Süddeutsche Zeitung - 18.09.2019

(Tina Sui) #1
Am Anfang hat sich Xavier Bettel noch völ-
lig unterKontrolle, trotz der seltsamen La-
ge. Luxemburgs Premier steht vor seinem
Pult, doch neben ihm herrscht Leere.
Kurzfristig hat Boris Johnson ihre Presse-
konferenz abgesagt; offiziell aus Sorge,
dass die Politiker im Freien nicht zu hören
sein würden, weil einige Dutzend Men-
schen ihrem Unmut über die Brexit-Stra-
tegie des britischen Premiers Ausdruck
geben. Bettel stört dies nicht. So kommt
es zu einem Auftritt, der den 46-Jährigen
auf der Insel zur Hassfigur macht, aber
auch zur Folge hat, dass ihm die Sympa-
thien vieler Europäer zufliegen. Denn Bet-
tel verbirgt seinen Brexit-Frust nicht.
Mehrfach deutet er mit beiden Händen
auf das leere Pult und fordert London auf,
den Juristen der Verhandlungsteams end-
lich „schriftliche Texte, mit denen man
arbeiten kann“, vorzulegen. „Hört auf zu
reden und handelt“, ruft er dem abwesen-
den Johnson und den Seinen zu, denn nur
sie könnten den „Albtraum“ beenden. In
der Fragerunde wird Bettel immer deutli-
cher. Er ruft die Konservativen auf, die
Bürger auf beiden Seiten des Kanals zu be-
rücksichtigen: „Man kann ihre Zukunft
nicht für parteipolitischen Nutzen zur Gei-
sel nehmen.“ Er spricht aus, was in Brüs-
sel alle denken: Die EU-Kommission und
die Mitgliedstaaten seien nicht schuld dar-
an, dass der Brexit noch nicht vollzogen
ist; es liege ein Abkommen vor, das There-
sa May akzeptiert hat. Der Brexit sei eine
einseitige britische Entscheidung; und be-
vor er unter Applaus die Bühne verlässt,
sagt Bettel: „Dies sind hausgemachte Pro-
bleme“, und die EU-27 seien „nicht verant-
wortlich für den Schlamassel“.
In dem 66-Millionen-Einwohner-Land
Großbritannien landet der Premier aus

dem Großherzogtum mit 600 000 Bewoh-
nern auf den Titelseiten vieler Zeitungen.
Von „Demütigung“ schreibt der linkeGu-
ardian, während der Daily Telegraph
schimpft: „Luxemburg lacht Johnson ins
Gesicht.“ Von einem „Hinterhalt“ ist die
Rede, und die BoulevardzeitungDaily Ex-
presssieht sich bestätigt: „Kein Wunder,
dass Großbritannien dafür gestimmt hat,
die EU zu verlassen.“
Aus Brüsseler Sicht verwundert es,
dass Bettel zum Buhmann der Briten wur-
de. Mit Charles Michel aus Belgien und
Frankreichs Emmanuel Macron bildet er
die „liberale Boygroup“. Bettel ist zwar be-

