Süddeutsche Zeitung - 18.09.2019

(Tina Sui) #1
Jerusalem– Beider Parlamentswahl in Is-
rael hat sich am Dienstagabend eine knap-
pe Entscheidung abgezeichnet. Nach ers-
ten Prognosen lagen Ministerpräsident
Benjamin Netanjahus Likud-Partei und
das Bündnis Blau-Weiß des ehemaligen Mi-
litärchefs Benny Gantz nahezu gleichauf.
Die Auszählung war bis Redaktionsschluss
dieser Ausgabe noch nicht beendet. Es war
bereits die zweite Abstimmung in diesem
Jahr. sz  Seiten 4 und 7

London– Der Oberste Gerichtshof Groß-
britanniens verhandelt seit Dienstag über
die Frage, ob die von der Regierung verord-
nete fünfwöchige Zwangspause für das Un-
terhaus rechtmäßig ist. Zuvor hatte ein
schottisches Gericht dies verneint, ein Lon-
doner Gericht hatte hingegen geurteilt,
dies sei keine juristische Frage. Die Präsi-
dentin des Gerichtshofs, Brenda Hale, be-
tonte zu Beginn der auf mindestens drei Ta-
ge angesetzten Verhandlung, das Gericht
entscheide nicht darüber, ob es den Brexit
geben werde. Die Tatsache, dass zwei Vor-
instanzen zu zwei unterschiedlichen Urtei-
len gekommen seien, so Hale, zeige, wie
komplex die Fragestellung sei.
Das Unterhaus war mit der Begründung
bis zum 14. Oktober geschlossen worden,
dass Downing Street die Zeit brauche, um

eine Regierungserklärung vorzubereiten.
Abgeordnete argumentieren, Johnson ha-
be das Unterhaus ausschalten wollen, um
einen No Deal durchzusetzen.
Der Anwalt der Kläger, David Pannick,
argumentierte, bei der Zwangsschließung,
Prorogation genannt, handele es sich ein-
deutig um eine juristische Frage. Premier
Boris Johnson habe das Parlament zu einer
ungewöhnlich langen Schließung ver-
dammt, damit es seine Brexit-Politik nicht
hinterfragen und kontrollieren könne. Er
zitierte dazu Interviews, in denen Johnson
geklagt hatte, das Parlament unterminiere
seine Verhandlungsposition in Brüssel.
Pannick führte an, die Exekutive dürfe
nicht aus unlauteren Gründen in das Han-
deln der Legislative eingreifen; Johnsons
Schritt sei aber „improper“ gewesen, ein

unangemessenes Motiv habe dahinterge-
standen. Die Zwangspause stelle „die
Grundlagen der Verfassung auf den Kopf“.
Richard Keen, Generalanwalt für Schott-
land, entgegnete für die Regierung, Gerich-
te hätten nicht das Recht, Vorgänge im Par-
lament zu hinterfragen. Auch sei die Be-
hauptung unwahr, eine fünfwöchige Pau-
se sei präzedenzlos; es habe schon früher
ungewöhnliche Prorogationen gegeben.
Von der Entscheidung des Höchstge-
richts, die frühestens für Freitag erwartet
wird, könnte eine Signalwirkung für die Bre-
xit-Verhandlungen ausgehen. Johnson hat
schon eine Reihe von Niederlagen im Parla-
ment erlitten. Sollte das Gericht entschei-
den, dass die Prorogation ungesetzlich war,
weil die Regierung damit das Parlament in
einer entscheidenden Phase vor dem Aus-

trittsdatum zum Schweigen bringen wollte,
dann wäre die Autorität des Premierminis-
ters weiter beschädigt. Johnson hat aller-
dings bisher nicht zu erkennen gegeben, ob
er in diesem Fall das Unterhaus zurückru-
fen würde. In einem BBC-Interview am
Dienstag sagte er, man werde abwarten und
das Urteil genau prüfen. Medien berichten,
in Downing Street werde überlegt, das Un-
terhaus nach dem EU-Gipfel sogar ein zwei-
tes Mal in die Zwangspause zu schicken,
falls es bis Mitte Oktober nicht zu einem
Deal zwischen der EU und dem Königreich
komme. In diesem Fall könnte Johnson ver-
suchen, das Gesetz, das einen No Deal ver-
hindern und eine Verschiebung des Brexits
erzwingen soll, zu unterlaufen. Auch dazu
wollte sich die Regierung bislang nicht äu-
ßern. cathrin kahlweit  Seite 6

