Süddeutsche Zeitung - 18.09.2019

(Tina Sui) #1
Rom– Liebe war es nie, höchstens Leiden-
schaft,eine mit mehr Tiefen als Höhen.
Nun ist der Flirt vorbei. Matteo Renzi, der
erfolgreichste und streitbarste Sekretär
des sozialdemokratischen Partito Demo-
cratico (PD), verlässt die Partei und wird
bald eine eigene gründen: im politischen
Zentrum, sozialliberal, reformerisch, euro-
pafreundlich. „Italia viva“ soll die neue Par-
tei heißen. Ihr Logo wird der ehemalige Pre-
mier wohl erst am 18. Oktober enthüllen,
wenn Renzi zur „Leopolda“ nach Florenz
ruft, der nunmehr traditionellen Jahresver-
sammlung jener Kreise, die in ihm eine Re-
ferenz sehen. Diesmal wird die „Leopolda“
eine Gründungsfeier sein.
„Wenn eine Geschichte endet, dann en-
det sie eben“, sagte Renzi in einem Inter-
view der ZeitungLa Repubblica. „Wir wol-
len Freunde bleiben, wenn das geht. Und
sollte es nicht gehen: Feinde werden wir si-
cher nie sein.“
30 „Renzianer“ im Parlament verlassen
die Fraktion des PD noch in dieser Woche,
sie werden eigene Fraktionen bilden. Ren-
zi verspricht der eben erst geborenen Re-
gierung von Giuseppe Conte, der „Conte
II“ aus Cinque Stelle und Partito Democra-
tico, „überzeugt“ seine Treue; seine Minis-
ter belässt er im Kabinett. Dennoch er-
schüttert sein Parteiaustritt die ohnehin
prekären Gewissheiten nach der Sommer-
krise.

Renzi hat nun freie Hand, er könnte die
neue Regierung jederzeit stürzen. Über-
haupt: Der Florentiner, erst 44 Jahre alt, ist
definitiv zurück. Es war auch sein Som-
mer.
Nach dem unbedachten Bruch von Mat-
teo Salvini mit den Fünf Sternen hatte Ren-
zi wesentlich dazu beigetragen, dass Con-
tes neue Regierung überhaupt entstehen

konnte. Nachdem er sich jahrelang ge-
sträubt hatte, mit den „Grillini“ zu reden,
öffnete er sich einer Allianz. Dieser takti-
sche Coup veränderte die ganze Partie.
„Salvini nach Hause geschickt zu haben“,
sagt Renzi jetzt, „gehört zu den Einträgen
in meinem Lebenslauf, auf die ich beson-
ders stolz bin.“ Er wolle nun in den kom-
menden Monaten alle Kraft dafür aufwen-
den, Salvini und dessen gehässigen Popu-
lismus zu bekämpfen. „Uns soll man an un-
serem Lächeln erkennen, nicht am Groll.“
Überraschend kommt der Abschied
nicht, allenfalls erstaunt der Zeitpunkt –
so kurz nach der Geburt von „Conte II“. Bei
den Sozialdemokraten hatte man bis zu-
letzt gehofft, Renzi würde sich besinnen.
Man erinnerte ihn daran, dass all jene, die
in der Vergangenheit ihr Glück in einer Ab-
spaltung gesucht hatten, zunächst Frances-
co Rutelli und später Pierluigi Bersani,

bald in der politischen Bedeutungslosig-
keit verschwanden. In der Regel strafen die
Italiener Spalter mit dem Entzug ihrer
Gunst, im linken wie im rechten Lager. Ren-
zi aber glaubt, dass ihn sein allseits aner-
kanntes Talent weiter tragen wird als es sei-
ne glücklosen Vorgänger geschafft haben.

