Süddeutsche Zeitung - 18.09.2019

(Tina Sui) #1

Es fängt damit an, dass Tiger und Urmilla
heiraten.Oder eigentlich: verheiratet wer-
den. So, wie es bei einer traditionsstolzen
indischen Sippe im Trinidad der Vierziger-
jahre Brauch ist. Braut und Bräutigam,
beide fast noch Kinder und einander völlig
unbekannt, sollen fortan als Mann und
Frau unter einem Dach zusammenleben
und möglichst bald auch die „Ehe vollzie-
hen“. Tiger ist überfordert. Für Ratschläge
von Rita, der lebensklugen Nachbarin, ist
er dankbar. Urmilla dagegen braucht keine
Nachhilfe, nicht, weil sie mehr wüsste, son-
dern, weil sie sowieso nichts wissen muss.
Von Rasse, Klasse und Geschlecht im spät-
kolonialen Trinidad erzählt Samuel (oder
Sam) Selvon in seinem frühen Roman „A
Brighter Sun“ von 1952, der jetzt unter
dem Titel „Eine hellere Sonne“ erstmals
auf Deutsch erscheint.
Die hellere Sonne des Romans leuchtet
denen, die sich wie Tiger auf den Bildungs-
pfad begeben: vom Zuckerrohrschneider
zum Gemüsebauern, später dann zum Ar-
beiter im Straßenbau, der lesen und schrei-
ben lernt und allerlei frühreife Frage an die
Welt hat, schließlich zum Autor einer Kurz-
geschichte, die vielleicht sogar einen Preis
desTrinidad Guardiangewinnen wird. Es
gibt Entwicklungen auf der Insel, allen
voran der Highway-Bau der Amerikaner
während des Krieges, die ungeahnte Dyna-
mik in Tigers Leben bringen. Nicht aber in
das seiner Frau. Die Bildungschancen, die
Selvons seiner aufgeweckten Hauptfigur
zuteilwerden lässt, gehen an Frauen wie
Urmilla gänzlich vorbei.


Die Kapitel leitet Selvon gerne mit ver-
mischten Meldungen ein. „Als sich im
April 1944 die Wolken des Krieges lichte-
ten“, heißt es einmal, „sprossen in der
Northern Range die gelben und violetten
Blüten des Palisanders wie verrückt und
tauchten als Kleckse in der braunen Hügel-
landschaft auf.“ Als sei er der Erstbeschrei-
ber einer bis dahin unbeschriebenen Welt
(und er ist es ja tatsächlich), will Selvon
alles aufzeichnen und festhalten, was das
Leben der Menschen auf Trinidad aus-
macht. Die Leser sollen Trinidad verstehen
lernen, weil er ihnen sein Land erklärt.
Etwa den Umstand, dass die Chinesen hier
wie anderswo am liebsten Wäschereien
oder Lebensmittelgeschäfte betreiben.
Selvon erklärt wohl deshalb so viel, weil
seinen Lesern die Welt von Trinidad unbe-
kannt ist, jedenfalls nicht mehr vor Augen
steht. Selbst Spross einer indischen Fami-
lie aus Trinidad, ging Selvon 1950 als
junger Mann nach England, im selben Jahr
wie sein jüngerer Landsmann V. S. Naipaul.
Der hatte für Selvons literarische Leistung
nur ein vergiftetes Lob übrig. In ihrem
klugen Nachwort zitiert Sigrid Löffler Nai-
pauls Satz: „Selvons Begabungen mögen
unwichtig gewesen sein, aber sie sind kost-
bar.“ Ein typischer Naipaul: ziemlich ge-
mein, aber nicht ganz falsch. Bestimmt ist
Selvon kein Schreiber von Naipauls Statur