kannt für knackige Sprüche, die er vor
Gipfeln geduldig und in mehreren Spra-
chen in die Kameras sagt – aber auch für
Optimismus und Kompromissfähigkeit.
BeiPoliticoschwärmte er kürzlich von An-
gela Merkel, die er für ihre Haltung in der
Flüchtlingskrise bewundere. Er liebe es,
nach den Gipfeln mit der Kanzlerin über
die Weltlage zu sprechen: „bei einem Gläs-
chen oder zwei“. Im Juni zeigte ein Video
Bettel, wie er den Noch-EU-Kommissions-
präsidenten Jean-Claude Juncker tröste-
te und ihm den Rücken rieb. „Bettel ist
der Freund, den wir alle brauchen“, hieß
es damals in einem unironischen Tweet.
Dieser Clip ist umso bemerkenswerter,
als Bettel Ende 2013 Juncker knallhart
aus dem Amt des Luxemburger Premiers
fegte. Dessen Christlich-Soziale Volkspar-
tei blieb zwar stärkste Kraft, aber Bettels
Demokratische Partei formte mit Sozial-
demokraten und Grünen eine Regierung.
Dabei half ihm, dass er nach seinem Jura-
studium in Nancy mit nur 26 Jahren ins
Parlament gewählt wurde. Im Herbst
2018 verteidigte die Koalition ihre Mehr-
heit. Kritiker halten Bettel dennoch vor,
keine Antwort auf drängende Probleme
zu finden. Das Land „ersticke an seinem
Wachstum“, urteilt das Luxemburger
Wortund beklagt Dauerstau, Fixierung
auf geringe Steuern, Deregulierung in der
Finanzbranche und die für junge Leute un-
erschwinglichen Immobilienpreise.
Mit sechs Amtsjahren gehört Bettel zu
den erfahreneren Staats- und Regierungs-
chefs. Auch deshalb sind manche EU-Di-
plomaten nicht froh darüber, dass Bettel
seinen Frust offen zeigte: „Unter seinen
Fans wird Johnson die Episode nicht scha-
den. Dem Prozess, einen No-Deal zu ver-
meiden, hilft es nicht.“ matthias kolb

I


sraels Premierminister Benjamin Ne-
tanjahu hat im Wahlkampf alle Hem-
mungen fallenlassen. Er hat die Anne-
xion von Teilen des Westjordanlandes
und zuletzt sogar der jüdischen Enklave
in Hebron versprochen. Er hat arabische
Wähler des Betrugs bezichtigt und Regeln
gebrochen, indem er am Wahltag Umfra-
gen veröffentlicht und Interviews gege-
ben hat. Damit hat Netanjahu wieder ein-
mal gezeigt, dass er der Ansicht ist, er ste-
he über dem Gesetz. All das hat ihm nichts
genützt, aber es hat die Demokratie be-
schädigt.
Es hat sich für ihn auch nicht gelohnt,
dass er binnen fünf Monaten noch einmal
auf Neuwahlen gesetzt hat, statt dem da-


mals Zweitplatzierten Benny Gantz vom
blau-weißen Bündnis die Chance zur Re-
gierungsbildung zu überlassen.
Netanjahu befindet sich in der gleichen
Situation wie im April: Nur mit Avigdor
Liebermans Partei könnte er eine Regie-
rung bilden. Die Ausgangslage hat sich für
ihn sogar verschlechtert, weil Liebermans
Partei zugelegt hat. Lieberman ist wieder
in der Rolle des Königsmachers. Bleibt Lie-
berman bei seiner Ankündigung, eine Ein-
heitsregierung aus Blau-Weiß und Likud
unterstützen zu wollen, und bleibt auch
Gantz dabei, nicht in eine Regierung mit
dem bisherigen Premier einzutreten,
dann ist Netanjahus Ära vorbei.
alexandra föderl-schmid

