Süddeutsche Zeitung - 18.09.2019

(Tina Sui) #1
von cathrin kahlweit

Bournemouth– Hareen Potu hat gegen
seine neue Chefin und ihre neuen Ideen ge-
stimmt. Er findet den Plan, den Brexit um-
gehend und komplett abzusagen, falls sei-
ne Partei die nächsten Wahlen gewinnen
sollte, gelinde gesagt: mutig. Und offen ge-
sagt: falsch.
Jo Swinson, die energiegeladene Vorsit-
zende der britischen Liberaldemokraten,
hatte das radikale Motto auf dem Parteitag
in Bournemouth am Sonntag zur Abstim-
mung gestellt – und nach einer vehemen-
ten Debatte eine große Mehrheit dafür be-
kommen. Wann immer also demnächst
Wahlen stattfinden im Vereinigten König-
reich, werden die LibDems mit dem Slogan
in den Kampf ziehen: Stop Brexit.
Das Mittel ihrer Wahl:Revoke, also zu-
rückziehen – was bedeutet: Swinson wür-
de, sollte sie Premierministerin werden,
am ersten Tag nach ihrer Amtseinführung
in Brüssel Bescheid sagen, dass London Ar-
tikel 50 nicht weiter verfolgen will. Artikel
50 – das ist jener Paragraf, mit dem Groß-
britannien den Brexit-Prozess im Frühjahr
2017 in Gang gesetzt hatte.
Nun muss man wissen, und das weiß
auch der liberale Abgeordnete Hareen
Potu, dass die Wahrscheinlichkeit äußerst
gering ist, dass Swinson demnächst Brexit-
Fan Boris Johnson ablösen könnte. Dage-
gen sprechen das britische Mehrheitswahl-
recht und die Tatsache, dass die LibDems
derzeit in den Umfragen bei 20 Prozent lie-
gen. Aber Potu hat grundsätzliche Zweifel:
Was, fragt der 30-jährige, indischstämmi-
ge Delegierte im Gedränge vor einem Kon-
ferenzraum, wo Delegierte und Experten
gerade die ewige Frage diskutiert hatten,
wie es weitergeht mit dem Brexit, was ist
dann mit dem Referendum von 2016? Da-
mals stimmten 52 Prozent für den Austritt.
Braucht man nicht ein zweites Referen-
dum, um das erste zu entkräften? Würde
das demokratische Mandat, das aus einem
Wahlsieg erwächst, diese Volksabstim-
mung einfach ersetzen?
Weil die Aufbruchstimmung in Bourne-
mouth immens ist, weil die Sonne scheint,
weil niemand die gute Laune, die guten
Umfragedaten und den Neuanfang nach ei-
ner langen politischen Durststrecke stören
will, beteuert Potu, dass er natürlich trotz-
dem für die LibDem-Lösung Wahlkampf
machen wird. „Wir haben jetzt eine klare
Botschaft. Klarer als die von Labour, die
sich nicht entscheiden können. Die Leute
wollen, dass der Brexit weggeht. Wir ver-
sprechen ihnen, dass er weggeht.“
Aber nicht er allein hat Zweifel. Swinson
muss sich während des Parteitags in dem
südenglischen Küstenort immer wieder
fragen lassen, ob der neue Kurs nicht unde-
mokratisch sei. Sie zeigt sich unbeein-
druckt und selbstbewusst: Ein Wahlsieg
sei ein Wählerauftrag, und eine eindeutige
Positionierung sei die Basis dafür. Aber na-
türlich, betont sie eilig, werde ihre Partei
gemeinsam mit der restlichen Opposition


weiter für ein zweites Referendum kämp-
fen, wenn die LibDems nicht stärkste Kraft
würden.
Traditionell halten Parteichefs auf briti-
schen Parteitagen ihre große Rede zum
Schluss; und so legt Swinson, die schon die
Revoke-Debatte vom Sonntag angeführt