  • dafür ist er zu liebenswürdig, zu gutmü-
    tig. „Kostbar“ ist an Selvon vielleicht aber
    etwas anderes. Er hat, sprachlich und the-
    matisch, den Weg gewiesen für eine Litera-
    tur der karibischen Diaspora, in London,
    New York und anderswo. Jahrzehnte vor
    dem Siegeszug des „hybriden“, „postkolo-
    nialen“ Schreibens aus dem „globalen
    Süden“ hat Selvon seiner Insel zu einer
    literarischen Artikulation verholfen, die es
    bis dahin nicht gab.
    Das britische Publikum, für das Selvon
    nach seiner Ankunft in London schrieb,
    hatte wohl tatsächlich von Trinidad wenig
    Ahnung. Die karibische Community in den
    großen Metropolen mag an Selvons
    Roman die präzise Rekonstruktion einer
    schon verschwundenen Herkunftswelt ge-
    schätzt haben. Bei aller Wertschätzung, die
    auch heutige Leser bei der Erstbegegnung
    mit dem Roman teilen können, bleibt
    Naipauls Verdikt an ihm hängen. Ja, man
    wird den Eindruck einer etwas biederen
    Schullektüre nicht ganz los – und tut dem
    Buch damit womöglich unrecht. Immerhin
    ist es gerade als Schulbuch zu einem Teil
    des englischsprachigen Literaturkanons
    geworden. Selvons eigentliche Leistung
    liegt indessen aber wohl gar nicht im Feld
    des Erzählten, sondern im Erzählen selbst.
    Er hat, vielleicht als Erster, das Trinida-
    dian Creole, und überhaupt das karibische
    Englisch literaturfähig gemacht. In Sel-
    vons dialogreichem Roman lässt sich das
    auch als sprachliche Reifung seines Prot-
    agonisten nacherleben. Erst noch äußerst
    eingeschränkt in seinem Ausdrucks-
    schatz, mausert er sich später zum Rhetor,
    der am Ende des Romans seine verdutzte
    Frau schon wie folgt belehren kann: „Du
    machst dich impertinent. Du steigst auf
    das hohe Ross zum Indignieren.“ Die
    deutsche Übersetzung von Miriam Mandel-
    kow gibt sich alle Mühe, Selvons Dialoge
    nachzuvollziehen. Da sind die Leute gerne
    mal „mucks und dösig“, oft ist man auch
    einander „grant“, entweder, weil einer „ge-
    diebt“ hat, oder weil ein Mann „gehörnert“
    wurde. Die Irritation, die man angesichts
    solcher Übersetzungslösungen erlebt, ist
    produktiv. Denn irritierend muss auch
    Selvons Sprache auf seine zeitgenössi-
    schen Leser gewirkt haben; und in dieser
    Irritation liegt wohl der bleibende Wert
    dieses Romans. christoph bartmann


Samuel Selvon: Eine hellere Sonne. Roman. Aus
dem Englischen von Miriam Mandelkow. Mit einem
Nachwortvon Sigrid Löffler. dtv, München 2019.
252 Seiten, 22 Euro.


In der deutschsprachigen Comicszene hat
Reinhard Kleist sich einen ganz eigenen
Platz erobert. Am Anfang seiner Karriere
hatte er einen Hang zum Horror, bevor er
sich dem dokumentarischen Comic zu-
wandte, bevorzugt der Biografie. Mit Aus-
nahme einer 2010 erschienenen Graphic
Novel über Fidel Castro hat Kleist große
historische Persönlichkeiten allerdings bis-
lang gemieden. Ihn interessieren die Schei-
ternden und die Übersehenen, die Außen-
seiter, auch wenn es sich bei ihnen, wie in
seinen Comics über Johnny Cash (2006)
und Nick Cave (2017), um Stars handelt.
Neben der Popmusik gehört der Sport
zu Kleists bevorzugten Terrains. „Der Bo-
xer“ (2012) erzählt von Hertzko Haft, ei-
nem jüdischen Schwergewichtler, der die
Hölle von Auschwitz überlebte. „Der
Traum von Olympia“ (2015) schildert das

tragische Schicksal der somalischen
Leichtathletin Samia Yusuf Omar, die
2008 an den Olympischen Spielen in Pe-
king teilnahm, bevor sie 21-jährig auf der
Flucht aus ihrem Heimatland vor der italie-
nischen Küste ertrank. In „Knock Out!“
steht nun wieder ein Boxer im Zentrum:
der 1938 geborene und 2013 verstorbene
Emile Griffith, Weltmeister im Welter-,
Halbmittel- und Mittelgewicht.
Er ist eine schillernde Figur: ein großer
Boxer, aber auch einer, der einen Men-
schen im Ring tötete. Und Griffith war, was
ein Boxer zu seiner Zeit keinesfalls sein
durfte und Sportlern auch heute noch
kaum zugestanden wird: Er war schwul.
Auf der Karibikinsel St.Thomas gebo-
ren, kam er als Jugendlicher nach New
York, wo er im Geschäft eines Damenhut-
machers aushalf und ein beachtliches Ta-
lent für eigene Hutkreationen an den Tag
legte. Die Sportarten, die ihn interessier-
ten, waren Baseball und Tischtennis; weil
er dunkelhäutig war und arm, stand ihm
aber nur eine Boxkarriere offen. Schnell
stieg er auf, bis er bei einem Kampf im Jahr
1962 seinem Gegner Benny Paret in der