Einen politischen Markt für seine Offer-
te gibt es durchaus, gerade jetzt, er reicht
über sein angestammtes Spielfeld hinaus.
Unter dem Einfluss der verschiedenen Po-
pulismen ist die moderate Mitte nämlich
insgesamt verwaist. Silvio Berlusconis bür-
gerliche Forza Italia? Sie dämmert dahin
mit ihrem betagten Anführer, der seine

Nachfolge nicht regeln will. Die Partei ge-
hört zwar ins rechte Spektrum, doch viele
Wähler von Forza Italia und wohl auch eini-
ge Dutzend ihrer Parlamentarier wollen
sich nicht an Salvinis rotzig souveränisti-
sche Ultrarechte anlehnen. Renzi bietet ih-
nen eine neue Heimat an. Auch +Europa,
die Bewegung um die ehemalige Außenmi-
nisterin Emma Bonino, wäre wohl bei Ren-
zi gut aufgehoben. Die Mitte ist allerdings
ein altes Traumland der italienischen Poli-
tik: Nach dem Zerfall der lange Zeit schier
allmächtigen Democrazia Cristiana haben
schon viele versucht, die Kräfte im Zen-
trum zu sammeln – alle mit sehr mäßigem
Erfolg.
Ob Matteo Renzi das schafft? Der frühe-
re Premier fasziniert und irritiert die Italie-
ner wie sonst nur „der andere Matteo“, wie
Salvini früher immer genannt wurde. Ren-
zis Popularität ist auf 20 Prozent ge-
schrumpft, sie steht in keinem Verhältnis
zum politischen Einfluss, den er noch im-
mer auf den Politbetrieb ausübt.
Die Frage ist nun, ob seine Umtriebig-
keit am Wählermarkt den Erfolg des pro-
gressiven Lagers – dem er ja weiterhin an-
gehört – eher vergrößert, oder ob er ihm
schadet. Nicola Zingaretti, sein Nachfolger
an der Spitze der Sozialdemokraten, hatte
in den vergangenen Monaten mit aller
Macht versucht, eine gewisse Einheit in
der streitsüchtigen Partei hinzubekom-
men – auch mit Renzi.
Er sei immer wie ein „Eindringling“ be-
handelt worden, sagt Renzi jetzt, sechs Jah-
re lang: wie ein „illegaler Hausbesetzer“.
Die Postkommunisten hielten den christ-
lichsozialen Toskaner für „zu wenig links“,
„zu liberal“. Und er konterte dann jeweils
gerne, dass die Sammelpartei mit den zwei
Seelen nie mehr Stimmen gewonnen habe
als mit ihm: Bei den Europawahlen 2014
brachte es der PD auf 41 Prozent. Dann al-
lerdings, bei der Parlamentswahl vor ein-
einhalb Jahren, stürzte er auf 18 Prozent
ab, ebenfalls mit Renzi. Da war die Leiden-
schaft schon erkaltet. oliver meiler

Umzug in ein eigenes Zuhause


Langestand Matteo Renzi zwischen Tür und Angel bei Italiens sozialdemokratischem PD. Nun gründet er selbst eine Partei


Die Mitte ist ein italienisches
Traumland. Seit Jahrzehnten
hatte dort niemand mehr Erfolg

von arne perras

Delhi– Er hat Indien immer bewundert.
Eingroßes demokratisches Land, das die
Toleranz hochhielt und stolz war auf seine
Vielfalt. Jedes Mal, wenn er nach Delhi
kam, fühlte sich das gut an. „Jeder konnte
sagen, was er dachte. Aber jetzt?“ Ahmed
Mir rutscht nervös auf der Bank im Café
hin und her, er verknotet immer wieder sei-
ne Hände. „Ich fühle mich seit dem 5. Au-
gust verraten“, sagt der hagere Mann. „Die-
ser Tag hat alles verändert. Aber wir Kasch-
mirer dürfen darüber nicht klagen. Die Leu-
te fühlen sich geknebelt. Wer den Mund
aufmacht, wird eingesperrt.“
Ahmed Mir heißt in Wahrheit anders, er
könne nur reden, wenn sein echter Name
und sein Beruf nicht öffentlich werden,
sagt er. Vor wenigen Tagen hat der Kasch-
mirer das Krisengebiet in den Bergen ver-
lassen, nun erzählt er, wie er die vergange-
nen Wochen dort in Srinagar erlebt hat.
Der 5. August war jener Tag, an dem die
hindu-nationalistische Regierung in Delhi
der Region Kaschmir die Autonomie ent-
zog und den sogenannten „Lock-down“
startete. Zehntausende zusätzliche Trup-
pen rückten aus in den westlichen Himala-
ja, Internet und Mobiltelefone wurden ab-
geschaltet, Ausgangssperren verhängt.
Ausländische Reporter haben seither kei-
ne Chance auf Einreise.