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von daniel brössler

V


or drei Jahren präsentierte Federi-
ca Mogherini, die nun bald schei-
dende EU-Außenbeauftragte, eine
„globale Strategie“ für die Europäische
Union. Dabei stellte sie dem Dokument
ein paar Worte über jenes scheinbare Rät-
sel voran, das Europas Rolle in der Welt
prägt. Mit fast einer halben Milliarde Bür-
ger und einer Wirtschaftsmacht, mit der
sich nur die USA und China messen kön-
nen, verfüge die EU über ein „beispiello-
ses Potenzial“. Der EU gelinge es aber
nicht, konstatierte die Italienerin in form-
vollendeter Untertreibung, dieses Poten-
zial „in vollem Umfang auszuschöpfen“.
Mit dem Anspruch, das zu ändern, trat in
Frankreich Präsident Emmanuel Macron
auf den Plan. Europa sollte souverän wer-
den. Nun, während sie schockiert auf den
Brand am Golf blicken, müssen die Euro-
päer feststellen, dass sie diesem Ziel in
den vergangenen Jahren keinen Schritt
näher gekommen sind. Im Gegenteil.
Seit den Drohnenangriffen auf saudi-
sche Ölanlagen ist die Kriegsgefahr am
Golf noch einmal drastisch gestiegen.
Und wiewohl es ein Krieg wäre, der Sicher-
heit und Wohlstand in Europa drama-
tisch gefährdet, müssen sich die Europä-
er eingestehen: Ihre Möglichkeiten, Ein-
fluss auf das Geschehen zu nehmen, sind
minimal. Wie klein der Spielraum ist,
zeigen schon die ehrenwerten, aber mit-
unter hilflosen Versuche, das Atomab-
kommen mit Iran zu retten. Die Europäer
werden zerrieben zwischen der kopf-
losen Politik des maximalen Drucks von
US-Präsident Donald Trump und dem
unerfüllbaren Anspruch der Iraner, vor
den Folgen der US-Sanktionspolitik in
maximaler Weise bewahrt zu werden.
In der jetzt noch einmal drastisch zuge-
spitzten Lage sitzen die Europäer, und
hier besonders die Deutschen, zunächst
einmal auf dem Platz des bangenden Zu-

schauers. Sie müssen hoffen, dass Saudi-
Arabiens selbstherrlicher Prinz Moham-
med bin Salman die Nerven bewahrt. Sie
müssen hoffen, dass die iranischen
Machthaber nicht immer weiter und wei-
ter zündeln, weil sie glauben, dass sie
einen zaudernden Trump nicht fürchten
müssen. Vor allem aber müssen sie hof-
fen, dass ein heillos überforderter US-Prä-
sident sich nicht immer tiefer in Wider-
sprüche verstrickt und einem Krieg nä-
hert, den er eigentlich nicht will. Auf alle
diese Akteure können und sollten die Eu-
ropäer einreden, auf keinen aber wird es
viel Eindruck machen. Sich das klarzuma-
chen, ist Realismus. Sich damit tatenlos
abzufinden, wäre Fatalismus.

Selbstverständlich muss Europa nun
also seine bescheidenen Mittel einsetzen,
um einer weiteren Eskalation entgegen-
zuwirken. So unwahrscheinlich es ist,
dass der französische Präsident Trump
wirksam ins Gewissen reden kann, versu-
chen sollte er es. So wenig wahrscheinlich
eine diplomatische Lösung ist, so sehr
sollte Deutschland als nichtständiges Mit-
glied im UN-Sicherheitsrat und mit sei-
nen relativ guten Kontakten in alle Rich-
tungen versuchen, zu einer Beruhigung
beizutragen. Wenn Bundeskanzlerin An-
gela Merkel nun versichert, Deutschland
werde immer auf Seiten der Deeskalation
stehen, lässt das die Frage offen, wie es
effektiv zu einer Deeskalation beitragen
kann. Kurzfristig sicher nicht durch eine
Aufhebung des Waffenembargos gegen
Saudi-Arabien, wie es einige aus der Uni-
on fordern. Langfristig aber schwächt mo-
ralischer Rigorismus Deutschlands Ein-
flussmöglichkeiten – und damit auch die
Europas.