Ringecke so schwere Treffer zufügte, dass
dieser ins Koma fiel und Tage später starb.
Zuvor hatte Paret öffentlich über die sexu-
elle Orientierung von Griffith gespottet.
Durch die ausgefeilte Dramaturgie
Kleists liest sich diese Lebensgeschichte so
spannend wie ein Roman. Am Anfang des
Comics wird der alte, betrunkene Griffith
von vier jungen weißen Rassisten brutal zu-
sammengeschlagen. Der von ihm im Ring
getötete Benny Paret erscheint ihm, und
im gemeinsamen Gespräch erinnert Grif-
fith sich, halluziniert sein Leben, immer
wieder unterbrochen durch Momente, die
in der Erzählgegenwart spielen. Comic-Bio-
grafien, die sich einfach an der Chrono-
logie entlanghangeln, können ziemlich
langweilig sein – dieser Falle weicht Kleist
damit souverän aus.
Die Zeichnungen in „Knock Out!“ zei-
gen wieder einmal, dass Kleist, nicht nur
im Vergleich mit hiesigen Comicautoren,
zu den ganz großen Schwarz-Weiß-Künst-
lern zählt. Wie in „Der Boxer“ arbeitet er
hier ausschließlich mit harten Kontrasten;
es gibt keine Grautöne. Mit seinem variab-
len Seitenlayout wird er ganz unterschied-
lichen Stimmungen und Situationen ge-
recht: Eine ganzseitige Ansicht des hoch-
sommerlichen New York scheint vor
Schweiß zu triefen; überraschende Per-
spektivenwechsel in einer nächtlichen Sei-
tenstraße spiegeln die Trunkenheit von
Griffith wider. Die Parallelmontage zweier
Gespräche, die er mit einem seiner Liebha-
ber und seinem Trainer führt, lässt in der
Gegenüberstellung der Dialoge Zweideu-
tigkeiten entstehen, die auf die von hetero-
normativen Zwängen verursachte Zerris-
senheit des Boxers verweisen.
Am Ende des Buches finden sich zwei
Fotos: Griffith im Glanz seiner Jugend und
als vom Leben erschöpfter Endsechziger.
Zugleich freundlich und charismatisch
wirkt er in beiden Fällen. Dieser Mann
sollte nicht vergessen werden. Reinhard
Kleist hat ihm das Denkmal gesetzt, das er
verdient. christoph haas

Reinhard Kleist (Text und Zeichnungen):Knock
Out! Carlsen Verlag, Hamburg 2019. 159 Seiten,
18 Euro.

von gustav seibt

B

eim letzten Treffen der Gruppe 47
im Hotel Kleber-Post im Saulgau –
„rosa Tapeten, geraffte Store-Gar-
dinen, Kronleuchter und Spitzendecken“,
weiß der Chronist Volker Weidermann –
beklagte Günter Grass, dass das deutsche
Scheidungsrecht eine Trennung zwischen
Autor und Kritiker nicht vorsehe. Denn
schon damals, im Jahr 1977, war klar, der
längst zum Nationalautor aufgestiegene
Grass würde seinen leidenschaftlichsten
Beobachter nicht mehr loswerden.
Marcel Reich-Ranicki war seinerseits zu
einer Art Institution geworden – gerade
hatte er, wie Weidermann zutreffend
vermerkt, das Literaturressort der FAZ zu
einem „persönlichen Machtapparat“ aus-
gebaut. Grass hatte er schon fast zwei
Jahrzehnte immer wieder rezensiert, mal
hochgehoben, mal auf den Boden krachen
lassen, oft beides im selben Text, einmal
hatte er sich immerhin revidiert, nämlich
für seinen ersten gönnerhaften Verriss der
„Blechtrommel“.