Die Zentralregierung fürchtet Unruhen,
seitdem sie Kaschmirs Sonderstatus als au-
tonomes Gebiet gestrichen hat. Delhi ließ
seither mehrere Tausend Menschen in den
Bergen einsperren, wie indische Medien
unter Berufung auf anonyme Quellen im
Staatsapparat berichteten. Alle lokalen Po-
litiker sind in Haft, nicht einmal der frühe-
re Ministerpräsident Farooq Abdullah
blieb verschont, ein Mann von 81Jahren
mit transplantierter Niere. Bis zu zwei Jah-
re lang kann er auf Basis eines drakoni-
schen Sicherheitsgesetzes festgehalten
werden.
Von Freiheit für alle anderen kann keine
Rede sein. Sie kämpfen mit dem Alltag un-
ter ständiger Überwachung. Selbst die klei-
nen Dinge sind schwer zu meistern, wie
Mir erzählt. Einkaufen am frühen Morgen:
Die Händler machen nur für ein, zwei Stun-
den auf, aus Protest gegen die Aufhebung
der Autonomie ziehen sie tagsüber die Roll-
läden runter. Mir marschiert also los, er er-
reicht einen Kontrollpunkt, Polizisten win-
ken ihn durch. Es dauert, bis er einen offe-
nen Laden findet, er packt die Taschen voll
Gemüse, marschiert zurück. Inzwischen
schieben andere Polizisten Wache. Sie fra-
gen ihn, was er hier zu suchen habe. Er kön-
ne nicht durch. Keinesfalls. Mir sagt, sein
Haus sei nicht weit, aber sie lassen ihn lan-
ge zappeln, bis er passieren darf.
Jeden Morgen wiederholt sich das, zer-
mürbende Prozeduren. Als eines Tages ei-
ne alte Frau in der Nachbarschaft stirbt,
lässt sich wegen der Straßensperren kein
Fahrzeug zum Friedhof auftreiben, es
bleibt den Verwandten nur, die Tote im Gar-
ten zu vergraben. Viele Eltern würden ihre
Kinder gerne wieder zur Schule schicken,
offiziell sind sie geöffnet. „Aber wer macht
das schon, ohne Möglichkeit zu telefonie-
ren?“, sagt Mir. „Wenn die Kinder nicht zu-
rückkommen, was dann?“ Den Eltern ist
das zu riskant.
Einige Tage nach dem 5. August taucht
plötzlich Mirs Tochter an der Haustüre
auf, sie ist eilig aus dem Nahen Osten ange-
reist, wo sie arbeitet. Die Tochter ist in Pa-
nik, nach allem, was sie gehört hat. Ihren

Koffer hat sie mit Lebensmitteln und
Milch vollgestopft. „Sie dachte, dass wir
schon verhungern“, sagt Mir. Die Propagan-
daschlacht zwischen Delhi und Islamabad
sei in vollem Gange, auf allen Seiten. Wäh-
rend Indien ein Bild vermeintlicher Norma-
lität zeichnet, erwecken Pakistan und Teile
der arabischen Welt den Eindruck, als sei
ewige Finsternis über Kaschmir hereinge-
brochen. Irgendwo dazwischen liegen die
Erlebnisse von Ahmed Mir: Tage der Ohn-
macht, Angst, Verzweiflung, ein eiserner
Griff, der qualvoll ist.
Er hört von sporadischen Zusammenstö-
ßen, selbst sei er bei keinem Protest dabei
gewesen, erzählt er. Die Steinewerfer such-
ten nach einem Ventil, „alles mental“, sagt
Mir. Zorn staue sich auf. Viel Zorn. Entla-
den hat er sich bisher kaum, vielleicht, weil
die Überwachung so streng ist. Aber viele
fragen sich: Wie lange will und kann Indi-
en den eisernen Griff noch durchhalten?
Indien beteuert, das Vorgehen der Si-
cherheitskräfte seit dem 5. August habe
kein einziges Todesopfer gefordert. Doch
das ist umstritten. So kursieren vom tödli-
chen Schicksal des 17 Jahr alten Asrar Ah-
med Khan zwei sehr unterschiedliche Ver-
sionen. Die eine, die auch Mir erzählt, geht
so: der Jugendliche war am 6. August beim
Cricketspielen und wollte gerade einen
Ball aufheben, als ihn Streumunition und
ein Kanister Tränengas der Sicherheits-
kräfte traf.
Der Krankenhausbericht, den der Sen-
der BBC dokumentierte, bestätigt die Ver-
letzungen, Röntgenbilder des Toten zeigen
demnach kleine Kügelchen im Kopf. Aber
Indiens Armeechef in Kaschmir beharrt

