Süddeutsche Zeitung - 18.09.2019

(Tina Sui) #1
Gleich zweimal steht in dieser Woche das
Haus Alba,die wohl reichste spanische
Adelssippe, im Fokus. Doch es sind dieses
Mal nicht die Klatschblätter, die sich der Al-
bas annehmen, sondern es ist die klassi-
sche Hochkultur: das Teatro Real, in dem
Verdis „Don Carlos“ Premiere hat, und der
Palacio de Liria, der seine große Gemälde-
sammlung erstmals dem Publikum zu-
gänglich macht. In Verdis im 16. Jahrhun-
dert angesiedelter Oper ist Fernando Álva-
rez de Toledo, der Herzog von Alba, der gro-
ße Bösewicht. Er unterdrückt blutig die
Spanischen Niederlande, die sich dem Pro-
testantismus zugewandt haben. Don Car-
los protestiert in der Oper nach Schiller ge-
gen die Gewaltherrschaft des „eisernen
Herzogs“ und fällt der Inquisition zum Op-
fer.

Die Madrider Verdi-Fans waren ge-
spannt auf die Inszenierung, die von der
Oper Frankfurt übernommen wurde.
Denn der ebenso berühmte wie umstritte-
ne Intendant Gerard Mortier hatte sich in
einem der letzten Interviews vor seinem
Tod 2014 einen „Don Carlos“ als politi-
sches Drama um den Freiheitskampf Flan-
derns gegen die spanische Krone ge-
wünscht. Mortier war Flame, es wäre eine
schöne Provokation für die konservativen
Madrilenen geworden. Doch es kam an-
ders: Die Frankfurter Inszenierung stellt
die Liebestragödie in den Mittelpunkt:
Don Carlos‘ Vater, König Philipp II., nimmt
diesem die Braut weg und heiratet sie
selbst. Der Protest gegen die Missetaten
des Herzogs von Alba bleibt Nebensache.

Im wirklichen Leben war dieser nicht
nur ein gnadenloser Vollstrecker der Poli-
tik der Habsburger auf dem spanischen
Thron, sondern auch ein Freund der Male-
rei, die flämische eingeschlossen. Seine
Nachkommen taten es ihm nach, ihre Ge-
mäldesammlung fand ihren Platz im Liria-
Palast im Herzen Madrids, bis heute offizi-
eller Wohnsitz des Oberhaupts der Sippe.
Nun können die Werke von Rubens, Tizian,
Murillo, Bellini und Goya erstmals besich-
tigt werden, in kleinen Gruppen, höchs-
tens 250 Personen am Tag. Eintritt: 14 Eu-
ro, wie im Prado.
Doch nur ein kleiner Teil des Palastes
steht dem Publikum offen, vierzehn Säle,
die nie bewohnt waren, sondern nur Festi-
vitäten dienten. So bekommen die Neugie-
rigen nichts von der Pracht zu sehen, in der
die letzte Herzogin von Alba, Cayetana Fitz-
James Stuart, gelebt hatte. Sie hatte das
ganze Land in Wallung und sich selbst auf
die Titelseiten der Regenbogenpresse ge-
bracht, als sie 2011, mittlerweile 85-jährig,
gegen den Widerstand ihrer Kinder und
des gesamten Hochadels in dritter Ehe ei-
nen 25 Jahre jüngeren Verwaltungsbeam-
ten heiratete. Drei Jahre später starb sie,
ihr Mann hatte vor der Eheschließung auf
jegliches Erbe verzichten müssen. Das letz-
te Mal schaffte es einer ihrer Enkel auf die
Titelseiten, als er im vergangenen Sommer
in roter Husarenuniform eine Bürgerstoch-
ter ehelichte.
In dem Palast hängen auch Porträts ih-
res Urahns, dessen Truppen die niederlän-
dischen Protestanten niederkartätschten.
Doch auf der Bühne des Teatro Real tritt er
nicht auf, bei Verdi lässt allein sein Name
die Menschen erschauern. Die Albas von
heute haben das dem Komponisten verzie-
hen, sie gehören zu den Sponsoren der Ma-
drider Oper. thomas urban

Das Erbe des Hauses Alba


„Don Carlos“ im Teatro Real und Besucher im Palast


von jens bisky und
jörg häntzschel

G

eld spielt keine Rolle. Wenn ein
Projekt nur prominent und groß
genug ist, werden auch exorbitante
Kostensteigerungen in Kauf genommen.
Das war nicht immer so, und es war nicht
immer so deutlich wie beim Museum des