Das würde so weitergehen, und es ging
so weiter, bis zum brutalen Doppelschlag
gegen das „Weite Feld“, das Reich-Ranicki
1995 im Spiegelund im „Literarischen
Quartett“ so vehement vernichtete, als wol-
le er beweisen, dass man die Todesstrafe
zweimal verhängen kann. Damit aller-
dings war der Vulkan fast erloschen – an
den Diskussionen zu Grass’ jugendlicher
Mitgliedschaft in der Waffen-SS beteiligte
sich Reich-Ranicki nicht mehr, nur das
missratene Israel-Gedicht von 2012 veran-
lasste ihn noch einmal zu einer kurzen Stel-
lungnahme („eine Gemeinheit“, „Unsinn“).
Volker Weidermann hat seine Geschich-
te als „Duell“ betitelt. Und zu Teilen war sie
das auch, denn Grass reagierte auf seinen
Kritiker, durch Gegenpolemiken und da-
durch, dass er ihn in seine Romane auf-
nahm. Ein Hin und Her also. Die beiden
führten einen Briefwechsel, gelegentlich
wirkten sie im Literaturbetrieb zusam-
men. Trotzdem ist das kein Buch über Lite-
raturkritik, sondern eine Doppelbiografie.
Weidermann beginnt also bei den
deutsch-polnischen Anfängen seiner bei-
den Helden, und bevor sie erstmals zusam-
mentreffen, ist mehr als ein Drittel des
Buchs schon vorbei. Die Dramatisierung
ist naheliegend und effektvoll: hier der
verfolgte Jude mit seiner erschütternden

Überlebensgeschichte, dort ein dummer
deutscher Junge aus Danzig, der sich im
letzten Moment des Kriegs zur Waffen-SS
anwerben lässt. Dass Reich-Ranicki zu
diesem Punkt übrigens schwieg, ist nicht
einmal verwunderlich. Vermutlich hatte er
nicht vergessen, was Grass schon 1979
bekannt hatte, als er sich fragte, was ge-
schehen wäre, wenn er zehn Jahre früher
auf die Welt gekommen wäre: „Es spricht
nichts (oder nur Gewünschtes) gegen
meine zielstrebige Entwicklung zum über-
zeugten Nationalsozialisten.“ Das Format
der Doppelbiografie erlaubt es, vor allem
für die Sechzigerjahre den politischen
Einklang der beiden plastisch werden zu
lassen, so in der gemeinsamen Bewunde-
rung für Willy Brandt.
Nichts daran allerdings ist neu oder
auch nur neu gesehen. Weidermann kom-
piliert das Bekannte, zu dem auch seine
späte persönliche Vertrautheit mit Reich-

Ranicki nichts Eigenes beiträgt. Für die
Frühzeit seiner Protagonisten sind neben
den autobiografischen Zeugnissen nur
wenig andere Quellen greifbar.
Weidermann entscheidet sich für eine
geraffte Paraphrase, mit Elementen der
erlebten Rede: „Wann endlich wird es
ernst? Ernst für ihn, für seine Kameraden,
für seine Stadt? Wie lange noch soll er Hel-
denberichte in der Wochenschau schauen,
ohne selbst ein Held sein zu können?“ Auf
der anderen Seite: „Zwei Menschen sind
frei. Teofila und Marcel. Frei in einer zer-
störten Welt. Es ist der 7. September 1944.
Niemand kümmert sich um sie. Sie sind
schwach, dreckig, verlaust.“
Wer das mag und die Originale noch
nicht kennt, wird mit dieser raschen, routi-
nierten Dramatisierung ein paar unter-
haltsame Stunden verbringen. Tatsächlich
erweckt Weidermann die Lust, nicht nur
Reich-Ranickis „Mein Leben“ noch einmal

zu lesen, sondern sogar in verstaubte
Grass-Bände wieder hineinzuschauen, vor
allem in das Biografie und Politik verknüp-
fende „Tagebuch einer Schnecke“ aus dem
Jahr 1972. Könnte es sein, dass das gelebte
Leben hinter diesen Büchern interessanter
ist als diese selbst?

Wer sich das fragt, wird bedauern, dass
Weidermann so gar keine Neigung zeigt,
den Essay zur Literaturkritik zu schreiben,
der in seinem Stoff auch steckt. Zu dem
Metier, das er selbst ausübt, hat er sich alle
Mühe des Nachdenkens erspart. Unent-
wegt spricht er von Reich-Ranickis leiden-
schaftlicher Liebe zur deutschen Literatur.
Aber seine Interessen und deren Grenzen