darauf, der Junge sei von einem Stein ge-
troffen worden, den Demonstranten ge-
worfen hätten.
Sicher ist: Die Ausmaße des sogenann-
ten Lock-downs sind beispiellos in der indi-
schen Geschichte. Zwar erlebt Kaschmir
seit 70Jahren Krieg, Terror und Gewalt,
mehr als 40 000 Menschen sind dadurch
gestorben. Doch noch nie hat der Staat ei-
ne nahezu komplette Funkstille für so lan-
ge Zeit in einem Sperrgebiet erzwungen, in
dem acht Millionen Menschen leben. Da-
bei hatte sich der Tourismus bis zum Som-
mer recht gut entwickelt. Anfang August
kam dann die Aufforderung, das Gebiet zu
verlassen. So verschwanden die Besucher,
nur wenige wagten es noch zu reisen. Zu ih-
nen zählten auch zwei Deutsche: Matthias
Weiss, 64,und Gabriele Haßenpflug, 54, zu
Hause am Ammersee.
Sie reisten zum Bergsteigen nach La-
dakh und kamen danach im Jeep auch
nach Srinagar. Ankunft am 8. September.
Kein Tourist mehr weit und breit. Aber
überall Straßensperren. Die Uniformier-
ten, die am Stacheldraht Dienst schieben,
wirken nervös und aggressiv, die Offiziere
bleiben zu den Besuchern freundlich. Es
dauert lange, bis die Bergsteiger ihr gemie-
tetes Hausboot am Dal-See erreichen. In
der Stadt können sie sich nicht viel bewe-
gen, der Besitzer des Hausbootes muss ei-
nes Tages sein krankes Kind in die Klinik
bringen, fahren ist nicht möglich, er muss
es tragen, die ganze Strecke, vier Kilome-
ter weit. Und dann fehlen im Krankenhaus
die Medikamente.
„Es herrscht unter den Leuten große
Angst vor einer Eskalation“, sagt Weiss

nach seiner Rückkehr. In Gesprächen mit
Einheimischen kam immer wieder diese
Angst hoch: Indien wolle das Land Kasch-
mir, aber nicht seine Leute. Die Reisende
Gabriele Haßenpflug hat inzwischen ihre
Eindrücke niedergeschrieben, sie erzählt
von den Gebeten, die aus den Moscheen
dringen. Sie klingen wie großes Flehen.
Kaschmir, das ist eine lange, leidvolle
Geschichte. Das Gebiet des ehemaligen
Prinzenstaates, dessen Eigenständigkeit
sehr viele Bewohner ersehnen, ist nach
zwei Kriegen zwischen den Atommächten
Indien und Pakistan gespalten, beide Staa-
ten kontrollieren jeweils nur einen Teil.
Auch China beherrscht ein Stück von
Kaschmir, so prallen Machtinteressen von
drei Nuklearstaaten aufeinander. Was die
Kaschmirer möchten, hat in dieser Konstel-
lation kaum noch Gewicht.