  1. Jahrhunderts in Berlin.
    Im November 2014 genehmigte der Bun-
    destag der Stiftung Preußischer Kulturbe-
    sitz (SPK) 200 Millionen Euro für den Neu-
    bau am Kulturforum. Für diesen Herbst ist
    der Spatenstich für das Renommiervorha-
    ben angekündigt. Inzwischen rechnet
    man, so Kulturstaatsministerin Monika
    Grütters (CDU), mit Baukosten von
    364,2 Millionen Euro. Inklusive Bau-In-
    dexsteigerungen von 52,2 Millionen und
    Risikokosten in Höhe von 33,8 Millionen
    Euro ergibt sich die Gesamtsumme von
    450,2 Millionen Euro für ein Haus mit et-
    wa 16 000 Quadratmetern Nutzfläche, da-
    von rund 9000 für Ausstellungen. Gebaut
    wird die „Scheune“ nach dem Entwurf des
    Büros Herzog & de Meuron.
    Es hat lange keinen so interessanten wie
    intelligenten Entwurf für ein öffentliches
    Gebäude in Berlin gegeben wie dieses
    schlichte Haus. Dennoch bleibt die Frage:
    Ist diese Riesensumme gerechtfertigt?
    Im Streit darüber ist die Stadt Berlin in
    der angenehmen Lage, dass sie selbst mit
    dem Vorhaben wenig zu tun hat. Die Bau-
    kosten trägt allein der Bund. Es taugt also
    nicht als Beispiel für die gern beklagten
    „Berliner Verhältnisse“. Die Hauptstadt ist
    nur Bühne für eine Selbstdarstellung der
    Kulturnation.
    Aber ginge das nicht preiswerter? Am
    Dienstag hat die SPK in einer Pressekonfe-
    renz über die Planungen informiert und ist
    ihren Kritikern selbstbewusst entgegenge-
    treten. Als vor fünf Jahren die 200 Millio-
    nen beschlossen wurden, habe es noch
    keinen Entwurf gegeben, keine Planungs-
    grundlagen, sagte der Stiftungspräsident


Hermann Parzinger. Und dann waren da
die Umplanungen, die nötig wurden, weil
das Gebäude kleiner, dafür aber ein Ge-
schoss tiefer werden musste. Der Archi-
tekt Jacques Herzog erklärte die gestiege-
nen Kosten außerdem durch die Anforde-
rungen an die Haustechnik.
Sein Berliner Kollege Arno Brandlhuber
hat selbst am Wettbewerb teilgenommen
und wurde später in ein „baufachliches
Gremium“ geladen, das die Umplanungen
begleiten sollte, aber nur einmal zusam-
mentrat. Brandlhuber widerspricht Parzin-
gers Version: „Wenn man auf diesem
Grundstück in dieser Kubatur bauen will,

sind diese Kosten unvermeidlich.“ Das sei
den Beteiligten klar gewesen. Sein Vor-
wurf: Die Auslober hätten bewusst eine
größere Grundfläche vorgesehen, als reali-
sierbar war. In Wahrheit sei das zusätzli-
che Tiefgeschoss unvermeidlich gewesen.
Es habe „einen starken Willen gegeben,
dass erst später klar werden würde, wie
hoch die wahren Kosten sind“.
Dabei stand am Anfang eine durchaus
begrüßenswerte Initiative. Einige Samm-
ler hatten angekündigt, dass sie ihre Kunst
an die Berliner Museen vermachen – unter
der Bedingung, dass diese dort prominent
gezeigt würden. Doch dafür fehlte der
Platz. Die SPK schlug daher 2012 eine