sind ihm keine Bemerkung wert. Als Kriti-
ker ließ Reich-Ranicki Autoren wie Arno
Schmidt, Hans Magnus Enzensberger,
Heimito von Doderer, Ernst Jünger, später
Thomas Bernhard, Peter Hacks, Heiner
Müller so gut wie unbeachtet, er lehnte
Peter Handke und Botho Strauß rund-
heraus ab. Der Literaturchef bewegte sich
einem streng abgezirkelten Gebiet.
Dass der Großkritiker auch ein Litera-
turpolitiker war, eine Art CEO der Gegen-
wartsliteratur, interessiert Weidermann
nicht. Darum kommen auch die parallelen
Autor-Kritiker-Geschichten, vor allem die
mit Martin Walser, nicht in den Blick.
Reich-Ranickis Stellung in der lesenden
Öffentlichkeit, die sehr schwankend war,
bleibt ohne Beleuchtung, was auch damit
zusammenhängt, dass Weidermann Reich-
Ranickis Stil zwar zu Wort kommen lässt,
ihn aber nicht charakterisiert.
Dass seit den Achtzigerjahren eine neue
Generation von Lesern und Autoren – so
die „Neue Frankfurter Schule“ – über Ton
und Rollenverständnis des Großkritikers
eher belustigt war, gehörte schon in den
Kontext einer Darstellung, die den großen
Kritiker als Gegenüber des großen Autors
exponiert. Weidermann zeigt einfühlsam,
dass Reich-Ranicki lebenslang ein jüdi-
scher Außenseiter blieb, wie spät dieser
Umstand ein Thema der Öffentlichkeit
wurde, macht er aber kaum bewusst. So
konnte sich der Spott über den Literatur-
papst ungebremst austoben.
Auch die Stellung des repräsentativen
Nationalautors, die Grass so zielstrebig
eroberte, geriet je länger je mehr ins
Sperrfeuer von Hohn und Spott. Grass als
zeitkritischem Stichwortgeber war zwar
immer ungeteilte Aufmerksamkeit sicher,
aber sein eher pompöses Rollenverständ-
nis – im Kern: die Nachfolge Thomas
Manns – wurde ihm immer weniger ab-
genommen. Doch wirkte es natürlich nach
bis zur monumentalen Aufregung über
seine lange verschwiegene Mitgliedschaft
bei der Waffen-SS.
Solche Fragen gehören zur Sache von
Weidermanns Buch, wie immer man
dessen Genre einschätzt. Denn der große
Schaukampf hatte literatursoziologische,
medien- und pressegeschichtliche Voraus-
setzungen, die bis in den Schulunterricht
reichen. All das ist heute schon tief vergan-
gen. Es ist schade, dass Volker Weider-
mann, der ein so geschickter Erzähler ist,
so wenig Lust auf Reflexion hat.

Volker Weidermann:Das Duell. Die Geschichte von
Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki. Verlag Kie-
penheuer&Witsch, Köln 2019. 310 Seiten, 22 Euro.

(^12) LITERATUR Mittwoch, 18. September 2019, Nr. 216 DEFGH
Nachrichten aus
der Karibik
Samuel Selvons Debütroman
erstmals auf Deutsch
Im April 1995, noch vor Erscheinen des Buches, las Günter Grass auf Einladung von Marcel Reich-Ranicki im Jüdischen
Gemeindehaus in Frankfurt am Main aus seinem Roman „Ein weites Feld“. FOTO: PICTURE-ALLIANCE / DPA
Harte Schläge
Halluzination eines Lebens: Reinhard Kleists Comic
„Knock Out!“ über den schwulen Boxer Emile Griffith
Die Zeichnungen zeigen wieder
einmal, dass Kleist zu den großen
Schwarz-Weiß-Künstlern zählt
Die Zwangsehe
Flott erzählt, aber leider kein Essay zur Literaturkritik:
Volker Weidermann schildert in „Das Duell“ den Schaukampf zwischen Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki
Selvon erklärt wohl deshalb so
viel, weil Trinidad
seinen Lesern völlig unbekannt ist
Der Kritiker Reich-Ranicki
agierte, was seine Gegenstände
betraf, auf einem engen Gebiet
Hier der verfolgte Jude aus
Polen, dort ein dummer
deutscher Junge aus Danzig
Gewaltausbruch in hartem Schwarz-Weiß: Vor dem Kampf von Emile Griffith
gegen BennyParet fällt eine homophobe Bemerkung – und Griffith rastet aus. Reinhard Kleist
zeichnet den Kampf als wilden Clash der Kontraste.FOTO: REINHARD KLEIST / CARLSEN

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