hatte, am Dienstag noch einmal nach: Bre-
xit – das sei so, als setze man sein eigenes
Haus in Brand. Premier Boris Johnson sei
ein Nationalist und beschädige die Demo-
kratie, Labour-Chef Jeremy Corbyn sei ra-
dikal und regierungsunfähig. Johnsons No-
Deal-Kurs mache sie krank. Die 39-Jährige
ist eine gute Rednerin, sie hat Power und
Charisma, und die Erleichterung nach dem
Rücktritt ihres 71-jährigen Vorgängers Vin-
ce Cable ist in Bournemouth mit Händen
zu greifen. Aber das eigentliche Aphrodisia-

kum der Partei, die noch vor wenigen Jah-
ren bei unter zehn Prozent gedümpelt war,
ist der Brexit. Die LibDems haben endlich
ein herausragendes Thema, sie waren und
sind Europäer. Und je länger sich die Krise
im Königreich hinschleppt, umso größer
wird ihre Anziehungskraft.
Sechs Abgeordnete von anderen Partei-
en waren zuletzt übergelaufen, das ist ein
Drittel der derzeitigen liberalen Unterhaus-
Abgeordneten. Philip Lee, für alle sichtbar,
hatte das sogar während einer Parlaments-
debatte getan; der letzte Neuzugang war,
kurz vor dem Parteitag, der Tory-Abgeord-
nete Sam Gyimah, gewesen, der den „Popu-
lismus“ von Boris Johnson nicht mehr er-
tragen mochte. Ebenso wie bei der „Stop-
Brexit“-Entscheidung gibt es aber auch
hier einiges Gegrummel im Hintergrund:
Nicht alle LibDems, gesellschaftspolitisch
traditionell linksliberal, finden es gut, dass
sie nun Kollegen haben, die nicht auf ei-
nem liberalen Ticket ins Unterhaus gekom-
men sind und beispielsweise gegen die
Homo-Ehe gestimmt haben.

Aber der Einfluss der Partei ist sichtlich
gewachsen, und das finden dann wieder al-
le gut. Der prominente Überläufer Chuka
Umunna, Ex-Labour, jetzt Schatten-Au-
ßenminister der LibDems, bedankt sich un-
ter dem Jubel seiner neuen Parteifreunde
für die warme Aufnahme, bevor er das
Land vor Johnson und Corbyn warnt: Die
pluralistischen Kräfte der liberalen Demo-
kratie würden „weltweit bedroht von ei-
nem neuen Autoritarismus“. Und im UK
stünden zwei Männer an der Spitze von Re-
gierung und Opposition, die „keinen mora-
lischen Kompass“ hätten. Besonders er-
leichtert über das warme Klima drinnen
im Konferenzzentrum und draußen im
Spätsommer am Meer dürfte aber Luciana
Berger gewesen sein. Die ehemalige La-
bour-Abgeordnete jüdischen Glaubens hat-
te ihre alte Partei wegen andauernder anti-
semitischer Übergriffe verlassen; sie hatte
zuletzt Personenschutz gebraucht. In
Bournemouth läuft sie mit ihrem Baby im
Brustgurt herum; das Baby wird bewun-
dert, und sie wird gefeiert.