Rochade vor: Die Kunst aus der Gemälde-
galerie am Kulturforum sollte in einen
Neubau auf der Museumsinsel ziehen, die
Gemäldegalerie fortan als zweites Haus
für die Moderne dienen. Doch die erwarte-
ten Baukosten von 374 Millionen Euro und
die Aussicht, dass die Werke für Jahre im
Depot verschwinden, lösten einen Protest-
sturm aus. Binnen kürzester Zeit war die
Idee gestorben. Stattdessen brachte
Monika Grütters die Idee eines „Moma für
Berlin“ ins Spiel, eines Neubaus am Kultur-
forum selbst. Der sei für nur 130 Millionen
Euro zu haben. Bald darauf gab der Haus-
haltsausschuss 200 Millionen frei.
Eine Studie untersuchte damals zwei
Standorte für das geplante Museum am
Kulturforum und kam zu dem Ergebnis,
dass der neben der Neuen Nationalgalerie,
also entlang der Potsdamer Straße, der
ungünstigere sei. Grütters legte sich
dennoch schon vor der Auslobung des
Wettbewerbs auf diesen fest, gegen den
Protest von Architekten und Stadtplanern.
Nun ist man bei einer Summe angelangt,
für die man auch an der Museumsinsel
hätte bauen können.
Ein Bundestagsabgeordneter, der von
Anfang an an dem Projekt beteiligt war,
kann sich die Kostenexplosion nicht erklä-
ren: „Es gab ganz präzise Preiskalkulatio-
nen, und die lagen bei 130 Millionen. Aber
weil wir wissen, dass alles teurer wird,
haben wir damals 200 genehmigt.“ 450 Mil-
lionen Euro sprengten jeden Rahmen.
Jetzt kommen die zusätzlichen Gelder
vom Finanzministerium. Dennoch hat das

Parlament das letzte Wort. Der Parlamenta-
rier: „Wenn man feststellt, dass man den
Entwurf von Herzog & de Meuron für
200 Millionen nicht bauen kann, sagt man
einfach: Dann lassen wir es eben. Ich glau-
be, man kann für 200 Millionen durchaus
ein anderes würdiges Gebäude für diese
Sammlung bauen.“

Überraschend deutlich erklärte auf der
Pressekonferenz der Leiter der Neuen Nati-
onalgalerie, Joachim Jäger, der Neubau
werde in erster Linie zur Präsentation der
eigenen Bestände gebraucht. In Mies van
der Rohes Kunsttempel, der zur Zeit sa-
niert wird, konnte immer nur ein kleiner
Teil der etwa 6000 Werke gezeigt werden.
Mit dem Neubau werde das anders, so
Jäger, er sei kein Sammlermuseum. Ein
neuer Zugewinn steht indes in Aussicht.
Auch Gerhard Richter will für dieses
Museum einige seiner Werke zur Verfü-
gung stellen.
Dennoch war zur Rechtfertigung der be-
sonderen Eile bei diesem Vorhaben immer
die Drohung der Sammler bemüht wor-
den, ihre Schenkungen zurückzuziehen,
ein Recht, das sich zwei von ihnen, das
Ehepaar Pietzsch und Erich Marx, in ihre
Verträge haben schreiben lassen. Der Berli-
ner Anwalt Peter Raue, der das Ehepaar
Pietzsch vertritt, bekräftigte dies gegen-

über der SZ: „Wenn der erste Spatenstich
nicht in diesem Jahr stattfindet, ist die
Sammlung weg.“ Dasselbe gelte für die
Sammlung Marx.
Raue erklärte, für neue Planungen sei es
jetzt zu spät, wolle man nicht eine „Kata-
strophe“ riskieren: den Verlust der Samm-
lungen und „25 Jahre Stillstand“ am Kul-
turforum. Das Projekt habe den „point of
no return“ erreicht.
Anders sieht es der dritte Sammler,
Egidio Marzona. Das Projekt, sagt er, sei
„in eine Sackgasse geraten“, auch architek-
tonisch: „Das ist überhaupt nicht mehr der
Entwurf, der ursprünglich geplant war
und den man ausgewählt und lange disku-
tiert hat. Dazu kommen die gestiegenen
Kosten.“ Die Sorge, dass man Jahre bis zu
einem Neuanfang verliere, wenn man jetzt
nicht beginne, hält er für „Quatsch“. Er
plädiert dafür, den Entwurf zu überden-
ken. „In dieser Form und zu diesem Preis
würde ich das nicht bauen.“
Wenn nichts dazwischen kommt, könn-
te der Neubau 2026 eröffnet werden. Die
Neue Nationalgalerie will keine ästhetik-
geschichtliche Ausstellung zeigen, son-
dern die Werke auf ihren politischen und
sozialen Kontext beziehen – das liegt in
Berlin nahe. In der Überarbeitung hat der
Architekturentwurf für das Haus mit zwei
ober- und zwei unterirdischen Geschos-
sen, mit einer allen zugänglichen Wege-
kreuzung an Klarheit verloren. Noch
immer aber scheint das geplante Museum
geeignet zu sein, auf dem Friedhof der
Solitäre, der „Kulturforum“ heißt, klare
räumliche Strukturen zu schaffen.
Zwei Probleme werden bleiben: die
Piazza-Ödnis vor der Gemäldegalerie und
die Abgewandtheit der Staatsbibliothek.
Und auch wenn Konzept und Entwurf viel
für sich haben, ist es unverantwortlich, so
viel Geld für einen Bundesrenommierbau
auszugeben, während der laufende Be-
trieb unterfinanziert ist und Renovierungs-
arbeiten in anderen Häusern auf die lange
Bank geschoben werden.

