Zeit lässt die Gegenwarts-
literatur nicht los. Schon in den
letzten Jahren haben etwa Ralf
Rothmann („Im Frühling ster-
ben“), Arno Geiger („Unter der
Drachenwand“) oder Ursula
Krechel („Geisterbahn“) mit
den Mitteln der literarischen
Imagination Zeitgeschichte be-
arbeitet. Dass mit zunehmen-
dem zeitlichen Abstand die kol-
lektive Erinnerung an das Drit-
te Reich verblassen würde, lässt
sich für die Literatur jedenfalls
nicht konstatieren. Dabei ver-
steht sich von selbst, dass Ver-
suche der Fiktionalisierung
auch scheitern können, wie
spektakulär in diesem Frühjahr
Takis Würgers „Stella“.
Auf der diesjährigen Shortlist
spielt die Last des Historischen
nicht nur bei Scheuer eine Rol-
le. Auch die junge österrei-
chische Autorin Raphaela Edel-
bauer erzählt in „Das flüssige
Land“ (Klett-Cotta) vom unter-
gründigen Fortwirken der Ge-
schichte. Ihre Gemeinde Groß-
Einland, unter der sich ein rie-
siger Hohlraum verbirgt, in
dem die Bewohner einst ihre
Vergangenheit mit all ihren
Trümmern und Leichen versen-
ken wollten, ist eine groteske
Parabel auf die Versuche, Ver-
gangenheit zu entsorgen. Es ist
aber auch ein Roman über Lite-
ratur, über Heimat- und Anti-
heimatliteratur, voller Motive,
Stereotypen und Anspielungen.
Mit der wachsenden Bedeu-
tung von Autoren mit migranti-
schen Wurzeln verbreitet sich
auch das Feld der autobiografi-
schen Vergewisserung. Sasa

Stanisic hat mit „Vor dem Fest“
bereits vor Jahren seinen ver-
spielten „deutschen“ Heimat-
und Dorfroman geschrieben.
Das konnte man als eine ge-
schickte Ausweichbewegung
vor der eigenen Familienge-
schichte deuten, die ihn nun
eingeholt hat. „Herkunft“, das
jüngste Buch des 1978 in Vise-
grad geborenen und 1992 nach
Deutschland geflüchteten Au-
tors, setzt das Wort „Heimat“
in den eigentlich unmöglichen
Plural. In erinnerten oder er-
fundenen Gesprächen mit sei-
ner Großmutter erkundet Sta-
nisic das Familienalbum, erin-
nert sich an die Kindheit in Bos-
nien, an seine Schulzeit, den
Zerfall Jugoslawiens, an die
Flucht und die schwierige An-
kunft in Deutschland zu einer
Zeit, als Asylbewerberheime
brannten.
Mit „Vor dem Fest“ gewann
Stanisic, ohnehin inzwischen
einer der international erfolg-
reichsten deutschsprachigen
Autoren, 2014 den Preis der
Leipziger Buchmesse. Mit
„Herkunft“ (Luchterhand) hat
er nun gute Chancen auf den
Deutschen Buchpreis. Nicht
nur, aber auch um Herkunft
geht es auch in zwei weiteren
Nominierungen. Jackie Thomae
erzählt in „Brüder“ (Hanser
Berlin) von zwei in der DDR
aufgewachsenen Kindern eines
afrikanischen Vaters. In „Nicht
wie ihr“ (Kremayr & Scheriau)
spiegelt der Österreicher Tonio

wie ihr“ (Kremayr & Scheriau)
spiegelt der Österreicher Tonio

wie ihr“ (Kremayr & Scheriau)