München/Berlin– InSaudi-Arabien gibt
man sich nach den Anschlägen auf die bei-
den Ölanlagen im Osten des Landes be-
müht unerschrocken. Die staatsnahe Zei-
tungOkaztitelt in dickem, rotem Schrift-
zug: „Saudi-Arabien wankt nicht“. Der
staatsnahe Fernsehsender Al-Arabiya be-
müht sich um Bilder der Normalität und be-
sucht den ersten Schultag einer Grund-
schule in Abqaiq, dort, wo die größte Ölfa-
brik des Landes am Samstag noch in Flam-
men stand. Der Schulleiter blickt ernst in
die Kamera, gibt sich aber größte Mühe ge-
lassen zu wirken. „Heute fehlt kein einzi-
ger Schüler. Das ist so kurz nach den Som-
merferien fast nie der Fall“, sagt er. Dann
ein Schwenk ins volle Klassenzimmer.
Jungs in weißen Gewändern tun so, als wür-
den sie die Kamera gar nicht sehen. Doch
ihr Grinsen verrät sie. Alles wie immer, so
das Signal an die Bevölkerung.
Und doch ist nichts wie immer. Am
Dienstag nahm der saudische König Sal-
man die internationale Gemeinschaft in
die Verantwortung. Die „feigen Angriffe“
hätten nicht nur auf die Ölanlagen des Lan-
des abgezielt, sondern auch auf die interna-
tionale Ölversorgung. Die Verantwortli-
chen für diese „Aggressionen“ müssten ab-
geschreckt werden, erklärte das Kabinett
am Dienstag. Bereits am Abend zuvor hat-
te das Außenministerium in Riad verkün-
det, man wolle UN-Experten und internati-
onale Fachleute einladen, damit sie sich an
den laufenden Ermittlungen beteiligen.
Auf Basis der Ergebnisse werde Riad ange-
messene Maßnahmen ergreifen, hieß es.
Das Königreich habe die „Kapazität und
Entschlossenheit“, sein Land und seine
Bürger zu verteidigen und „energisch auf
diese Aggressionen zu reagieren“.
Zuvor hatte der saudische Militärspre-
cher der Koalition in Jemen, Turki al-Mal-
iki, gesagt, man glaube nicht, dass die An-
griffe von Jemen aus gestartet seien. Die
von Iran unterstützte schiitische Huthi-Mi-
liz in Jemen hat die Verantwortung für die
Angriffe übernommen. Aber, so Al-Maliki,
man sei sich sicher, dass „iranische Waf-
fen“ dabei verwendet worden seien. Auch
Washington glaubt, dass Iran hinter den
Anschlägen steckt.

Teheran streitet jegliche Beteiligung ab.
Am Dienstag verkündete Irans Oberster
Führer Ali Khamenei im Staatsfernsehen,
ein Treffen mit US-Präsident Donald
Trump bei der UN-Vollversammlung
nächste Woche in New York sei nur mit
Partnern des Atomabkommens möglich.
Aber nur, so Khamenei, „falls die Amerika-
ner das, was sie gesagt und getan haben, zu-
rücknehmen und bereuen“. US-Außenmi-
nister Mike Pompeo hatte am Wochenen-
de Iran direkt beschuldigt. Trump ruderte
am Montag zurück und sagte, bevor kein

„definitiver Beweis“ vorliege, sehe man
von Vergeltungsaktionen gegen Iran ab.
Anfang der Woche befeuerten die USA
Spekulationen nach den Urhebern der An-
griffe. Auf Satellitenaufnahmen sind die
Schäden an den beiden Ölanlagen zu se-
hen. Sowohl Drohnen als auch Raketen sol-
len von Norden oder Nordwesten einge-
setzt worden sein – was bedeuten würde,
dass sie entweder von iranischem oder ira-
kischem Territorium abgefeuert worden
sind. Aus diesen Spekulationen versucht

sich Deutschland herauszuhalten. Man
warte die „Erkenntnisse der Beteiligten
ab“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel
(CDU) am Dienstag nach einem Treffen mit
dem jordanischen König Abdullah II. in
Berlin. Noch gebe es „kein abschließendes
Bild“. Forderungen aus der Unionsfraktion
nach einer Aufhebung des Rüstungsexport-
stopps nach Saudi-Arabien erteilte sie eine
Absage. Merkel verwies darauf, dass der
Exportstopp mit Blick auf die Rolle Saudi-
Arabiens im Jemenkrieg verhängt worden
sei. Hier zeige sich, wie dringend die Suche
nach einer diplomatischen Lösung sei –
„auch wenn das im Augenblick sehr schwie-
rig aussieht“.
Der außenpolitische Sprecher der Uni-
onsfraktion im Bundestag, Jürgen Hardt
(CDU), hatte zuvor ein Ende des Rüstungs-
exportstopps gefordert. Es zeige sich, dass
der Selbstschutz Saudi-Arabiens und der
Vereinigten Arabischen Emirate auch im
Stabilitätsinteresse Deutschlands liege,
hatte er dem Redaktionsnetzwerk Deutsch-
land (RND) gesagt. Dies war sowohl in der
Koalition als auch vonseiten der Oppositi-
on auf Widerspruch gestoßen. Ohne eine
Verlängerung würde der Rüstungsexport-
stopp nach Saudi-Arabien am 30. Septem-
ber auslaufen.
daniel brössler, dunja ramadan