Anders als bei Kinofilmen oder TV-Serien
gibt esim Theater selten „Spoiler“-Alarm.
Was sollte man bei einem Theaterstück
auch groß verraten? Bei den Klassikern
weiß man eh, wie sie ausgehen. Und in der
Gegenwartsdramatik spielt die Handlung


  • wenn es eine solche überhaupt gibt –
    meist eine eher untergeordnete Rolle. Plot-
    getriebene Stücke, deren Ende man nicht
    vorwegnehmen sollte, sind jedenfalls sel-
    ten geworden. „Vögel“ von Wajdi Mouawad
    ist so ein Stück, und keine Sorge: Das Ende
    wird hier nicht verraten.
    Am Tag, nachdem Martin Kusej mit Ul-
    rich Rasches jüngstem Chor-Exerzitium
    „Die Bakchen“ (SZ vom 14.9.) seine Direkti-
    on am Wiener Burgtheater eröffnet hatte,
    ging im kleinen Haus schon die nächste
    Premiere über die Bühne. Und ästhetisch
    hätte der neue Intendant sich kein härte-
    res Kontrastprogramm ausdenken kön-
    nen: Statt mit der monologischen Wucht ei-
    ner antiken Tragödie sah sich das Publi-
    kum des Akademietheaters nun mit dem
    Dialog-Pingpong eines Well-made-Play
    konfrontiert. Der 1968 im Libanon gebore-
    ne Autor und Regisseur Wajdi Mouawad
    emigrierte als Kind in den französischspra-
    chigen Teil von Kanada und lebt heute in
    Paris, wo er das Théâtre national de la Colli-
    ne leitet. Im deutschen Sprachraum wurde
    Mouawad 2006 mit dem Stück „Verbren-
    nungen“ bekannt, in dem sich ein kanadi-
    sches Geschwisterpaar auf die Suche nach
    seinem verlorenen Vater in den Libanon be-
    gibt und am Ende eine erschütternde Ent-
    deckung macht. Auch das neue Stück, vom
    Autor selbst 2017 in Paris zur Urauffüh-
    rung gebracht, ist zwischen Westen und Na-
    hem Osten angesiedelt, wie „Verbrennun-
    gen“ handelt auch „Vögel“ vom langen
    Schatten des Krieges und einem dunklen
    Familiengeheimnis.


Der Biologe Eitan (Jan Bülow) lernt in
New York die Literaturstudentin Wahida
(Deleila Piasko) kennen; die beiden werden
ein Liebespaar: Er ist ein Nerd, sie eine
Schönheit; er ist Jude, sie Araberin. Als Ei-
tan seine Verwandtschaft aus Berlin einflie-
gen lässt, um ihr beim Pessachfest offiziell
seine Freundin vorzustellen, endet das Fa-
milientreffen im Desaster. Vater David
(Markus Scheumann), ein ultrakonservati-
ver, verbiesterter Fundamentalist, empfin-
det es als „Vatermord“, dass sein Sohn eine
Nichtjüdin zur Frau nehmen will; Mutter
Norah (Sabine Haupt) ist mit der Situation
total überfordert; nur der Großvater, der
Holocaustüberlebende Etgar (Eli Gorens-
tein), nimmt’s gelassen und versucht zu
vermitteln. Man trennt sich unversöhnt.
Das nächste Mal trifft die Familie dann
in Jerusalem zusammen, und zwar im
Krankenhaus. Eitan ist bei einem Bomben-
anschlag lebensgefährlich verletzt wor-
den. Aber während er sich von seinen Wun-
den erholt, bricht rund um ihn eine Lebens-