von kristiana ludwig

D


ie neue, digitale Arbeitswelt ge-
biert viele Ideen, die Freiheit ver-
sprechen und doch das Gegenteil
bewirken. Die Flexibilität ist so eine Idee.
Einerseits gibt es für die Vereinbarkeit von
Beruf und Privatleben wohl keine bessere
Unterstützung als die Möglichkeit, statt
im Büro in der eigenen Wohnung zu arbei-
ten. Zwischen E-Mails und Kundentelefo-
naten können Eltern dann beispielsweise
ihrem kranken Kind eine Suppe kochen.
Wer morgens nicht im Auto auf dem Weg
zur Arbeit sitzen muss, kann den Tag mit
Sport beginnen. Doch andererseits hebt
diese Flexibilität die klaren Grenzen zwi-
schen Arbeit und Freizeit auf. Mit dem Er-
gebnis, dass Beschäftigte im Home-Office
noch in der Nacht über ihren Aufgaben
grübeln oder erschöpft sind von ihrem om-
nipräsenten Beruf. Eine aktuelle AOK-Stu-
die zeigt, dass psychische Überlastung fle-
xible Home-Office-Nutzer eher trifft als
deren Kollegen im Büro. Arbeitgeber müs-
sen diese Gefahr endlich ernst nehmen.
Diese Gesellschaft krankt an ihren gren-
zenlosen Arbeitsmodellen. Wobei etwa
die neue Autonomie vieler Arbeitnehmer
erst einmal gut klingt. Die Hierarchien in
Unternehmen werden flacher, die Eigen-
verantwortung von Beschäftigten steigt.
Wichtig ist, welches Ergebnis ein Mitarbei-
ter am Ende eines Projekts präsentieren
kann. Die Zeit der strengen Vorgaben für
jeden einzelnen Arbeitsschritt gehört in
vielen Branchen der Vergangenheit an, zu-
mal, wenn es um die Entwicklung neuer,
kreativer Produkte geht. Doch auch hier
gilt: Wer ein Ziel erreichen will, kann an
dessen Optimierung grenzenlos arbeiten.
Arbeit wird so immer wieder zum überfor-
dernden Endspurt.
Gerade dann, wenn in Betrieben Kon-
kurrenzdruck herrscht oder das Arbeits-
verhältnis nur befristet ist, ermuntert der
Leistungsdruck viele Arbeitnehmer zur

„interessierten Selbstgefährdung“, wie es
bei Gesundheitsexperten heißt – zu einer
so ausgiebigen Selbstausbeutung, dass
sie für die Gesundheit bedrohlich wird. Ru-
hezeiten, Urlaubs- und Krankheitstage
werden dann nicht genutzt, wer in der Wo-
che ausfällt, arbeitet freiwillig am Wo-
chenende nach.
Wenn klare Ansagen fehlen, müssen
Mitarbeiter immer wieder aufs Neue un-
tereinander aushandeln, wer eine Ent-
scheidung trifft oder welche Folgen ihre
Handlungen für das ganze Unternehmen
haben. All das bedeutet Stress. Eine solche
Dauerbelastung geht nur selten über län-
gere Zeit gut. Fast jede zweite neue Früh-
rente wird heute wegen einer psychischen
Erkrankung bewilligt.

Für Arbeitgeber ist die neue Rolle ihrer
Mitarbeiter zunächst sehr bequem. Wenn
anstelle von Weisungsempfängern eine
leistungswillige Gruppe autonomer Köp-
fe für sie arbeitet, ist das für die meisten
Unternehmen ein Gewinn. Doch wenn sie
nicht beginnen, ihre Mitarbeiter vor die-
ser entgrenzten Arbeit zu schützen, wird
es immer mehr Beschäftigte geben, die we-
gen psychischer Erkrankungen über lan-
ge Zeit ausfallen.
Der neue Arbeitsschutz darf nicht nur
aus Obstschalen oder Fitnessräumen be-
stehen. Firmen brauchen Beratungsange-
bote, die Vorgesetzten und Mitarbeitern
vermitteln, wie sie sich selbst regulieren
und Pausen gönnen können. Nötig ist eine
Betriebskultur, in der es in Ordnung ist, ei-
ne Mail vom Chef am Samstag bis zum
Montag zu ignorieren. Vorgesetzte müs-
sen ihren Mitarbeitern Vertrauen schen-
ken. Nur wenn sie an deren Engagement
glauben, entsteht gesunde Flexibilität.