Ahmed Mir spricht nun über Indiens
Premier Narendra Modi, der viel verspro-
chen hat: eine neue Ära für Kaschmir, Ent-
wicklung, Jobs. Aber der Premier könne
versprechen, was er wolle: „Die Kaschmi-
rer wollen Modis Geld nicht.“ Schließlich
habe die Regierung ihnen gerade einen der
größten Schätze geraubt. Das Recht auf Au-
tonomie. „Das ist eine Frage der Ehre“, sagt
Mir. „Das demütigt mich.“ In der Praxis
war die verfassungsrechtlich verankerte
Autonomie bereits stark untergraben, die
Militarisierung machte das eigenständige

Regieren der dortigen Ministerpräsiden-
ten schwer. Der formale Entzug der Eigen-
ständigkeit ist jedoch von großer Symbolik
und löst einen breiten Reflex aus, wie Mir
beobachtet: „Nun sagen die Leute in Kasch-
mir: Seht her, wir wussten es immer, dass
man Indien nicht trauen kann.“ Verstärkt
wird dieser Eindruck noch dadurch, dass
Delhi nicht nur seine Gegner einsperren
ließ, sondern auch jene Politiker, die koope-
rierten. „Keiner weiß, wie es jetzt weiterge-
hen soll“, sagt Mir. „Wollen sie Kaschmir
denn ganz ohne Beteiligung der Kaschmi-
rer regieren?“ Tatsächlich hat Delhi noch
nicht erklärt, wann und wie es den „Lock-
down“ auflösen will und wer eine künftige
Regierung Kaschmirs führen soll.
Auffällig ist jedoch, dass Modi mit dem
Entzug der Autonomie bei seinen Wählern
außerhalb Kaschmirs stark punktet. Der
Schritt ist populär, vor allem in der indi-
schen Mittelklasse, die für nationalisti-
sche Töne empfänglich ist und die Bot-
schaft von der bevorstehenden „Integrati-
on Kaschmirs“ feiert. Dabei hört man sel-
ten Besorgnis darüber, dass die Kaschmi-
rer selbst keiner gefragt hat und dass sie
sich nicht äußern dürfen.
In den Fernsehsendern, die fast alle auf
Modis Linie eingeschwenkt sind, kommen
stattdessen Kommentatoren zu Wort, die
über die angebliche Undankbarkeit der
Leute in Srinagar schimpfen, der Staat ha-
be so viel Geld in das Gebiet gepumpt und
doch machten die Kaschmirer nichts als Är-
ger. Solche Sprüche. „Es wird jetzt Gift ver-
sprüht“, sagt Mir. Der Staat Indien, den er
so viele Jahre lang achtete, er wird ihm im-
mer fremder.

Rom– Das RettungsschiffOceanViking
hat bei einem neuen Einsatz vor der liby-
schen Küste 48 Bootsflüchtlinge an Bord
genommen. Unter ihnen seien Frauen,
sehr junge Kinder und ein Neugeborenes,
teilte die Hilfsorganisation SOS Méditerra-
née am Dienstag auf Twitter mit, die das
Schiff mitbetreibt. Sie seien knapp 100 Ki-
lometer nördlich der libyschen Küste aus
einem Holzboot in Seenot gerettet worden.
DieOcean Viking, die neben SOS Méditerra-
née von der Organisation „Ärzte ohne Gren-
zen“ betrieben wird, hatte am Wochenen-
de in Abstimmung mit der italienischen Re-
gierung 82 im Mittelmeer gerettete Mi-
granten nach Lampedusa bringen dürfen.
Diese Erlaubnis galt als Zeichen einer Ände-
rung der italienischen Flüchtlingspolitik
nach dem Antritt der neuen Mitte-links-
Regierung. Die rechte Lega Nord von Mat-
teo Salvini hatte die Koalition mit den Fünf
Sternen im August aufgekündigt und be-
findet sich nun in der Opposition. Die bei-
den Organisationen hatten angekündigt,
gleich wieder zu einem Rettungseinsatz
auszulaufen. epd, sz