lüge nach der anderen auf. Wahida verlässt
ihn, nachdem sie in Palästina ihre von ihr
stets verleugnete arabische Seele erkannt
hat; Eitans in der DDR areligiös aufgewach-
sene Mutter hat erst mit 14 zufällig erfah-
ren, dass sie Jüdin ist; und als die erfri-
schend kratzbürstige Großmutter Leah
(Salwa Nakkara) sich vor Jahrzehnten
scheiden ließ, hat sie mit dem Mann auch
ihren ungeliebten Sohn David aus dem
Haus gejagt. Denn David, und jetzt
kommt’s – nein, Spoileralarm.
Die filmisch anmutende Form des Dra-
mas – harte Schnitte, fließende Überblen-
dungen – erinnert an die Bühnenepen von
Mouawads frankokanadischem Lands-
mann Robert Lepage („Lipsynch“); thema-
tisch ist „Vögel“ mit den interkulturellen
Tragikomödien des US-Dramatikers von
Ayad Akhtar („Geächtet“) verwandt. Das
Stück, in dem alle Figuren in Originalfas-
sung (Englisch, Deutsch, Hebräisch und
Arabisch) mit Übertiteln reden, ist muster-
gültig konzipiert. Als „Vögel“ voriges Jahr
in Stuttgart seine deutsche Erstauffüh-
rung erlebte, spielte der israelische Schau-
spieler Itay Tiran den Vater. Diesmal hat er
Regie geführt; recht straight und sachdien-
lich lässt er die Schauspieler machen, und
die machen es meistens ziemlich gut. Trotz-
dem ist nicht zu übersehen, dass Moua-
wads Drama weder so elegant konstruiert
ist wie die Stücke von Lepage noch so poin-
tiert geschrieben wie die von Akhtar. Jedes
Gefühl und jeder Gedanke wird fein säuber-
lich erklärt und ausbuchstabiert, dreiein-
halb Stunden lang, auch vor Kitsch und Pa-
thos ist der Text nicht immer gefeit. So viel
kann man verraten. Die Betroffenheit, die
sich nach der bitteren Schlusspointe ein-
stellt, hat einen schalen Beigeschmack. Sie
fühlt sich ein bisschen zu kalkuliert an.
wolfgang kralicek