München– Die Gewerkschaft Verdi for-
dert, die Sozialbindung im Wohnungsbau
auf „mindestens 50 Jahre“ zu erhöhen.
Das sagte der designierte Vorsitzende der
Organisation, Frank Werneke, am Diens-
tag derSüddeutschen Zeitung. Werneke ist
bisher deren Vize und soll nächste Woche
zum Nachfolger des langjährigen Vorsit-
zenden Frank Bsirske gewählt werden.
Werneke sagte, der „gefährliche“ Man-
gel an bezahlbaren Wohnungen müsse
dringend behoben werden. „Immer mehr
Wohnungen fallen aus der Sozialbindung,
neue können gar nicht so schnell gebaut
werden.“ In der Tat geht die Zahl der Sozial-
wohnungen in Deutschland deutlich zu-
rück. Seit 1990 sank sie von knapp 2,9 Milli-
onen auf derzeit noch knapp 1,2 Millionen,
die Tendenz ist weiter rückläufig. Dies
liegt daran, dass in den zurückliegenden
Jahrzehnten nur relativ wenig Sozialwoh-
nungen gebaut wurden und zudem alte
Sozialbindungen nach und nach auslau-
fen, meist nach 15 bis 30 Jahren – also die
Verpflichtung der Eigentümer, nur an eher


ärmere Menschen sowie unterhalb des
Marktpreises zu vermieten. Im bislang letz-
ten Mietenbericht der Bundesregierung,
der vergangenes Jahr erschien, heißt es:
„Vor diesem Hintergrund müssen wieder
deutlich mehr Sozialwohnungen gebaut
werden, um Versorgungsschwierigkeiten
von bedürftigen Haushalten zu begegnen.“

Wie dies erreicht werden kann, ist je-
doch umstritten. Unter Investoren gilt der
soziale Wohnungsbau als relativ unattrak-
tiv. Unter anderem finden sie, dass die
Förderprogramme des Staates nach wie
vor nicht reichen, um die geringere Rendi-
te auszugleichen. 2018 fielen nach An-
gaben des Innen- und Bauministeriums
70000 Wohnungen aus der Bindung,
27000 wurden neu gebaut. Deshalb for-
dert der designierte Verdi-Chef zudem,

den kommunalen und genossenschaftli-
chen Wohnungsbau „in großem Umfang“
zu verstärken. Dies sei „unerlässlich“.
Außerdem verlangt Werneke, etwas ge-
gen Bodenspekulation zu unternehmen.
„Wir erleben allzu oft, dass gerade in
Ballungsräumen unbebaute Grundstücke
von Jahr zu Jahr mit erheblichen Profiten
weiterverkauft werden. Dahinter stecken
Bodenspekulanten, die letztlich die Preise
für neue Wohnungen ins Unermessliche
treiben.“ Hier müsse die Steuerpolitik
dafür sorgen, dass solchen Spekulanten
„das Handwerk gelegt wird“, sagte Werne-
ke. Der „leistungslose“ Wertzuwachs von
Grundstücken müsse „sehr viel höher“ be-
steuert werden“, forderte er.
Der Verdi-Bundeskongress, bei dem er
zum Vorsitzenden gekürt werden soll,
beginnt am Sonntag in Leipzig. Die Wahl
Wernekes ist für Dienstag vorgesehen. Es
gibt keinen Gegenkandidaten. Der bis-
herige Amtsinhaber Frank Bsirske geht
nach 18 Jahren an der Spitze mit 67 Jahren
in Rente. detlef esslinger