Tel Aviv– Israels Premier Benjamin Netan-
jahu kann nach der Wahl am Dienstag laut
ersten Prognosen keine Regierung bilden
ohne die Partei von Avigdor Lieberman.
Die Likud-Partei Netanjahus lag am Abend
gleichauf mit dem blau-weißen Oppositi-
onsbündnis von Benny Gantz. In zwei von
drei Prognosen lag Blau-Weiß knapp vor
dem rechtsnationalen Likud. Zwar erhielt
der rechte Block mehr Stimmen als das Mit-
te-links-Lager. Aber die Ausgangslage zur
Regierungsbildung ist für Netanjahu
schlechter als nach der Wahl im April. Li-
kud, die Partei Neue Rechte und die ultraor-
thodoxen Parteien Schas und Vereinigtes
Thora-Judentum sind zusammen diesmal
noch weiter von jenen 61 Sitzen entfernt,
die eine Mehrheit in der Knesset bedeuten.
Nach der Weigerung Liebermans, in ei-
ne Koalition einzutreten, hatte Netanjahu
zum zweiten Mal in diesem Jahr Wahlen
durchgesetzt. Liebermans nationalisti-
sche Partei Unser Haus Israel, die wegen
des ihrer Ansicht nach zu großen Einflus-
ses der Religiösen den Koalitionseintritt
verweigerte, konnte bei der zweiten Wahl
binnen fünf Monaten deutlich zulegen.
Auch die vier arabischen Parteien, die dies-
mal wieder vereint als Gemeinsame Liste
antraten, bekamen ein besseres Ergebnis.
Die Arbeitspartei und die Demokratische
Union, in der auch die linke Meretz vertre-
ten ist, übersprangen die 3,25-Prozent-
Hürde für den Knesset-Einzug, die extre-
mistische Partei Jüdische Kraft scheiterte.
Präsident Reuven Rivlin wird nach Kon-
sultationen mit Vertretern der Parteien je-
nen Politiker mit dem Mandat beauftra-
gen, dem er die Regierungsbildung am
ehesten zutraut. Schon vor der Wahl hat-
ten Experten damit gerechnet, dass es auf
eine große Koalition von Likud und Blau-
Weiß, in Israel Einheitsregierung genannt,
hinauslaufen könnte. Gantz hatte erklärt,
wegen der Korruptionsvorwürfe gegen Ne-
tanjahu kein Kabinett mit ihm bilden zu
wollen. alexandra föderl-schmid


Brüssel/Valletta– Die Zahl der Asylanträ-
ge in Europa ist im Juli auf den höchsten
Stand seit rund zweieinhalb Jahren gestie-
gen. In den 28 EU-Staaten plus Norwegen
und Schweiz wurden rund 62900 Anträge
auf Schutz verzeichnet, wie die EU-Asyl-
agentur Easo mit Sitz im maltesischen Val-
letta am Dienstag mitteilte. Dies sind laut
Easo so viele wie seit März 2017 nicht
mehr. Von Juni auf Juli 2019 sei ein Anstieg
um 26 Prozent verzeichnet worden. Aller-
dings sei die Zahl der Anträge im Juni sehr
gering gewesen. Zugleich hieß es, die neu-
esten Zahlen lägen „dramatisch“ unter de-
nen der Jahre 2015 und 2016; im Juli 2016
etwa seien in den 30 Ländern fast 122 000
Anträge auf Schutz gestellt worden. epd

Kabul– Bei zwei Anschlägen in Afgha-
nistan sind am Dienstag mindestens
46Menschen getötet worden. Selbst-
mordattentäter der radikalislamischen
Taliban griffen laut Sprecher Sabihul-
lah Mudschahid im Norden eine Wahl-
kampfveranstaltung von Präsident
Aschraf Ghani an und in Kabul einen
zentralen Platz, in dessen Nähe die US-
Botschaft und das Oberste Gericht lie-
gen. Bilanz: Mindestens 24 Tote und 31
Verletzte in der Stadt Charikar in der
Provinz Parwan (FOTO: AP), 22 Tote und 38
Verletzte in Kabul. Ghani blieb bei dem
Anschlag in Charikar unverletzt. Tali-
ban-Sprecher Mudschahid sagte, der
Angreifer habe ein mit Sprengstoff
beladenes Motorrad in den Eingang des
Veranstaltungsorts gerammt. Ghani
intensivierte den von vielen Herausfor-
derern pausierten Wahlkampf, nach-
dem US-Präsident Donald Trump Frie-
densgespräche mit den Taliban ab-
brach. Sie hatten Anschläge auf die für