Thema des Tages


Wiedie große Koalition das


Klima schützen will und


was das kosten soll 2


Meinung


Bundespräsident Steinmeier


beweist, warum Deutschland


sein Amt dringend braucht 4


Panorama


„Ich habe ein Lied gesungen, mehr


nicht“: David Hasselhoff über


seinen Beitrag zum Mauerfall 8


Wissen


Zahlen Kassen künftig Bluttests auf


Down-Syndrom? Diese Woche


fällt die Entscheidung 14


Sport


Champions League:Ter Stegen


vereitelt Dortmunds Sieg


gegen Barcelona 25


Medien, TV-/Radioprogramm 27,
Forum & Leserbriefe 13
Kino · Theater im Lokalteil
Rätsel & Schach 14
Traueranzeigen 10


Frankfurt–Die Europäische Zentralbank
(EZB) prüft die Eröffnung eines Verfahrens
gegen die Deutsche Bank. Nach Informatio-
nen derSüddeutschen Zeitunghat das größ-
te deutsche Geldhaus zwischen 2014 und
2017 unerlaubt eigene Anleihen zurückge-
kauft. Zwar genehmigten die Bankenaufse-
her im Jahr 2017 die Geschäfte, allerdings
galt die Genehmigung nicht rückwirkend.
Zwei Jahre später prüft die Aufsicht nun
das Agieren der Bank. sz  Wirtschaft

Sonthofen– Am Mittwoch sitzt ein bayeri-
scher Pfarrer auf der Anklagebank, weil er
einem Flüchtling Kirchenasyl gewährt hat.
Vor dem Amtsgericht in Sonthofen im All-
gäu muss sich der evangelische Pfarrer Ul-
rich Gampert verantworten. Er hatte einen
Afghanen mehr als ein Jahr im Kirchenasyl
beherbergt. Gampert erhielt dafür einen
Strafbefehl, es war der erste Fall in Bayern.
Weil er dagegen Einspruch einlegte,
kommt es zum Prozess. epd  Bayern

Frankreichs Bürgermeister können ihre
Bürosdekorieren, wie sie wollen. In repu-
blikanischer Tradition wählen sie meist
ein gerahmtes Porträt des Präsidenten.
Am Montag entschied nun ein Richter: Es
gilt nicht nur die Freiheit der Volksvertre-
ter, das Präsidentenbild aufzuhängen, es
gibt auch ein Recht der Bürger, es wieder
abzuhängen. 133 Mal wurde seit Februar
das offizielle Präsidentenfoto Emmanuel
Macrons in Rathäusern von der Wand ge-
nommen. Ausgedacht hat sich die Aktion
die Umweltorganisation ANV-COP21, die
darauf aufmerksam machen will, dass
Macron zwar klimapolitisch große Reden
schwinge, seine Regierung jedoch selbst
hinter den auf der Klimakonferenz von Pa-
ris beschlossenen Zielen zurückbleibe.
Zwei Aktivisten, die am 21. Februar ein
Macron-Porträt entwendeten, wurde am
Montag in Lyon wegen Diebstahls der Pro-
zess gemacht. Richter Marc-Emmanuel
Gounot sprach sie frei. Mit einer Begrün-

dung, die in ihrer Entschiedenheit selbst
die Angeklagten überraschte. Die Aktion
erfülle den „Tatbestand der Notwendig-
keit“, so Gounot. „Der Klimawandel ist ein
Fakt, der schwerwiegend die Zukunft der
Menschheit belastet“, führte er aus, die
Bürger seien angesichts dieser Tatsache
zu „kritischer Wachsamkeit“ verpflich-
tet. Man müsse das Abhängen des Fotos
als „Dialog“ interpretieren, mit dem die
Bürger ihren Präsidenten erreichen wol-
len.
Der Prozess in Lyon ist einer von vielen
in der Abhäng-Serie. Die Strategie der Um-
weltschützer besteht dabei auch darin,
aus den Gerichtssälen eine Bühne für ihre
Argumentation zu machen. In Lyon hatte
die Verteidigung Cécile Duflot in den Zeu-