DEFGH Nr. 216, Mittwoch, 18. September 2019 (^) FEUILLETON HF2 11
Bundesrenommierbau
Die Begründungen wechseln, die Kosten steigen: Das geplante
Museum des 20. Jahrhunderts in Berlin braucht einen Neustart
Die Jahre sind an Liam Gallaghers Stim-
me nicht spurlos vorübergegangen. Er
hatte ja lange, viel länger, als es Oasis
gab, die beste Rockstimme der Welt.
Niemand konnte noch in der formelhaf-
testen Ballade seine grenzenlose Hoch-
näsigkeit so druckvoll und glockenklar
daher rotzen. In seinen besten Momen-
ten brachte er das Kunststück fertig,
stumpfe Arroganz und blinden Größen-
wahn wie die unterhaltsamste Form
höherer Weisheit erscheinen zu lassen:
die Zukunft des Cool hieß Liam Gallag-
her. Bei jüngsten Auftritten klang der
bald 47-Jährige allerdings nicht mehr
wuchtig, sondern nasal und erschre-
ckend saftlos. Auf dem nun erscheinen-
den neuen Soloalbum „Why Me? Why
Not.“ (Warner), nur echt mit dem Punkt
hinter der zweiten Frage, ist davon
nicht wirklich etwas zu merken. Ein
begnadeter Songwriter wird er aller-
dings nicht mehr und auch kein konge-
nialer Kurator der Ideen seiner Helfer.
Mainstream-Poprock-Versuche mit
Streicherleim wie „One Of Us“ sind
sogar richtig schlimm. Songs wie „On-
ce“ oder „Shockwave“ könnte eine gute
Oasis-Tribute-Band aufgenommen
haben, für Hardcore-Fans geht das
irgendwie in Ordnung. Wenn er sich
aber wie in „The River“ so roh anhört
wie der Liam Gallagher der Neunziger,
der sich nichts mehr wünschte, als zu
klingen wie John Lennon in den Siebzi-
gern, dann ist plötzlich doch alles wie-
der da. Als (neben seinem verhassten
Bruder Noel) lustigster schlecht gelaun-
ter Rock’n’Roll-Theoretiker hat er sei-
nen Platz in der Popgeschichte ohnehin
sicher, seitdem er einmal – auf Youtube
gibt es einen Clip
davon – einer Grup-
pe Kindergartenkin-
der erklärte, war-
um man unbedingt
so laut furzen solle,
dass es jeder hört.
Lebe er für immer!
Apropos Pop und John Lennon und
Weisheit. Der deutsche Musikexpress
feiert gerade seinen 50. Geburtstag und
legt sich aus diesem Anlass großartiger-
weise einen Nachdruck der Erstausgabe
aus dem Juli 1969 bei. Ringo Starr, der
bald wieder einmal ein überflüssiges
Soloalbum veröffentlichen soll, wird
darin als der „eigenartige Beatle“ inter-
viewt und – in der unnachahmlich rüh-
rend-hirnverbrannten Art des frühen
deutschen Popjournalismus – gefragt,
ob er nachts manchmal aufwache und
einen fertigen Song im Kopf habe. Ant-
wort Ringo, rührend-ringohaft: „O ja,
manchmal fällt mir im Schlaf ein Song
ein. Ich werde dann wach, denke: ,Den
darfst Du nicht vergessen‘ und schlafe
wieder ein. Am nächsten Morgen habe
ich die Nummer natürlich völlig verges-
sen. John dagegen steht auf, wenn ihm
etwas einfällt. Ich kann das nicht, ich
bin meistens viel zu müde.“ Abgesehen
davon sei im Übrigen auch der 30. Ge-
burtstag noch lange kein Grund, sich so
alt zu fühlen, wie man sei. Der große
Ringo.
Brittany Howard, eigentlich Kopf und
Sängerin der „Alabama Shakes“, hat mit
„Jaime“ (Sony Music) ihr erstes Soloal-
bum aufgenommen. Das Debüt der
Alabama Shakes war vor vier Jahren mit
elegant verrumpelten Soulbluesrock-
Hits wie „Don’t Wanna Fight“ eine klei-
ne Retropop-Sensation. Auf „Jamie“
fehlen Geniestreiche dieser Art, das ist
aber gar kein besonderes Problem. Die
Platte ist dafür eine große, immer leicht
verschleppte, warme Soul-Meditation,
retro und doch nie altbacken, was auch
am ganz eigenen
Zauber der Stimme
Howards liegt, die
immer ein bisschen
so klingt wie ein
Frosch mit einer
sehr, sehr guten
Soulstimme.
Ein Zauber ganz anderer Art wäre dann
noch Shirin David. Am Freitag erscheint
das bereits angekündigte Debütalbum
„Supersize“ der Hamburger R’n’B-Sän-
gerin und Rapperin Barbara Shirin Davi-
davicius alias Shirin David. Sie wurde
als Youtuberin und Beauty-Gesamt-
kunstwerk bekannt, eine „Influence-
rin“. Ihrem Kanal folgen mittlerweile
auch schon über 2,6 Millionen Abonnen-
ten. Allein ihre Single „Gib ihm“ wurde
über 43 Millionen Mal abgerufen, die
Hits „Ice“ und „Brillis“ ebenso millio-
nenfach. Neben Helene Fischer dürfte
sie gerade der große weibliche deutsche
Popstar schlechthin sein. Alles ist hier
grell lackiert und prall und übergroß.
Bei „Gib ihm“ etwa besteht die Kulisse
aus riesigen Versace- und Gucci-Ein-
kaufstüten, das Video ist eine einzige
gigantische Feier von Reichtum und
Überlegenheit, so ostentativ konsum-
geil und absurd sozialdarwinistisch,
dass es im Grunde schon wieder ganz
harte Ideologiekritik ist: „Sie bezahlen
mich dafür / dass ich atme.“ Wie
schrieb einst der große amerikanische
Popkritiker Lester Bangs? „Wahre
Kunst hat immer menschliche Werte
besungen, aber was sollen wir machen,
wenn das Äußerste, was unsere größten
Kunstwerke bestätigen können, die
Angst ihrer Schöpfer ist, zusammen mit
dem Rest der
Menschheit lang-
sam aber sicher
jeden Funken von
Menschlichkeit zu
verlieren?“
jens-christian
rabe
SCHAUPLATZ
MADRID
Viele Sprachen, viele Worte
Nahostkonflikt als Familiendrama: „Vögel“ von Wajdi Mouawad in Wien
„Wenn der erste Spatenstich nicht
in diesem Jahr stattfindet, ist die
Sammlung weg“, droht der Anwalt
Zwei Orte standen zur Wahl
für das „Berliner MoMA“.
Gebaut wird am ungünstigeren
Gleich neben Mies van der Rohe: Südfassade des Museumsneubaus mit hangarartigen Toren. Eine schräg gestellte Wand lässt zusätzliches Licht ins Untergeschoss. FOTO: © HERZOG & DE MEURON
Lebenslügen, mustergültig inszeniert: die
„Vögel“ im Akademietheater. FOTO: M. HORN
POPKOLUMNE

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