E


dward Snowden hat es selbst ge-
sagt: Es sei traurig, dass der einzige
Ort, an dem ein US-Whistleblower
frei sprechen kann, Russland ist und nicht
die EU. Und er hat recht. Snowden bleibt
von der Gnade des Kreml abhängig. Es ist
nicht nur traurig, sondern auch beschä-
mend, dass sich kein EU-Staat findet, der
Snowden aufnimmt, auch die Regierung
in Berlin windet sich verlegen. Manche in
der CDU klingen so, als sei es ein Verräter,
den man da beherbergen solle.
Ja, eine Aufenthaltsgenehmigung oder
gar Asyl für Snowden würde den wichtigs-
ten Verbündeten, die USA, brüskieren,
aber, wie man dort so schön sagt:So what?
Edward Snowden war ja kein Agent frem-


der Mächte, sondern er brachte als Mitar-
beiter des amerikanischen Abhördienstes
NSA dessen illegales Überwachungsnetz
ans Licht. Nicht er ist ein Verräter, son-
dern die US-Regierung samt ihrer Organe.
Sie haben jene demokratischen Werte ver-
raten, für die sie angeblich einstehen.
Präsident Donald Trump ließ sogar wis-
sen, er würde Snowden gern tot sehen. Es
gibt massive Zweifel, ob den Enthüller un-
ter solchen Umständen in den USA ein fai-
res Verfahren erwarten würde. Nicht nur
deshalb ist es überfällig, dass die EU Men-
schen hilft, die Missstände und Unrecht
enthüllen. Es gäbe einen Weg dazu: end-
lich ein Gesetz zum Schutz von Whistleblo-
wern zu erlassen. joachim käppner

A


n Gräbern lässt sich abzählen, dass
in Bayern etwas im Argen liegt. Nir-
gends sonst in Deutschland sterben
so viele Drogenabhängige. Nicht in Hes-
sen mit seiner notorischen Frankfurter
Junkieszene, nicht in Nordrhein-Westfa-
len mit seinen Elendsquartieren, sondern
im reichen Freistaat mit seiner besonders
strikten Drogenpolitik.
Nun kann man beim Kampf gegen die
Sucht von keiner Regierung Wunder er-
warten. Einem Menschen aus den Fängen
eines Stoffes wie Heroin zu helfen, ist eine
Sisyphusaufgabe. Aber die Sucht allein ist
auch nicht unbedingt das, was Menschen
ins Grab bringt. Wenn von Drogentoten
die Rede ist, geht es in Wahrheit meist um


Faktoren, die zur Sucht hinzukommen:
Hepatitis, weil keine saubere Injektions-
nadel zur Hand war; oder eine Überdosis,
weil es unmöglich war, den Wirkstoff-
gehalt zu überprüfen. Das ist es, was in
Bayern häufig geschieht.
Daran ließe sich durchaus etwas än-
dern, und das hat nichts mit Sisyphus, son-
dern nur mit politischem Willen zu tun.
Andere Länder machen vor, wogegen Bay-
ern sich seit Jahren sträubt: Sie eröffnen
Konsumräume, wo Süchtige das, was sie
ohnehin tun, wenigstens unter ärztlicher
Aufsicht tun. Das heilt zwar nicht die
Sucht, aber es rettet Leben. Das kann und
sollte man von einer Landesregierung ver-
langen. ronen steinke

M


it dem Amt des Bundesprä-
sidenten ist ausgerechnet
das höchste auch das einzi-
ge Amt im Staate, um das
immer mal wieder die Dis-
kussion entstand, wofür es überhaupt ge-
braucht werde. Wenn Frank-Walter Stein-
meier diese Woche die Hälfte seiner ers-
ten fünfjährigen Amtszeit hinter sich
bringt, kann er als Erfolg verbuchen, dass
diese Frage – die sein Vorgänger Joachim
Gauck schon zu entschärfen vermochte –
mittlerweile beantwortet ist: Unter star-
ker politischer Beanspruchung hat sich
das Amt des Bundespräsidenten im Wech-
selspiel zwischen äußeren Umständen
und der Besonnenheit seines Inhabers
plötzlich als erstaunlich wichtig erwiesen.
In seiner Antrittsrede im März 2017 hat
Steinmeier die Demokratie als Mittel-
punkt seiner Amtsführung hervorgeho-
ben. Er bewies damit einen guten Riecher:
Nicht nur der Bundespräsident ging das
Thema an, das Thema kam alsbald auch
auf den Bundespräsidenten zu. Die Demo-
kratie in Deutschland, deren Regeln im
Grundgesetz verankert sind, sieht für das
Staatsoberhaupt in der Alltagspolitik kei-
ne Rolle als Entscheider vor. Die bisherige
Amtszeit Steinmeiers hat aber gezeigt,
dass in einer Demokratie unter Druck
dem Bundespräsidenten eine entschei-
dende Rolle zuwachsen kann.