München– Zum Anforderungsprofil für
UN-Sondergesandte gehört unzerstörba-
rer Optimismus – und die Chuzpe, genau
dann die Wendung hin zum Besseren zu su-
chen, wenn alle Vorzeichen auf Eskalation
stehen. Insofern handelte der Jemen-Be-
auftragte der Vereinten Nationen folgerich-
tig, als er am Montag auf Twitter und in ei-
nem Meinungsbeitrag für dieNew York
Times„informelle und strukturierte Ge-
spräche“ mit allen beteiligten Akteuren an-
kündigte. Martin Griffiths zielt dabei nicht
auf Zwischenschritte wie einen Waffenstill-
stand. Er will mehr, „ein umfassendes Frie-
densabkommen“. Gerade jetzt.
Am Wochenende hatten in Saudi-Arabi-
en schwere Explosionen die Ölanlagen des
Staatskonzern Aramco erschüttert. Die
schiitische Huthi-Miliz in Jemen rekla-
mierte die Anschläge für sich, doch Wa-
shington und Riad vermuten Iran hinter
den Angriffen. Am Rande einer Syrien-
Konferenz in Ankara dementierte dessen
Präsident Hassan Rohani am Montag-
abend jegliche Beteiligung und verteidigte
das Recht der Huthis, gegen Saudi-Arabi-
en vorzugehen. Die Eskalation sei nichts
mehr als Widerstand der Jemeniten „ge-
gen die Kriegsverbrechen der von den Sau-
dis angeführten Militärkoalition“. Die Je-
meniten hätten ein Recht darauf, „sich ge-
gen die Vernichtung ihres Landes zu weh-
ren“, sagte Rohani – und tat dabei so, als

stünde das Land geschlossen hinter den
schiitischen Rebellen aus dem Nordwes-
ten, die von Iran unterstützt, aber wohl
nicht direkt kontrolliert werden.
Dass Saudi-Arabien auf den Angriff re-
agieren wird, gilt als ausgemacht. Auf wel-
che Weise und wo diese Reaktion stattfin-
den wird, ist hingegen unklar. Eine neue
militärische Initiative in Jemen wäre für Ri-
ad im Vergleich mit einem Schlag gegen
Iran einfach und in ihren Konsequenzen ei-
nigermaßen kalkulierbar – andererseits
hat sich der saudische Kronprinz hier
schon einmal grundlegend verrechnet.

Als Mohammed bin Salman 2015 das
Amt als Verteidigungsminister übernahm,
schmiedete er ein Bündnis sunnitischer
Staaten aus der Golfregion und aus Nord-
afrika. Das Ziel: Die Huthi-Rebellen aus
der Hauptstadt Sanaa vertreiben, den Ein-
fluss des Erzfeindes Iran zurückdrängen
und den Riad-freundlichen Präsidenten
Abed Rabbo Mansur Hadi wieder installie-
ren. Der Kronprinz war überzeugt, dass
dies im ärmsten Land der arabischen Halb-
insel nicht so schwer sein kann, der Ein-
satz nach wenigen Wochen erfolgreich be-