genstand gerufen. Die ehemalige Ministe-
rin für Wohnungsbau und heutige Direk-
torin von Oxfam Frankreich klagte über
„einen Mangel an politischem Willen“,
dem die Porträtabhänger mit „bürgerli-
chem Engagement im edelmütigsten Sin-
ne“ begegneten. Gounot war nun der ers-
te Richter, der sich von dieser Logik über-
zeugen ließ. Im Juni waren in Bourg-en-
Bresse sechs Klimaaktivisten zu Bewäh-
rungsstrafen verurteilt worden, wegen
„Diebstahls mit List“. Die Angeklagten
hatten sich als Hochzeitsgesellschaft aus-
gegeben, um ins Rathaus vorzudringen,
wo sie das Foto abhängten. Dutzende Ab-
häng-Prozesse stehen noch aus.
Macron hat den Umweltschutz im zwei-
ten Jahr seiner Präsidentschaft zu einem

der wichtigsten Themen seiner Amtszeit
erklärt und einen Klimarat eingesetzt.
Dieser kam im Juni jedoch zu dem
Schluss, dass Frankreich das von Macron
gesteckte Ziel nicht erreichen werde, bis
2050 seine Treibhausgas-Emissionen
massiv zu reduzieren.
Die Gruppe ANV-COP21 verspricht, die
Macron-Porträts wieder zurückzuhän-
gen, sobald dieser seine Politik ändere.
Auf den entwendeten Bildern zeigt sich
Macron entschlossen und zuversichtlich.
Er lächelt in die Kamera und hat sich mit
zahlreichen Accessoires umgeben: zwei
iPhones, in deren Display sich der galli-
sche Hahn spiegelt, die Biografie seines
Vorbildes Charles de Gaulle und eine gol-
dene Uhr. Im Hintergrund blauer Himmel
und der Park des Élysée-Palastes. Ma-
cron philosophiert gern über die Kraft
von Symbolen. Die Leerstellen an den Rat-
hauswänden sind nun das Symbol der Um-
weltschützer geworden. nadia pantel

von kristiana ludwig und
henrike roßbach

Berlin –Wer viel von zu Hause aus arbei-
tet,leidet häufiger unter psychischen Pro-
blemen wie Erschöpfung oder Schlafstö-
rungen. Das ist das Ergebnis einer aktuel-
len Befragung von etwa 2000 Beschäftig-
ten zwischen 16 und 65 Jahren durch das
Wissenschaftliche Institut der AOK-Kran-
kenkassen. Zwar zeigte sich ein Großteil
der Befragten mit ihrem Home-Office-Mo-
dell zufrieden. Doch die Trennung zwi-
schen Privat- und Berufssphäre löse sich
bei Beschäftigten im Home-Office stärker
auf als bei solchen, die im Büro arbeiteten,
sagte Studienautor Helmut Schröder.
Beschäftigte im Home-Office arbeiten
der Studie nach öfter am Abend oder an
Wochenenden, ein Fünftel von ihnen be-

richtet über Anrufe oder E-Mails ihrer
Chefs außerhalb der Arbeitszeiten. Von
den Mitarbeitern, die täglich in die Firma
kommen, kennen das nur knapp sechs Pro-
zent. Auch deshalb klagen Beschäftigte im
Home-Office häufiger über Probleme mit
der Vereinbarkeit von Freizeit und Beruf.
Fast 75 Prozent der Befragten, die häu-
fig im Home-Office arbeiten, fühlten sich
im vergangenen Jahr erschöpft, knapp
70 Prozent klagten über Wut oder Nervosi-
tät und Reizbarkeit. Bei den Arbeitneh-
mern im Büro traf dies dagegen nur auf et-
was mehr als die Hälfte zu. Auch unter Nie-
dergeschlagenheit, Konzentrationsproble-
men und Selbstzweifeln litten Heimarbei-
ter häufiger als ihre Kollegen. Zwar habe
die Arbeit zu Hause auch Vorteile, so Schrö-
der. Sie helfe vielen Beschäftigten, das Pri-
vatleben besser zu organisieren. Doch der