Mit seinen Überredungskünsten bei
der Regierungsbildung nach den Bundes-
tagswahlen 2017 hat Steinmeier den
vorläufigen Höhepunkt seiner Amtszeit
gleich am Anfang hinter sich gebracht. Zu-
mindest gilt das, wenn man die realen Aus-
wirkungen auf die Politik als Maßstab
nimmt. Dabei darf man die Tatsache, dass
Steinmeier die Entstehung einer erneuten
großen Koalition damals maßgeblich un-
terstützt hat, nicht gleichsetzen mit einer
Verantwortung für die Politik, die diese Re-
gierung seither macht. Wer meint, an der
großen Koalition zu leiden, und dafür den
Bundespräsidenten beschimpft, sollte
sich immer daran erinnern, dass zum Zeit-
punkt von Steinmeiers Eingreifen nicht
mehr eine andere Regierungsbildung die
Alternative war, sondern nach deren
Scheitern nur noch Neuwahlen mit unkal-
kulierbarem Ausgang.
Als Steinmeier damals die politische
Blockade auflöste, agierte er wie keiner
seiner Vorgänger in einer Rolle, die der Po-
litikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte als
Reservemacht bezeichnet hat. Der Bun-
despräsident wirkte als Sachwalter des


Wählerwillens, als Wahrer des Verfas-
sungsziels stabiler Verhältnisse und als po-
litische Integrationsfigur. Es ist ein sym-
bolträchtiger Zufall, dass Steinmeier nun
gerade in dieser Woche zu einem Besuch
in Italien aufbricht. Auch Präsident Sergio
Mattarella hat sich zuletzt als Staatsober-
haupt hervorgetan, das nicht bereit war,
den einfachen Weg zu Neuwahlen zu ge-
hen und damit denen zu folgen, die mit
der Berufung auf einen angeblichen Volks-
willen nur ihren unbedingten Machtwil-
len zu kaschieren trachten.
Welche Möglichkeiten das Grund-
gesetz einem politisch klugen Bundesprä-
sidenten einräumt und wie es damit die
Widerstandsfähigkeit der Demokratie
stärkt, zeigt sich auch am Vergleich mit
Großbritannien: Die Queen wäre jüngst
nur um den Preis eines Traditionsbruchs
und einer Debatte um ihre Kompetenzen
in der Lage gewesen, Premierminister Bo-
ris Johnson von der zeitweiligen Beurlau-
bung des Parlaments abzubringen. Dass
jede Regierung in London im Namen Ihrer
Majestät handelt, kann nicht darüber hin-
wegtäuschen, dass das Staatsoberhaupt
offenkundig weit weniger zur Lösung ei-
ner politischen Blockade beitragen kann
als der Bundespräsident.
Ein Blick ins Ausland zeigt übrigens
auch, wie dienlich ein Staatsoberhaupt
mit klaren Prioritäten sein kann. In Polen
ist es jüngst sehr wohl wahrgenommen
worden, dass Steinmeier sich ungeachtet
aller gegenwärtigen politischen Differen-
zen zwischen Warschau und Berlin als
höchster Repräsentant Deutschlands klar
zur Verantwortung für den Zweiten Welt-
krieg bekannt hat – während der Präsi-
dent des wichtigsten Verbündeten Ameri-
ka sich erst entschuldigen und dann auch
noch beim Golfspiel fotografieren ließ.
Natürlich ist Steinmeier das Oberhaupt
eines Deutschlands, in dem die Distanz
zwischen vielen Bürgern und der Politik
immer größer zu werden scheint. So ernst
der Bundespräsident diese Stimmung
nimmt, so klar zieht er auch Grenzen,
wenn es nur um Stimmungsmache geht.
Steinmeier, der viel im Land unterwegs
ist, begegnet den Menschen dabei in einer
Doppelrolle: Als Staatsoberhaupt, der All-
tagspolitik enthoben, kann er zuhören;
als erfahrener Politiker, der Zwänge und
Komplexitäten des Geschäfts aus mehre-
ren Jahrzehnten kennt, kann er erklären.
Legt man die alte Beschreibung zugrun-
de, dass ein Bundespräsident vor allem
über die Macht des Wortes verfügt, so
zeichnet Steinmeier aus, dass er das biss-
chen Macht mit den Bürgern in vielen Ge-
sprächen teilt. Es ist wahrscheinlich, dass
die nach insgesamt fünf Jahren nicht nur
das Amt, sondern auch seinen Inhaber
wie selbstverständlich behalten wollen.