endet würde. Nach mehr als viereinhalb
Jahren Krieg muss er einsehen, sich ver-
schätzt zu haben.
Im Ausland hat das Vorgehen der Koaliti-
on im Jemenkrieg der Reputation des Kö-
nigreichs schwer geschadet: Die UN be-
zeichnen den Konflikt als „weltweit
schwerste humanitäre Krise“. Weil die Koa-
lition verhindern will, dass die Huthi-Re-
bellen von verdeckten Waffenlieferungen
profitieren, hat sie auch den Import von
Hilfsgütern streng limitiert. Kritiker füh-
len sich an mittelalterliche Belagerungs-
taktiken erinnert: 24 Millionen Menschen
benötigen dringend humanitäre Hilfe,
zehn Millionen Menschen sind vom Hun-
gertod bedroht. Zudem treffen die Luftan-
griffe häufig zivile Einrichtungen. Die Maß-
nahmen zum Schutz der Menschen in Je-
men bezeichnete ein UN-Expertengremi-
um in einem Bericht von 2019 als „weitge-
hend unzureichend und wirkungslos“.
Internationaler Druck, die hohen Kos-
ten des Einsatzes und vor allem die explosi-
ve Lage im Konflikt mit Iran führten zu-
letzt dazu, dass das von Saudi-Arabien ge-
führte Militärbündnis bröckelte: Nicht nur
Marokko zog sich in diesem Jahr aus der
Koalition zurück, was es ausgerechnet in
dem in Raid verhassten katarischen Sen-
der Al Jazeera verkündete. Auch die Verei-
nigten Arabischen Emirate, der zweitwich-
tigste Akteur im Bündnis, zog einen Groß-
teil seiner Truppen aus Jemen ab. Die Vor-
fälle in der Straße von Hormus drohten zu
eskalieren, in einem Krieg wären die Emi-
rate leicht verwundbar.
Wie schlecht es um das Bündnis steht,
zeigte sich anschließend in Südjemen.
Dort unterstützt Abu Dhabi die Separatis-
ten des Südlichen Übergangsrates (STC),
die im August zentrale Posten in Aden be-
setzt hatten. Der STC kämpfte zwar mit der
Regierung Hadis gegen die Huthi-Miliz,
strebt aber eigentlich die neuerliche Ab-
spaltung des Südens an. Hadis Truppen
und die Separatisten beschossen sich nun,
anstatt es mit der Huthi-Miliz aufzuneh-
men. Um Einigkeit zu demonstrieren, for-
derten Riad und Abu Dhabi ein Ende der
Kämpfe, verlangten von beiden Seiten, zu
„konstruktiven“ Verhandlungen am 5. Sep-
tember in Saudi-Arabien zu erscheinen.
Der UN-Sondergesandte Griffiths be-
grüßte das – und schlug als Zweckoptimist
vor, den Friedensprozess wieder anzu-
schieben. moritz baumstieger,
dunja ramadan

Berlin –Diemeisten Flüchtlinge, die seit
2015 nach Deutschland gekommen sind,
schließen ihre Integrationskurse erfolg-
reich ab und sind zufrieden mit den
eigenen Deutschkenntnissen. 93 Prozent
der Kursbesucher, die bei Ankunft bereits
lesen und schreiben konnten, erreichten
das Niveau A2, bei dem einfache Sätze und
Begriffe beherrscht werden müssen. Das
ergab eine Evaluation des Bundesamtes
für Migration und Flüchtlinge (Bamf), die
am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde.
Bei Geflüchteten allerdings, die als An-
alphabeten nach Deutschland gekommen
sind, ist der Anteil erfolgreicher Kursabsol-
venten gesunken. 2017 hatten noch 67 Pro-
zent von ihnen das Deutschniveau A2 oder
das anspruchsvollere Niveau B 1 erreicht.
Im Jahr 2019 schafften das nur noch
54 Prozent. In der Gruppe der Schnelller-
ner, die es von null Kenntnissen im Lesen
und Schreiben auf das höhere Niveau B
bringen, sank die Erfolgsquote von 23 Pro-
zent im Jahr 2017 auf nur 14 Prozent in
diesem Jahr. Im Bamf erklärt man sich den
Rückgang vor allem mit veränderten bio-