Preis sei, dass der private Rückzugsraum
und die Erholungszeit schrumpften.
Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz
und Arbeitsmedizin (BAUA) warnt in ihren
Untersuchungen schon länger vor den Fol-
gen einer Verfügbarkeit von Mitarbeitern
über den Feierabend hinaus. Der Gewinn
an Autonomie durch flexible Arbeitszeiten
und -orte gleiche kaum die negativen Fol-
gen aus. Mehrere Studien deuten laut
BAUA darauf hin, dass eine ständige Er-
reichbarkeit mit einem höheren Stress-
und Burn-out-Risiko und gesundheitli-
chen Beschwerden verbunden ist.

Als Reaktion auf diese Befunde fordern
die Grünen nun neue Regelungen für das
Home-Office. Die Bundesregierung müsse
zügig ein Urteil des Europäischen Gerichts-
hofs umsetzen, nach dem Arbeitszeiten
künftig erfasst werden müssen, heißt es
aus der Fraktion. Zudem müsse es ein
Rückkehrrecht ins Büro geben. Im Koaliti-
onsvertrag haben Union und SPD verein-
bart, das mobile Arbeiten zu fördern und
zu erleichtern. Bundesarbeitsminister Hu-
bertus Heil (SPD) hatte noch für dieses Jahr
einen entsprechenden rechtlichen Rah-
men angekündigt. Am Dienstag hieß es
aus Regierungskreisen, dass an einem Ge-
setzentwurf „intensiv gearbeitet“ werde.
Diskutiert werde ein Antragsrecht für Ar-
beitnehmer. Lehnt der Vorgesetzte den An-
trag auf Home-Office ab, soll er das begrün-
den müssen.  Seite 4, Wirtschaft

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Die SZ gibt es als App
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phone: sz.de/zeitungsapp

EZB prüft Verfahren


gegen Deutsche Bank


Berlin– Bundeskanzlerin Angela Merkel
(CDU) will am Stopp von Rüstungsexpor-
ten nach Saudi-Arabien festhalten. „Ich se-
he keine Voraussetzungen für eine verän-
derte Haltung der Bundesregierung“, sag-
te die Kanzlerin am Dienstag in Berlin. Sie
wies damit Forderungen aus der Unions-
fraktion zurück, den Exportstopp nach
den Drohnenangriffen auf saudische Ölan-
lagen zu überdenken. Angela Merkel ver-
wies darauf, dass der Exportstopp mit
Blick auf die Rolle Saudi-Arabiens im Je-
menkrieg verhängt worden sei. Hier müs-
se die Suche nach einer diplomatischen Lö-
sung dringend fortgeführt werden, auch
„wenn das im Augenblick sehr schwierig
aussieht“. Der Exportstopp für Waffenliefe-
rungen nach Saudi-Arabien läuft am


  1. September aus, soll aber nach Anga-
    ben aus Regierungskreisen verlängert wer-
    den. Die Führung in Teheran lehnte am
    Dienstag direkte Gespräche mit den Verei-
    nigten Staaten kategorisch ab. „Offizielle
    Vertreter Irans werden niemals mit ameri-
    kanischen Vertretern reden, auf keiner
    Ebene“, sagte das geistliche und politische
    Oberhaupt Irans, Ajatollah Ali Chamenei,
    laut einem Bericht des Staatsfernsehens.
    Die USA vermuten, dass Iran hinter den
    Angriffen auf eine saudische Ölanlage
    steckt. Saudi-Arabien forderte wegen der
    Angriffe mehr internationale Unterstüt-
    zung. sz  Seiten 4 und 6


Es ist wechselnd bewölkt, über den Norden
und Westen ziehen dichtere Wolkenfelder.
Im Nordosten kann es regnen. Die Tempe-
raturen erreichen 14 bis 20 Grad. In höhe-
ren Lagen und an den Küsten wird es stür-
misch.  Seite 13 und Bayern

FOTO: DPA

Knappes Rennen


bei Wahl in Israel


Weg von der Wand


Warum Franzosen Fotos von Macron aus Rathäusern entfernen


Hören Sie zu diesem Thema
auchden Podcast.
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Home-Office belastet die Gesundheit