Schachinger das Thema Migra-
tion hochaktuell in der Sphäre
des Spitzenfußballs.
Natürlich, nicht alles in der
Gegenwartsliteratur dreht sich
um Heimat, Herkunft, Spuren-
suche, oder den Versuch, sich
von solchen Prägungen und
Verwurzelungen zu emanzipie-
ren. Doch ist auffällig, wie die-
ser Komplex viele neue Bücher
dominiert. Aus dem Rahmen
fällt auf der Shortlist nur Miku
Sophie Kühmels psychologi-
sches Kammerspiel „Kintsugi“
(S. Fischer).
Insgesamt überrascht hier
das Fehlen etablierterer Auto-
ren wie Nora Bossong, Marlene
Streeruwitz oder Norbert Zäh-
ringer, die noch auf der Longlist
standen. Andere literarische
Schwergewichte dieses Jahres
wie Steffen Kopetzky oder Da-
vid Wagner wurden bereits dort
vermisst. In der engeren Wahl
für den wichtigsten deutschen
Literaturpreis sind aber mit
Norbert Scheuer und Sasa Sta-
nisic zwei Autoren mit starken
Büchern, die jeweils für zentra-
le Strömungen der Gegen-
wartsliteratur stehen. Norbert
Scheuer durchpflügt in seinem
tragischen, elegischen Kriegs-
buch die deutsche, blutgetränk-
te Provinz; Sasa Stanisic stößt
in einem Dorf in Bosnien auf
viele Gräber, auf denen der ei-
genen Name steht. Beide Ge-
schichten müssen heute drin-
gender denn je erzählt und ge-
lesen werden.

Den Spuren der Vergangenheit geht Norbert Scheuers Roman in der Eifel 1944 nach

PICTURE ALLIANCE/

DPA/ HANS-JOACHIM RECH

Die Mehrzahl von Heimat


Auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises dominiert


die Herkunftssuche. Zwei Werke stechen heraus


MUSIK

„Rock am Ring“
hat Jubiläum

„Rock am Ring“ feiert 2020
sein 35-jähriges Bestehen mit
Green Day, Volbeat und Sys-
tem Of A Down. Die drei
Bands sollen vom 5. bis 7.
Juni 2020 die Headliner bei
dem Spektakel am Nürburg-
ring in der Eifel und dem
gleichzeitigen Festival „Rock
im Park“ in Nürnberg sein.
Außerdem stehen unter ande-
rem Billy Talent, die Broilers,
Korn, Disturbed und The
Offspring auf der Bühne.

FRANKFURT

Neues Museum für
den Struwwelpeter

Das neue Struwwelpeter-
Museum in Frankfurt am
Main wird am 23. September
in der rekonstruierten Alt-
stadt eröffnet. Genau 175
Jahre, nachdem der Frank-
furter Arzt Heinrich Hoff-
mann den Struwwelpeter
erfand, erhalte die größte
Sammlung von Exponaten zu
dem Bilderbuchklassiker ein
neues Zuhause, hieß es.

KOMPAKT


I


n vielen Bereichen des Kon-
sums besteht eine soge-
nannte Rücknahmepflicht.
Ausrangierte Elektrogeräte
muss der Händler zurückneh-
men, doch wie steht es eigent-
lich mit der Rücknahme von
Ehepartnern, Freunden und
Geliebten? Gerade in dem Be-
reich kann es ja zu extremen
Fehlkäufen kommen. Aber wie
soll man die schadhafte Ware
entsorgen, genauer gesagt, wer
muss den Ehepartner wieder
nehmen? Wenn die Beziehung
durch Parship, Elite-Partner
oder Tinder angebahnt wurde,
dann besteht hier vonseiten
der Portale wohl eine gewisse
Rücknahmeverpflichtung.
Doch was ist, wenn das Ver-
hältnis ganz altmodisch analog
entstanden ist? Wem kann
man den verbrauchten Gelieb-
ten retournieren? Den Eltern?
Dem Recyclinghof? Oder ist
vielleicht sogar Gott dafür zu-
ständig, also der Gemeinde-
pfarrer? Das Umweltbundes-
amt warnt jedenfalls davor, Be-
ziehungsmüll zu Hause zu la-
gern. Partner, die eigentlich
längst aus dem Haushalt ent-
fernt werden müssten, werden
oft noch Jahre weiterbenutzt,
obwohl sie längst nicht mehr
den aktuellen Umweltstan-
dards genügen.

Zippert


zappt

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