Woher der Name „Altweiber-
sommer“ kommt, der An-
fang des 19. Jahrhunderts in
vielen Dialektvarianten im
Deutschen heimisch wurde?
Wahrscheinlich stammt er von den Fä-
den her, an denen die jungen Baldachin-
spinnen Ende September, Anfang Okto-
ber durch die Luft schweben; in der Son-
ne glänzen sie wie lange, graue Haare. In
dieser Zeit setzt sich in Mitteleuropa und
auch an der Ostküste der USA oft noch
einmal ein stabiles Hochdruckgebiet
fest, bevor der Herbst kommt. Es wird tro-
cken und warm, die Fernsicht ist bestens,
die ersten Blätter färben sich, in Mün-
chen freuen sich Oktoberfestwirte und
-besucher gleichermaßen, und viele Dich-
ter sind inspiriert. „Noch schenkt der spä-
te Sommer Tag um Tag/ Voll süßer Wär-
me“, schrieb Hermann Hesse 1940 im Tes-
sin in der Schweiz: „Bezaubert scheint die
Welt, gebannt zu sein/ Im Schlaf, im
Traum, und warnt dich, sie zu wecken.“
Kurt Tucholsky nannte die Tage zwi-
schen Sommer und Herbst „die fünfte
und schönste Jahreszeit“. „Die Natur hält
den Atem an“, schrieb er, sie lege sich nie-
der „wie ein ganz altes Pferd“. Der Begriff
Altweibersommer, befand 1989 das
Darmstädter Landgericht, sei nicht frau-
enfeindlich. Es wies die Klage einer 1911
geborenen Frau ab, die sich durch die
Wortwahl des Deutschen Wetterdienstes
diskriminiert sah. mad

PROFIL


4 HMG (^) MEINUNG Mittwoch,18. September 2019, Nr. 216 DEFGH
FOTO: JOSHUA SAMMER/GETTY
GOLFKRISE


Bangende Zuschauer


ERWERBSLEBEN

Arbeit ohne Grenzen


SNOWDEN

Und wenn schon


ISRAEL

Verkalkuliert


DROGENKRANKE

Wie sich Leben retten lässt


sz-zeichnung: pepschgottscheber

BUNDESPRÄSIDENT


Er macht Demokratie


von nico fried


AKTUELLES LEXIKON


Altweibersommer


Xavier


Bettel


Luxemburgerund
neuer Buhmann
der Briten

Die EU-Staaten sollten
versuchen, zur Entschärfung
der Kriegsgefahr beizutragen

Flexibilität und Autonomie für
Mitarbeiter, das klingt gut.
Doch viele werden krank davon

Frank-Walter Steinmeier agiert


in Krisen so klug, dass sein Amt


nicht mehr zur Diskussion steht

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