Wer viel von zu Hause arbeitet, leidet häufiger unter psychischen Problemen als jemand, der täglich


ins Büro fährt. Das zeigt eine Studie. Privatleben und Beruf lassen sich dadurch schwerer trennen


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22 Uhr
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Supreme Court verhandelt über Parlamentspause


Der oberste britische Gerichtshof soll entscheiden, ob Premier Boris Johnson gegen die Verfassung verstoßen hat


Kirchenasyl bringt


Pfarrer vor Gericht


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Exportstopp


soll bleiben


Merkel will weiterhin keine
Waffen an Saudi-Arabien liefern

(SZ) In gewissen akademischen Kreisen ist
es derzeit recht angesagt, Unterschiede
zwischen den Geschlechtern als soziales
oder gesellschaftliches Konstrukt zu be-
zeichnen. Wer so etwas behauptet, hat
wohl noch nie gehört, wie Männer schnar-
chen. Damen schnarchen übrigens grund-
sätzlich nicht, sie schlafen höchstens ein
wenig nasal. Zahllose Herren hingegen
klingen im Schlaf wie ein betagtes Wal-
ross, dem noch eine Seegurke im Rachen
steckt. Angeblich hat ein Spitzenschnar-
cher eine Lautstärke von 93 Dezibel er-
reicht, da fehlt nicht mehr viel zum Press-
lufthammer. Die Wissenschaft unterschei-
det die Gattung der Schnarchnasen, latei-
nisch Rhonchopathen, in gurgelnde, rö-
chelnde sowie röhrende Schnarcher. Zur
Spezies zählen aber auch Schläfer, deren
Schlundgeräusche eher hustend, rülpsend
oder wildsauartig ausfallen, um nur die
wichtigsten Unterformen zu benennen.
Eine Besonderheit innerhalb der Gat-
tung bilden die Schnarchhähne. Im Unter-
schied zu anderen Schnarchern sind sie
wach, lassen sich das aber nicht anmerken.
Der Schnarchhahn fährt beispielsweise
gern so langsam über die Landstraße, dass
nur die Besten seine Fortbewegung noch
mit bloßem Auge erkennen können.
Schnarchhennen sind bisher bezeichnen-
derweise nicht in Erscheinung getreten.
Was es hingegen mit den Schnarchsocken
auf sich hat, bleibt umstritten. Am Rhein
gelten sie als Sammelbezeichnung für die
Abwehr des FSV Mainz 05, doch scheint es
sich hier um ein regionales Phänomen zu
handeln. Eine Mindermeinung geht davon
aus, die Bezeichnung gelte den Strümpfen,
welche sich verzweifelte Frauen nächtens
aufs Ohr legen, um das an die Hasenklage
erinnernde Rasseln, Glucksen und Sägen
des Mannes an ihrer Seite akustisch zu
dämpfen.
Was aber geschieht in einem Schnarch-
land? In einem solchen leben wir offenbar,
glaubt man Dieter Kempf, dem Präsiden-
ten des Bundesverbandes der Deutschen
Industrie. Wie Herr KempfSpiegel Online
wissen ließ, traut sich „niemand mehr, et-
was zu entscheiden. Wir sind ein Schnarch-
land geworden“. Liegen dessen Bewohner
und Vertreter tagaus, tagein wie Schnee-
wittchen in tiefstem, im Unterschied zu ihr
allerdings von Misstönen begleitetem
Schlaf? Und warum wacht keiner auf,
wenn doch alle Rachen so laut rumoren?
Gelegentlich klopfen die Vertreter der deut-
schen Industrie in selbstlosem Einsatz an
die Türen der Politik, um diese über die ver-
werfliche Überbezahlung und Anspruchs-
haltung der Arbeitnehmer und die alles
verschlingende Krake Sozialstaat zu unter-
richten. Aber die Türen bleiben verschlos-
sen, und unter ihnen dringt lediglich ein
leises Schnarchen nach draußen. Merkwür-
dig eigentlich, dass die Wirtschaft läuft
und die meisten Leute einen Job haben in
diesem Schnarchland. Die müssen alle to-
tal verpennt haben, wie übel die Lage ist.


DAS WETTER



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