  1. September geplante angesetzte
    Präsidentenwahl angedroht.ap


„Uns soll man an unserem Lächeln erkennen, nicht am Groll“: Ex-Premier Matteo
Renzi verlässt den PD, will die Regierung aber unterstützen. FOTO: GIUSEPPE LAMI/AP

Eiserne Hand


„Wer den Mund aufmacht, wird eingesperrt“: Seit Indien im August der Region Kaschmir
die Autonomie entzogen hat, berichten Zeugen von schweren Repressionen

Madrid– In Spanien ist nach monate-
langen Verhandlungen die Regierungs-
bildung gescheitert. Der amtierende
sozialistische Ministerpräsident Pedro
Sanchez erklärte am Dienstagabend, er
habe das Mandat des Volkes aus der
Wahl am 28. April nicht umsetzen kön-
nen. „Sie haben es uns unmöglich ge-
macht“, sagte er über die spanischen
Oppositionsparteien. Als Termin für
Neuwahlen gab er den 10. November
bekannt. Es ist die vierte derartige Ab-
stimmung in vier Jahren. Umfragen
zufolge könnte das Ergebnis erneut
eine politische Pattsituation im Parla-
ment sein. Aus der Wahl im April waren
Sanchez’ Sozialisten zwar als stärkste
Kraft hervorgegangen, sie eroberten
123 der 350 Sitze. Die durch den Streit
über die Sezessionsbestrebungen Kata-
loniens aufgeheizte Stimmung und das
zersplitterte Parteienspektrum verhin-
dern jedoch die Bildung von Koalitio-
nen. reuters


„Ocean Viking“


wieder im Einsatz


Mehr Asylanträge


in Europa


Paris– Der frühere US-Geheimdienst-
mitarbeiter Edward Snowden hat den
französischen Präsidenten Emmanuel
Macron aufgerufen, ihm Asyl zu gewäh-
ren. Snowden sagte in einem Interview,
das im Radiosender France Inter ausge-
strahlt wurde, dass es „kein feindlicher
Akt“ sei, „Whistleblower zu schützen“.
Er habe Anspruch auf Schutzstatus in
Frankreich. Die französische Präsident-
schaft kommentierte das zunächst
nicht. Snowden hatte geheime Doku-
mente an die Medien weitergegeben, in
denen Überwachungsprogramme der
US-Regierung vorgestellt werden. Snow-
den wohnt in Russland, um einer Straf-
verfolgung in den USA zu entgehen.
Snowden hatte 2013 unter dem damali-
gen Präsidenten François Hollande
vergeblich Asyl in Frankreich bean-
tragt. Auch in mehreren anderen Län-
dern hat er es versucht. Am Dienstag
wurden in etwa 20 Ländern Snowdens
Memoiren veröffentlicht, in denen er
erstmals seine Lebensgeschichte detail-
liert festhält.ap  Seite 4


Schwere Attentate der Taliban


DEFGH Nr. 216, Mittwoch, 18. September 2019 (^) POLITIK HMG 7
Wir gegen die: In Srinagar, der Hauptstadt des indischen Bundesstaates Jammu und Kaschmir, ist die Stimmung so aggressiv wie lange nicht. FOTO: YAWAR NAZIR/GETTY
Als eine alte Frau stirbt, lässt sich
wegen der Polizeisperren kein
Fahrzeug zum Friedhof auftreiben
„Wollen sie Kaschmir denn
ganz ohne Beteiligung
der Kaschmirer regieren?“
Neuwahlen in Spanien
Dass er Salvini erst mal
in die Opposition geschickt hat,
darauf ist er besonders stolz
Für Netanjahu
wird es schwierig
Israels Premier kann keine Koalition
bilden ohne Avigdor Lieberman
Snowden bittet Macron
AUSLAND

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