grafischen Hintergründen Geflüchteter.
Viele Leistungsfähige und höher Qualifi-
zierte hätten inzwischen ihre Integrations-
kurse abgeschlossen. Dafür steige die Zahl
der Teilnehmer, die mit weniger Bildung
oder traumatischen Erlebnissen nach
Deutschland gekommen seien. Unter Sy-
rern etwa erreichten 2017 noch 58 Prozent
der Kursteilnehmer das höhere Deutschni-
veau B1. Inzwischen schaffen das nur
35 Prozent, ein gravierender Rückgang.
Bei Iranern liegt die Zahl der Kursabsolven-
ten stabil bei 58 Prozent, in der Gruppe der
Rumänen konstant bei 74 Prozent.
Etwa eine Million Menschen haben zwi-
schen 2015 und 2018 in Deutschland einen
Integrationskurs besucht. Er besteht aus ei-
nem Deutschkurs, bei dem neben Themen
wie Arbeit oder Erziehung auch der „Um-
gang mit Dissens“ und Emotion geübt
wird. Im Orientierungskurs geht es dann
um Rechtsstaat, Demokratie, Frauenrech-
te oder religiöse Toleranz. Bis 2015 nah-
men vor allem Migranten aus EU-Staaten
an den Kursen teil. Inzwischen handelt es
sich überwiegend um Flüchtlinge. Der An-

teil von Analphabeten in den Kursen liegt
laut Bamf inzwischen bei 22 Prozent. Viele
Teilnehmer müssten erst einmal lernen zu
lernen. Die Ergebnisse der noch vorläufi-
gen Evaluation zeigten auch, dass Integra-
tionskurse seltener besucht würden, wenn
Menschen neu im Land seien oder wenig
gebildet. Auch Mütter kleiner Kinder mit
wenig Kontakt zu Deutschen seien weni-
ger häufig anzutreffen. Traumatisierung
oder Trennung von Angehörigen könne die
Situation weiter erschweren. Dennoch sei
jede Kursteilnahme ein Gewinn.
Dass auch die Methodik oder ungeeig-
nete Lehrer den Rückgang der Abschlüsse
in manchen Teilnehmergruppen erklären
könnten, wies das Bamf zurück. Für viele
Lehrkräfte seien Integrationskurse ein
„Knochenjob“, die meisten seien hoch moti-
viert. Auf Wunsch des Bundesinnenminis-
teriums sei die Kontrolle der Kurse „dras-
tisch verschärft“ worden. Im Übrigen seien
die sprachlichen Zielvorgaben für Integra-
tionskurse in Deutschland viel höher als et-
wa in Frankreich. Auch das sei zu berück-
sichtigen. constanze von bullion

Die Rückzieher


Die Chefinder britischen Liberaldemokraten, Jo Swinson, will im unwahrscheinlichen Fall eines Wahlsiegs den
Brexit absagen. Das kommt bei proeuropäischen Wählern gut an – aber in der eigenen Partei regen sich Zweifel

Bemühter Alltag nach


den Anschlägen


Saudi-Arabien ist bestrebt, Normalität zu demonstrieren


50 plus


Der designierte Verdi-Chef Werneke will die Sozialbindung im Wohnungsbau verlängern


Zwischen Erzfeinden


Der Jemenkrieg eskaliert. Die UN wollen ein „umfassendes Friedensabkommen“


Deutschkurse helfen nicht immer


Geflüchteteohne Vorbildung scheitern häufiger im Integrationskurs als früher


6 HF3 (^) POLITIK Mittwoch,18. September 2019, Nr. 216 DEFGH
Wer hat die Ölanlagen
bombardiert? Iran streitet
jegliche Beteiligung ab
Alltags-Szenen in der jemenitischen Stadt Aden: Ein Mann betrachtet ein bei einem
emiratischenLuftangriff zerstörtes Regierungsfahrzeug. FOTO: FAWAZ SALMAN/REUTERS
Sie wollen Europäer bleiben: Anhänger begrüßen Jo Swinson, Vorsitzende der LibDems, bei ihrer Ankunft zum Parteitag
am Wochenende in Bournemouth. FOTO: JONATHAN BRADY/DPA
Die Ölfabrik von Abqaiq nach dem Droh-
nenangriff vom Samstag. FOTO: AFP
Brexit, sagt die Vorsitzende,
das sei,als setze man
sein eigenes Haus in Brand
Der saudische Kronprinz hat sich
in dem Konflikt schon einmal
grundlegend verrechnet
Der „leistungslose“ Wertzuwachs
von Grundstücken müsse „sehr
viel höher“ besteuert werden“

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